<lb n="1" xml:id="a3v_lb1"/>als „den Bösen“ anzusetzen, höherwerthig im Sinn der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf <hi rend="underline">den</hi> Menschen über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2" xml:id="a3v_lb2"/>haupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet) Wie<subst>
</subst> wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im „Guten“
<lb n="3" xml:id="a3v_lb3"/>auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein <hi rend="latin">Narcoticum</hi>, durch das
<lb n="4" xml:id="a3v_lb4"/>etwa die Gegenwart <hi rend="underline">auf</hi>
<hi rend="underline">Kosten</hi>
<hi rend="underline">der</hi>
<hi rend="underline">Zukunft</hi> lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile,
<lb n="5" xml:id="a3v_lb5"/>niedriger?… So daß gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche <hi rend="underline">höchste</hi>
<hi rend="underline">Mächtigkeit</hi>
<hi rend="underline">und</hi>
<lb n="6" xml:id="a3v_lb6"/>
<hi rend="underline">Pracht</hi> des Typus Mensch niemals erreicht würde?… So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?…</p>
</subst> selbst, seitdem mir dieser Ausblick sich öffnete, Gründe hatte, mich nach gelehrten, kühnen und arbeit<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9" xml:id="a3v_lb9"/>samen Genossen umzusehn (ich thue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne <milestone unit="page" edRef="#Ed" n="XII"/>und so versteckte Land der Moral –
<lb n="10" xml:id="a3v_lb10"/>der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu
<lb n="11" xml:id="a3v_lb11"/>bereisen: und heißt dies nicht beinahe so viel als dieses Land erst <hi rend="underline">entdecken</hi>?… Wenn ich dabei, unter Anderen,
<lb n="12" xml:id="a3v_lb12"/>auch an den genannten <hi rend="latin">Dr. Rée</hi> dachte, so geschah es, weil ich gar nicht zweifelte, daß er von der Natur seiner Fra<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13" xml:id="a3v_lb13"/>gen selbst auf eine richtigere Methodik, um zu Antworten zu gelangen, gedrängt werden würde. Habe ich mich darin
<lb n="14" xml:id="a3v_lb14"/>betrogen? Mein Wunsch war es jedenfalls, einem so scharfen und unbetheiligten Auge eine bessere Richtung, die Rich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15" xml:id="a3v_lb15"/>tung zur wirklichen <hi rend="underline">Historie</hi>
<hi rend="underline">der</hi>
<hi rend="underline">Moral</hi> zu geben und ihn vor solchem englischen Hypothesenwesen <hi rend="underline">ins</hi>
<hi rend="underline">Blaue</hi>
<lb n="16" xml:id="a3v_lb16"/>noch zur rechten Zeit zu warnen. Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe für einen Moral-Genealogen hundert
<lb n="17" xml:id="a3v_lb17"/>Mal wichtiger sein muß als gerade das Blaue: nämlich <hi rend="underline">das</hi>
<hi rend="underline">Graue</hi>, will sagen, das Urkundliche, das Wirklich<pc force="strong">-</pc>
<lb n="18" xml:id="a3v_lb18"/>Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz die ganze lange schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der
<lb n="19" xml:id="a3v_lb19"/>menschlichen Moral-Vergangenheit! – <hi rend="underline">Diese</hi> war dem <hi rend="latin">Dr. Rée</hi> unbekannt; aber er hatte Darwin gelesen – und
<lb n="20" xml:id="a3v_lb20"/>so reichen sich in seinen Hypothesen auf eine Weise, die zum Mindesten unterhaltend ist, die Darwinsche Bestie
</subst> artig die Hand, letzterer mit dem Ausdruck
<lb n="22" xml:id="a3v_lb22"/>einer gewissen gutmüthigen und feinen Indolenz im Gesicht, in die selbst ein Gran von Pessimismus, von Ermü<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23" xml:id="a3v_lb23"/>dung eingemischt ist: als ob es sich eigent<milestone unit="page" edRef="#Ed" n="XIII"/>lich gar nicht lohne, alle diese Dinge – die Probleme der Moral <add place="inline" xml:id="a3v_add_d2e221">–</add> so
<lb n="24" xml:id="a3v_lb24"/>ernst zu nehmen. Mir nun scheint es umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr <hi rend="underline">lohnten</hi>, daß man
<lb n="25" xml:id="a3v_lb25"/>sie ernst nimmt; zu welchem Lohne es zum Beispiel gehört, daß man eines Tags vielleicht die Erlaub<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26" xml:id="a3v_lb26"/>niß erhält, sie <hi rend="underline">heiter</hi> zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen, <hi rend="underline">die</hi>
<lb n="27" xml:id="a3v_lb27"/>
<hi rend="underline">fröhliche</hi>
<hi rend="underline">Wissenschaft</hi> – ist ein Lohn: ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen <del rend="hatching" instant="true">Ernst</del> und unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28" xml:id="a3v_lb28"/>irdischen Ernst, der freilich nicht Jedermanns Sache ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen
<lb n="29" xml:id="a3v_lb29"/>sagen: „vorwärts! auch unsre alte Moral gehört <hi rend="underline">in</hi>
<hi rend="underline">die</hi>
<hi rend="underline">Komödie</hi>!“ haben wir für das <subst change="#proofreadingCbTitel">
<note type="editorial" xml:id="a3v_note_d2e276">vgl. N an Naumann, 18.10.1887 (in KGB/KSB mit Fehllesung „hundertartige“, recte: „hundertactige“)</note> Dra<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30" xml:id="a3v_lb30"/>ma vom „Schicksal der Seele“ eine neue Verwicklung und Möglichkeit entdeckt –: und er wird sie sich
<lb n="31" xml:id="a3v_lb31"/>schon zu Nutze machen, darauf darf man wetten, er, der große alte ewige Komödiendichter unsres Daseins!…</p>
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</subst> wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im „Guten“
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<hi rend="underline">Kosten</hi>
<hi rend="underline">der</hi>
<hi rend="underline">Zukunft</hi> lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile,
</line>
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</line>
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<hi rend="underline">der</hi>
<hi rend="underline">Moral</hi> zu geben und ihn vor solchem englischen Hypothesenwesen <hi rend="underline">ins</hi>
<hi rend="underline">Blaue</hi>
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<line xml:id="srcD_line_a3v_lb24" start="#a3v_lb24" n="24">ernst zu nehmen. Mir nun scheint es umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr <hi rend="underline">lohnten</hi>, daß man
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<hi rend="underline">Komödie</hi>!“ haben wir für das
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