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Tue, Mar 11, 17:33
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<fileDesc>
<titleStmt>
<title>Zur Genealogie der Moral. Erstdruck E 40</title>
<author xml:id="N">Friedrich Nietzsche</author>
<editor xml:id="editors">
<name>Beat Röllin</name>, <name>Christian Steiner</name>, <name>René Stockmar</name>
</editor>
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<resp>Projektleiter: </resp>
<name>Hubert Thüring</name>
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<publisher>Nietzsche-Edition, Universität Basel</publisher>
<date>tba</date>
</publicationStmt>
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<biblStruct>
<monogr>
<author>Friedrich Nietzsche</author>
<title>Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift</title>
<imprint>
<pubPlace>Leipzig</pubPlace>
<publisher>C. G. Naumann</publisher>
<date when="1846">1887</date>
</imprint>
</monogr>
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<repository>Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar</repository>
<idno type="Mette-Signatur">E 40</idno>
<idno type="HAAB-Signatur">C 4620</idno>
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<ab type="descHead">
1. Inhaltsbeschreibung</ab>
<p>XIV S. (Titelseite, Titelrückseite, Vorrede), 1 Bl. (Titelseite Erste Abhandlung, Verso vakat), 182 S. (Erste Abhandlung, Zweite Abhandlung, Dritte Abhandlung), 1 Bl. (Inhaltsverzeichnis, Verso Impressum).</p>
</msContents>
<physDesc>
<ab type="descHead">
2. Frühere Beschreibung (H. J. Mette)</ab>
<p>„E 40 (D 20) Zur Genealogie der Moral, Eine Streitschrift; C. G. Naumann, Leipzig 1887.“ (<ref target="#Mette1932">Mette, Der handschriftliche Nachlass [1932]</ref>, 6; <ref target="#Mette1933">Mette, Sachlicher Vorbericht, BAW I [1933]</ref>, XXXVII)</p>
<ab type="descHead">
3. Beschreibung</ab>
<p>
<width>15,2</width>×<height>22,4</height>, 184 S., grauer Pappumschlag, Umschlagvorderseite: Titel, Umschlagrückseite: Schriftenverzeichnis.</p>
</physDesc>
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<docTitle>
<titlePart type="main">
<lb n="1"/>Zur
<lb n="2"/>Genealogie der Moral.</titlePart>
<titlePart type="sub">
<lb n="3"/>Eine Streitschrift
</titlePart>
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<byline>
<lb n="4"/>von
<docAuthor>
<lb n="5"/>Friedrich Nietzsche.</docAuthor>
</byline>
<docImprint>
<pubPlace><lb n="6"/>LEIPZIG</pubPlace>
<publisher><lb n="7"/>Verlag von C. G. Naumann.</publisher>
<lb n="8"/>1887.
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<titlePart type="titlePageVerso" xml:id="GMTitelrückseite">
<lb n="1" rend="centered"/>Dem letztveröffentlichten „<hi rend="spaced">Jenseits von Gut und Böse</hi>“ zur
<lb n="2" rend="centered"/>Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben.</titlePart>
</titlePage>
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</front>
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<div1 xml:id="GMVorrede">
<pb n="[III]" facs="#E40_0008" xml:id="Ed_III_id"/>
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a2r"/>
<head>
<lb n="1"/>VORREDE.</head>
<div2 xml:id="GMVorrede01">
<head>
<lb n="2"/>1.</head>
<p>
<lb n="3" rend="indent"/>Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir
<lb n="4"/>selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir
<lb n="5"/>haben nie nach uns gesucht, – wie sollte es geschehn,
<lb n="6"/>dass wir eines Tags uns <hi rend="spaced">fänden</hi>? Mit Recht hat man
<lb n="7"/>gesagt: „wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“;
<lb n="8"/><hi rend="spaced">unser</hi> Schatz ist, wo die Bienenkörbe unsrer Erkennt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>niss stehn. Wir sind immer dazu unterwegs, als ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>borne Flügelthiere und Honigsammler des Geistes, wir
<lb n="11"/>kümmern uns von Herzen eigentlich nur um Eins –
<lb n="12"/>Etwas „heimzubringen“. Was das Leben sonst, die so<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>genannten „Erlebnisse“ angeht, – wer von uns hat
<lb n="14"/>dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei
<lb n="15"/>solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht „bei
<lb n="16"/>der Sache“: wir haben eben unser Herz nicht dort –
<lb n="17"/>und nicht einmal unser Ohr! Vielmehr wie ein Göttlich-
<lb n="18"/>Zerstreuter und In-sich-Versenkter, dem die Glocke
<lb n="19"/>eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags
<lb n="20"/>in’s Ohr gedröhnt hat, mit einem Male aufwacht und
<lb n="21"/>sich fragt „was hat es da eigentlich geschlagen?“ so
<lb n="22"/>reiben auch wir uns mitunter <hi rend="spaced">hinterdrein</hi> die Ohren
<lb n="23"/>und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten „was haben wir
<lb n="24"/>da eigentlich erlebt? mehr noch: wer <hi rend="spaced">sind</hi> wir eigent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>lich?“ und zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle
<pb n="IV" facs="#E40_0009" xml:id="Ed_IV_id"/>
<lb n="1"/>die zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses,
<lb n="2"/>unsres Lebens, unsres <hi rend="spaced">Seins</hi> – ach! und verzählen uns
<lb n="3"/>dabei… Wir bleiben uns eben nothwendig fremd,
<lb n="4"/>wir verstehn uns nicht, wir <hi rend="spaced">müssen</hi> uns verwechseln,
<lb n="5"/>für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit „Jeder ist
<lb n="6"/>sich selbst der Fernste“, – für uns sind wir keine „Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>kennenden“…</p></div2>
<div2 xml:id="GMVorrede02">
<head>
<lb n="8"/>2.</head>
<p>
<lb n="9" rend="indent"/>– Meine Gedanken über die <hi rend="spaced">Herkunft</hi> unserer
<lb n="10"/>moralischen Vorurtheile – denn um sie handelt es sich
<lb n="11"/>in dieser Streitschrift – haben ihren ersten, sparsamen
<lb n="12"/>und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Samm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>lung erhalten, die den Titel trägt „Menschliches, All<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>zumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, und deren
<lb n="15"/>Niederschrift in Sorrent begonnen wurde, während eines
<lb n="16"/>Winters, welcher es mir erlaubte, Halt zu machen wie
<lb n="17"/>ein Wandrer Halt macht und das weite und gefährliche
<lb n="18"/>Land zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin
<lb n="19"/>gewandert war. Dies geschah im Winter 1876-77; die
<lb n="20"/>Gedanken selbst sind älter. Es waren in der Haupt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>sache schon die gleichen Gedanken, die ich in den vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>liegenden Abhandlungen wieder aufnehme: – hoffen
<lb n="23"/>wir, dass die lange Zwischenzeit ihnen gut gethan hat,
<lb n="24"/>dass sie reifer, heller, stärker, vollkommner geworden
<lb n="25"/>sind! <hi rend="spaced">Dass</hi> ich aber heute noch an ihnen festhalte,
<lb n="26"/>dass sie sich selber inzwischen immer fester an einander
<lb n="27"/>gehalten haben, ja in einander gewachsen und verwach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>sen sind, das stärkt in mir die frohe Zuversichtlich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>keit, sie möchten von Anfang an in mir nicht einzeln,
<pb n="V" facs="#E40_0010" xml:id="Ed_V_id"/>
<lb n="1"/>nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden sein, son<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>dern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem
<lb n="3"/>in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden,
<lb n="4"/>immer Bestimmteres verlangenden <hi rend="spaced">Grundwillen</hi> der
<lb n="5"/>Erkenntniss. So allein nämlich geziemt es sich bei
<lb n="6"/>einem Philosophen. Wir haben kein Recht darauf,
<lb n="7"/>irgend worin <hi rend="spaced">einzeln</hi> zu sein: wir dürfen weder ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>zeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr
<lb n="9"/>mit der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte
<lb n="10"/>trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werthe,
<lb n="11"/>unsre Ja’s und Nein’s und Wenn’s und Ob’s – ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>wandt und bezüglich allesammt unter einander und
<lb n="13"/>Zeugnisse Eines Willens, Einer Gesundheit, Eines Erd<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>reichs, Einer Sonne. – Ob sie <hi rend="spaced">euch</hi> schmecken, diese
<lb n="15"/>unsre Früchte? – Aber was geht das die Bäume an!
<lb n="16"/>Was geht das <hi rend="spaced">uns</hi> an, uns Philosophen!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GMVorrede03">
<head>
<lb n="17"/>3.</head>
<p>
<lb n="18" rend="indent"/>Bei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>gern eingestehe – sie bezieht sich nämlich auf die
<lb n="20"/><hi rend="spaced">Moral</hi>, auf Alles, was bisher auf Erden als Moral ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>feiert worden ist –, einer Bedenklichkeit, welche in
<lb n="22"/>meinem <milestone unit="page" source="#Dm" n="a2v"/>Leben so früh, so unaufgefordert, so unauf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>haltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter,
<lb n="24"/>Beispiel, Herkunft auftrat, dass ich beinahe das Recht
<lb n="25"/>hätte, sie mein „A priori“ zu nennen, – musste meine
<lb n="26"/>Neugierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der
<lb n="27"/>Frage Halt machen, <hi rend="spaced">welchen Ursprung</hi> eigentlich
<lb n="28"/>unser Gut und Böse habe. In der That gieng mir be<pc force="weak">-</pc>
<pb n="VI" facs="#E40_0011" xml:id="Ed_VI_id"/>
<lb n="1"/>reits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom
<lb n="2"/>Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem
<lb n="3"/>Alter, wo man „halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen“
<lb n="4"/>hat, mein erstes litterarisches Kinderspiel, meine erste
<lb n="5"/>philosophische Schreibübung – und was meine da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>malige „Lösung“ des Problems anbetrifft, nun, so gab
<lb n="7"/>ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn
<lb n="8"/>zum <hi rend="spaced">Vater</hi> des Bösen. Wollte es gerade <hi rend="spaced">so</hi> mein „A
<lb n="9"/>priori“ von mir? jenes neue, unmoralische, mindestens
<lb n="10"/>immoralistische „A priori“ und der aus ihm redende ach!
<lb n="11"/>so anti-Kantische, so räthselhafte „kategorische Impera<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>tiv“, dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht
<lb n="13"/>nur Gehör geschenkt habe?… Glücklicher Weise lernte
<lb n="14"/>ich bei Zeiten das theologische Vorurtheil von dem mo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>ralischen abscheiden und suchte nicht mehr den Ur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>sprung des Bösen <hi rend="spaced">hinter</hi> der Welt. Etwas historische
<lb n="17"/>und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborner
<lb n="18"/>wählerischer Sinn in Hinsicht auf psychologische Fra<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>gen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in
<lb n="20"/>das andre: unter welchen Bedingungen erfand sich der
<lb n="21"/>Mensch jene Werthurtheile gut und böse? <hi rend="spaced">und wel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>chen Werth haben sie selbst?</hi> Hemmten oder för<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>derten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie
<lb n="24"/>ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von Ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>artung des Lebens? Oder umgekehrt, verräth sich in
<lb n="26"/>ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein
<lb n="27"/>Muth, seine Zuversicht, seine Zukunft? – Darauf fand
<lb n="28"/>und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>schied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich
<pb n="VII" facs="#E40_0012" xml:id="Ed_VII_id"/>
<lb n="1"/>spezialisirte mein Problem, aus den Antworten wurden
<lb n="2"/>neue Fragen, Forschungen, Vermuthungen, Wahrschein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>lichkeiten: bis ich endlich ein eignes Land, einen eig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>nen Boden hatte, eine ganze verschwiegene wachsende
<lb n="5"/>blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen
<lb n="6"/>Niemand Etwas ahnen durfte… Oh wie wir <hi rend="spaced">glück<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>lich</hi> sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt, dass wir
<lb n="8"/>nur lange genug zu schweigen wissen!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GMVorrede04">
<head>
<lb n="9"/>4.</head>
<p>
<lb n="10" rend="indent"/>Den ersten Anstoss, von meinen Hypothesen über
<lb n="11"/>den Ursprung der Moral Etwas zu verlautbaren, gab
<lb n="12"/>mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges
<lb n="13"/>Büchlein, in welchem mir eine umgekehrte und per<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>verse Art von genealogischen Hypothesen, ihre eigent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>lich <hi rend="spaced">englische</hi> Art, zum ersten Male deutlich ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>gegentrat, und das mich anzog – mit jener Anziehungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>kraft, die alles Entgegengesetzte, alles Antipodische
<lb n="18"/>hat. Der Titel des Büchleins war „der Ursprung der
<lb n="19"/>moralischen Empfindungen“; sein Verfasser Dr. Paul
<lb n="20"/>Rée; das Jahr seines Erscheinens 1877. Vielleicht habe
<lb n="21"/>ich niemals Etwas gelesen, zu dem ich dermaassen,
<lb n="22"/>Satz für Satz, Schluss für Schluss, bei mir Nein ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>sagt hätte wie zu diesem Buche: doch ganz ohne Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>druss und Ungeduld. In dem vorher bezeichneten
<lb n="25"/>Werke, an dem ich damals arbeitete, nahm ich ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>legentlich und ungelegentlich auf die Sätze jenes Buchs
<lb n="27"/>Bezug, nicht indem ich sie widerlegte – was habe ich
<lb n="28"/>mit Widerlegungen zu schaffen! – sondern, wie es
<pb n="VIII" facs="#E40_0013" xml:id="Ed_VIII_id"/>
<lb n="1"/>einem positiven Geiste zukommt, an Stelle des Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>wahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend, unter
<lb n="3"/>Umständen an Stelle eines Irrthums einen andern. Da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>mals brachte ich, wie gesagt, zum ersten Male jene
<lb n="5"/>Herkunfts-Hypothesen an’s Tageslicht, denen diese Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>handlungen gewidmet sind, mit Ungeschick, wie ich
<lb n="7"/>mir selbst am letzten verbergen möchte, noch unfrei,
<lb n="8"/>noch ohne eine eigne Sprache für diese eignen Dinge
<lb n="9"/>und mit mancherlei Rückfälligkeit und Schwankung.
<lb n="10"/>Im Einzelnen vergleiche man, was ich Menschl. Allzu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>menschl. S. 51 über die doppelte Vorgeschichte von Gut
<lb n="12"/>und Böse sage (nämlich aus der Sphäre der Vornehmen
<lb n="13"/>und der der Sklaven); insgleichen S. 119 ff. über Werth
<lb n="14"/>und Herkunft der asketischen Moral; insgleichen S. 78. 82.
<lb n="15"/>II, 35 über die „Sittlichkeit der Sitte“, jene viel ältere
<lb n="16"/>und ursprünglichere Art Moral, welche toto coelo von
<lb n="17"/>der altruistischen Werthungsweise <milestone unit="page" source="#Dm" n="a3r"/>abliegt (in der Dr.
<lb n="18"/>Rée, gleich allen englischen Moralgenealogen, die mo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>ralische Werthungsweise <hi rend="spaced">an sich</hi> sieht); insgleichen
<lb n="20"/>S. 74. Wanderer S. 29. Morgenr. S. 99 über die Herkunft
<lb n="21"/>der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen unge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>fähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung
<lb n="23"/>aller Verträge, folglich alles Rechts); insgleichen über
<lb n="24"/>die Herkunft der Strafe Wand. S. 25. 34., für die der
<lb n="25"/>terroristische Zweck weder essentiell, noch ursprünglich
<lb n="26"/>ist (wie Dr. Rée meint: – er ist ihr vielmehr erst
<lb n="27"/>eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer
<lb n="28"/>als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes).</p>
</div2>
<pb n="IX" facs="#E40_0014" xml:id="Ed_IX_id"/>
<div2 xml:id="GMVorrede05">
<head>
<lb n="1"/>5.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>tigeres am Herzen als eignes oder fremdes Hypothesen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>wesen über den Ursprung der Moral (oder, genauer:
<lb n="5"/>letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es
<lb n="6"/>eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für
<lb n="7"/>mich um den <hi rend="spaced">Werth</hi> der Moral, – und darüber
<lb n="8"/>hatte ich mich fast allein mit meinem grossen Lehrer
<lb n="9"/>Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den wie an
<lb n="10"/>einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und
<lb n="11"/>der geheime Widerspruch jenes Buchs sich wendet
<lb n="12"/>(– denn auch jenes Buch war eine „Streitschrift“).
<lb n="13"/>Es handelte sich in Sonderheit um den Werth des „Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>egoistischen“, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>opferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so
<lb n="16"/>lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte,
<lb n="17"/>bis sie ihm schliesslich als die „Werthe an sich“ übrig
<lb n="18"/>blieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich
<lb n="19"/>selbst, <hi rend="spaced">Nein sagte</hi>. Aber gerade gegen <hi rend="spaced">diese</hi> Instinkte
<lb n="20"/>redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn,
<lb n="21"/>eine immer tiefer grabende Skepsis! Gerade hier sah
<lb n="22"/>ich die <hi rend="spaced">grosse</hi> Gefahr der Menschheit, ihre sublimste
<lb n="23"/>Lockung und Verführung – wohin doch? in’s Nichts? –
<lb n="24"/>gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>bleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen
<lb n="26"/><hi rend="spaced">gegen</hi> das Leben sich wendend, die letzte Krankheit
<lb n="27"/>sich zärtlich und schwermüthig ankündigend: ich ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>stand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral,
<lb n="29"/>welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte,
<pb n="X" facs="#E40_0015" xml:id="Ed_X_id"/>
<lb n="1"/>als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>wordnen europäischen Cultur, als ihren Umweg zu einem
<lb n="3"/>neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus?
<lb n="4"/>zum – <hi rend="spaced">Nihilismus</hi>?… Diese moderne Philosophen-
<lb n="5"/>Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist
<lb n="6"/>nämlich etwas Neues: gerade über den <hi rend="spaced">Unwerth</hi> des
<lb n="7"/>Mitleidens waren bisher die Philosophen übereinge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>kommen. Ich nenne nur Plato, Spinoza, La Roche<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>foucauld und Kant, vier Geister so verschieden von
<lb n="10"/>einander als möglich, aber in Einem Eins: in der Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>ringschätzung des Mitleidens. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GMVorrede06">
<head>
<lb n="12"/>6.</head>
<p>
<lb n="13" rend="indent"/>Dies Problem vom <hi rend="spaced">Werthe</hi> des Mitleids und der
<lb n="14"/>Mitleids-Moral (– ich bin ein Gegner der schändlichen
<lb n="15"/>modernen Gefühlsverweichlichung –) scheint zunächst
<lb n="16"/>nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich; wer
<lb n="17"/>aber einmal hier hängen bleibt, hier fragen <hi rend="spaced">lernt</hi>, dem
<lb n="18"/>wird es gehn, wie es mir ergangen ist: – eine unge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>heure neue Aussicht thut sich ihm auf, eine Möglich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>keit fasst ihn wie ein Schwindel, jede Art Misstrauen,
<lb n="21"/>Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die
<lb n="22"/>Moral, an alle Moral wankt, – endlich wird eine neue
<lb n="23"/>Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese <hi rend="spaced">neue
<lb n="24"/>Forderung:</hi> wir haben eine <hi rend="spaced">Kritik</hi> der moralischen
<lb n="25"/>Werthe nöthig, <hi rend="spaced">der Werth dieser Werthe ist selbst
<lb n="26"/>erst einmal in Frage zu stellen</hi> – und dazu thut
<lb n="27"/>eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth,
<lb n="28"/>aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich ent<pc force="weak">-</pc>
<pb n="XI" facs="#E40_0016" xml:id="Ed_XI_id"/>
<lb n="1"/>wickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als
<lb n="2"/>Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit,
<lb n="3"/>als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als
<lb n="4"/>Heilmittel, als <choice><orig>Stimulanz</orig><corr source="#KGW #KSA">Stimulans<note type="editorial">vgl. Dm a3r</note></corr></choice>, als Hemmung, als Gift), wie
<lb n="5"/>eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch
<lb n="6"/>auch nur begehrt worden ist. Man nahm den <hi rend="spaced">Werth</hi>
<lb n="7"/>dieser „Werthe“ als gegeben, als thatsächlich, als jen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>seits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht
<lb n="9"/>im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, „den
<lb n="10"/>Guten“ für höherwerthig <milestone unit="page" source="#Dm" n="a3v"/>als „den Bösen“ anzusetzen,
<lb n="11"/>höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>deihlichkeit in Hinsicht auf <hi rend="spaced">den</hi> Menschen überhaupt
<lb n="13"/>(die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn
<lb n="14"/>das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im
<lb n="15"/>„Guten“ auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen
<lb n="16"/>eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum,
<lb n="17"/>durch das etwa die Gegenwart <hi rend="spaced">auf Kosten der Zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>kunft</hi> lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher,
<lb n="19"/>aber auch in kleinerem Stile, niedriger?… So dass
<lb n="20"/>gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an
<lb n="21"/>sich mögliche <hi rend="spaced">höchste Mächtigkeit und Pracht</hi>
<lb n="22"/>des Typus Mensch niemals erreicht würde? So dass
<lb n="23"/>gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GMVorrede07">
<head>
<lb n="24"/>7.</head>
<p>
<lb n="25" rend="indent"/>Genug, dass ich selbst, seitdem mir dieser Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>blick sich öffnete, Gründe hatte, mich nach ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>lehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen umzusehn
<lb n="28"/>(ich thue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne
<pb n="XII" facs="#E40_0017" xml:id="Ed_XII_id"/>
<lb n="1"/>und so versteckte Land der Moral – der wirklich da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>gewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter neuen
<lb n="3"/>Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen:
<lb n="4"/>und heisst dies nicht beinahe so viel als dieses Land
<lb n="5"/>erst <hi rend="spaced">entdecken</hi>?… Wenn ich dabei, unter Anderen,
<lb n="6"/>auch an den genannten Dr. Rée dachte, so geschah es,
<lb n="7"/>weil ich gar nicht zweifelte, dass er von der Natur seiner
<lb n="8"/>Fragen selbst auf eine richtigere Methodik, um zu Ant<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>worten zu gelangen, gedrängt werden würde. Habe
<lb n="10"/>ich mich darin betrogen? Mein Wunsch war es jeden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>falls, einem so scharfen und unbetheiligten Auge eine
<lb n="12"/>bessere Richtung, die Richtung zur wirklichen <hi rend="spaced">Histo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>rie der Moral</hi> zu geben und ihn vor solchem eng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>lischen Hypothesenwesen <hi rend="spaced">in’s Blaue</hi> noch zur rechten
<lb n="15"/>Zeit zu warnen. Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe
<lb n="16"/>für einen Moral-Genealogen hundert Mal wichtiger sein
<lb n="17"/>muss als gerade das Blaue: nämlich <hi rend="spaced">das Graue</hi>, will
<lb n="18"/>sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das
<lb n="19"/>Wirklich-Dagewesene, kurz die ganze lange, schwer zu
<lb n="20"/>entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-
<lb n="21"/>Vergangenheit! – <hi rend="spaced">Diese</hi> war dem Dr. Rée unbekannt;
<lb n="22"/>aber er hatte Darwin gelesen: – und so reichen sich
<lb n="23"/>in seinen Hypothesen auf eine Weise, die zum Min<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>desten unterhaltend ist, die Darwin’sche Bestie und der
<lb n="25"/>allermodernste bescheidene Moral-Zärtling, der „nicht
<lb n="26"/>mehr beisst“, artig die Hand, letzterer mit dem Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>druck einer gewissen gutmüthigen und feinen Indolenz
<lb n="28"/>im Gesicht, in die selbst ein Gran von Pessimismus,
<lb n="29"/>von Ermüdung eingemischt ist: als ob es sich eigent<pc force="weak">-</pc>
<pb n="XIII" facs="#E40_0018" xml:id="Ed_XIII_id"/>
<lb n="1"/>lich gar nicht lohne, alle diese Dinge – die Probleme
<lb n="2"/>der Moral – so ernst zu nehmen. Mir nun scheint es
<lb n="3"/>umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr
<lb n="4"/><hi rend="spaced">lohnten</hi>, dass man sie ernst nimmt; zu welchem Lohne
<lb n="5"/>es zum Beispiel gehört, dass man eines Tags vielleicht
<lb n="6"/>die Erlaubniss erhält, sie <hi rend="spaced">heiter</hi> zu nehmen. Die Hei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>terkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen,
<lb n="8"/><hi rend="spaced">die fröhliche Wissenschaft</hi> – ist ein Lohn: ein
<lb n="9"/>Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>irdischen Ernst, der freilich nicht Jedermanns Sache
<lb n="11"/>ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen
<lb n="12"/>sagen: „vorwärts! auch unsre alte Moral gehört<hi rend="spaced"> in die
<lb n="13"/>Komödie</hi>!“ haben wir für das dionysische Drama
<lb n="14"/>vom „Schicksal der Seele“ eine neue Verwicklung und
<lb n="15"/>Möglichkeit entdeckt –: und er wird sie sich schon
<lb n="16"/>zu Nutze machen, darauf darf man wetten, er, der
<lb n="17"/>grosse alte ewige Komödiendichter unsres Daseins!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GMVorrede08">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a4r"/>
<head>
<lb n="18"/>8.</head>
<p>
<lb n="19" rend="indent"/>– Wenn diese Schrift irgend Jemandem unverständ<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>lich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld,
<lb n="21"/>wie mich dünkt, nicht nothwendig an mir. Sie ist
<lb n="22"/>deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, dass
<lb n="23"/>man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige
<lb n="24"/>Mühe dabei nicht gespart hat: diese sind in der That
<lb n="25"/>nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen
<lb n="26"/>„Zarathustra“ anbetrifft, so lasse ich Niemanden als
<lb n="27"/>dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte
<lb n="28"/>irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann
<pb n="XIV" facs="#E40_0019" xml:id="Ed_XIV_id"/>
<lb n="1"/>einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er
<lb n="2"/>des Vorrechts geniessen, an dem halkyonischen Ele<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>ment, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner
<lb n="4"/>sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfürch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>tig Antheil zu haben. In andern Fällen macht die
<lb n="6"/>aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, dass
<lb n="7"/>man diese Form heute <hi rend="spaced">nicht schwer genug</hi> nimmt.
<lb n="8"/>Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen,
<lb n="9"/>ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht „entziffert“;
<lb n="10"/>vielmehr hat nun erst dessen <hi rend="spaced">Auslegung</hi> zu beginnen,
<lb n="11"/>zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe
<lb n="12"/>in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von
<lb n="13"/>dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle „Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>legung“ nenne: – dieser Abhandlung ist ein Aphoris<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>mus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar. Frei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>lich thut, um dergestalt das Lesen als <hi rend="spaced">Kunst</hi> zu üben,
<lb n="17"/>Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten
<lb n="18"/>verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis
<lb n="19"/>zur „Lesbarkeit“ meiner Schriften –, zu dem man bei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>nahe Kuh und jedenfalls <hi rend="spaced">nicht</hi> „moderner Mensch“
<lb n="21"/>sein muss: <hi rend="spaced">das Wiederkäuen</hi>… </p>
<p><lb n="22" rend="indent"/><hi rend="spaced">Sils-Maria</hi>, Oberengadin,
<lb n="23" rend="indent"/>im Juli 1887.</p>
</div2>
</div1>
<div1 xml:id="GM01">
<pb n="[XV]" facs="#E40_0020" xml:id="Ed_XV_id"/>
<head>
<lb n="1"/>Erste Abhandlung:
<lb n="2"/>„Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“.</head>
<pb n="[XVI]" facs="#E40_0021" xml:id="Ed_XVI_id"/>
<note type="editorial">vakat</note>
<anchor xml:id="TitelbogenEnd"/>
<milestone xml:id="Bogen1" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen1End"/>
<div2 xml:id="GM0101">
<pb n="1" facs="#E40_0022" xml:id="Ed_1_id"/>
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a5r"/>
<head>
<lb n="1"/>1.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>– Diese englischen Psychologen, denen man bisher
<lb n="3"/>auch die einzigen Versuche zu danken hat, es zu einer
<lb n="4"/>Entstehungsgeschichte der Moral zu bringen, – sie
<lb n="5"/>geben uns mit sich selbst kein kleines Räthsel auf; sie
<lb n="6"/>haben sogar, dass ich es gestehe, eben damit, als leib<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>haftige Räthsel, etwas Wesentliches vor ihren Büchern
<lb n="8"/>voraus – <hi rend="spaced">sie selbst sind interessant!</hi> Diese eng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>lischen Psychologen – was wollen sie eigentlich? Man
<lb n="10"/>findet sie, sei es nun freiwillig oder unfreiwillig, immer
<lb n="11"/>am gleichen Werke, nämlich die partie honteuse unsrer
<lb n="12"/>inneren Welt in den Vordergrund zu drängen und ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>rade dort das eigentlich Wirksame, Leitende, für die
<lb n="14"/>Entwicklung Entscheidende zu suchen, wo der intellek<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>tuelle Stolz des Menschen es am letzten zu finden
<lb n="16"/><hi rend="spaced">wünschte</hi> (zum Beispiel in der vis inertiae der Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>wohnheit oder in der Vergesslichkeit oder in einer blin<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>den und zufälligen Ideen-Verhäkelung und -Mechanik
<lb n="19"/>oder in irgend etwas Rein-Passivem, Automatischem,
<lb n="20"/>Reflexmässigem, Molekularem und Gründlich-Stupi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>dem) – was treibt diese Psychologen eigentlich immer
<lb n="22"/>gerade in <hi rend="spaced">diese</hi> Richtung? Ist es ein heimlicher, hä<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>mischer, gemeiner, seiner selbst vielleicht uneingeständ<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>licher Instinkt der Verkleinerung des Menschen? Oder
<lb n="25"/>etwa ein pessimistischer Argwohn, das Misstrauen von
<lb n="26"/>enttäuschten, verdüsterten, giftig und grün gewordenen
<lb n="27"/>Idealisten? Oder eine kleine unterirdische Feindschaft
<lb n="28"/>und Rancune gegen das Christenthum (und Plato), die
<pb n="2" facs="#E40_0023" xml:id="Ed_2_id"/>
<lb n="1"/>vielleicht nicht einmal über die Schwelle des Bewusst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>seins gelangt ist? Oder gar ein lüsterner Geschmack
<lb n="3"/>am Befremdlichen, am Schmerzhaft-Paradoxen, am Frag<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>würdigen und Unsinnigen des Daseins? Oder endlich
<lb n="5"/>– von Allem Etwas, ein wenig Gemeinheit, ein wenig
<lb n="6"/>Verdüsterung, ein wenig Antichristlichkeit, ein wenig
<lb n="7"/>Kitzel und Bedürfniss nach Pfeffer?… Aber man sagt
<lb n="8"/>mir, dass es einfach alte, kalte, langweilige Frösche
<lb n="9"/>seien, die am Menschen herum, in den Menschen hinein
<lb n="10"/>kriechen und hüpfen, wie als ob sie da so recht in
<lb n="11"/>ihrem Elemente wären, nämlich in einem <hi rend="spaced">Sumpfe</hi>.
<lb n="12"/>Ich höre das mit Widerstand, mehr noch, ich glaube
<lb n="13"/>nicht daran; und wenn man wünschen darf, wo man
<lb n="14"/>nicht wissen kann, so wünsche ich von Herzen, dass es
<lb n="15"/>umgekehrt mit ihnen stehen möge, – dass diese For<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>scher und Mikroskopiker der Seele im Grunde tapfere,
<lb n="17"/>grossmüthige und stolze Thiere seien, welche ihr Herz
<lb n="18"/>wie ihren Schmerz im Zaum zu halten wissen und sich
<lb n="19"/>dazu erzogen haben, der Wahrheit alle Wünschbarkeit
<lb n="20"/>zu opfern, <hi rend="spaced">jeder</hi> Wahrheit, sogar der schlichten, her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>ben, hässlichen, widrigen, unchristlichen, unmoralischen
<lb n="22"/>Wahrheit… Denn es giebt solche Wahrheiten. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0102">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a6r"/>
<head>
<lb n="23"/>2.</head>
<p>
<lb n="24" rend="indent"/>Alle Achtung also vor den guten Geistern, die in
<lb n="25"/>diesen Historikern der Moral walten mögen! Aber
<lb n="26"/>gewiss ist leider, dass ihnen der <hi rend="spaced">historische Geist</hi>
<lb n="27"/>selber abgeht, dass sie gerade von allen guten Geistern
<lb n="28"/>der Historie selbst in Stich gelassen worden sind! Sie
<lb n="29"/>denken allesammt, wie es nun einmal alter Philosophen-
<lb n="30"/>Brauch ist, <hi rend="spaced">wesentlich</hi> unhistorisch; daran ist kein
<lb n="31"/>Zweifel. Die Stümperei ihrer Moral-Genealogie kommt
<lb n="32"/>gleich am Anfang zu Tage, da, wo es sich darum han<pc force="weak">-</pc>
<pb n="3" facs="#E40_0024" xml:id="Ed_3_id"/>
<lb n="1"/>delt, die Herkunft des Begriffs und Urtheils „gut“ zu
<lb n="2"/>ermitteln. „Man hat ursprünglich – so dekretieren
<lb n="3"/>sie – unegoistische Handlungen von Seiten Derer ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>lobt und gut genannt, denen sie erwiesen wurden,
<lb n="5"/>also denen sie <hi rend="spaced">nützlich</hi> waren; später hat man diesen
<lb n="6"/>Ursprung des Lobes <hi rend="spaced">vergessen</hi> und die unegoisti<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>schen Handlungen einfach, weil sie <hi rend="spaced">gewohnheits<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>mässig</hi> immer als gut gelobt wurden, auch als gut
<lb n="9"/>empfunden – wie als ob sie an sich etwas Gutes wä<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>ren.“ Man sieht sofort: diese erste Ableitung enthält
<lb n="11"/>bereits alle typischen Züge der englischen Psychologen-
<lb n="12"/>Idiosynkrasie, – wir haben „die Nützlichkeit“, „das
<lb n="13"/>Vergessen“, „die Gewohnheit“ und am Schluss „den
<lb n="14"/>Irrthum“, Alles als Unterlage einer Werthschätzung,
<lb n="15"/>auf welche der höhere Mensch bisher wie auf eine Art
<lb n="16"/>Vorrecht des Menschen überhaupt stolz gewesen ist.
<lb n="17"/>Dieser Stolz <hi rend="spaced">soll</hi> gedemüthigt, diese Werthschätzung
<lb n="18"/>entwerthet werden: ist das erreicht?… Nun liegt für
<lb n="19"/>mich erstens auf der Hand, dass von dieser Theorie
<lb n="20"/>der eigentliche Entstehungsheerd des Begriffs „gut“
<lb n="21"/>an falscher Stelle gesucht und angesetzt wird: das Ur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>theil „gut“ rührt <hi rend="spaced">nicht</hi> von Denen her, welchen „Güte“
<lb n="23"/>erwiesen wird! Vielmehr sind es „die Guten“ selber
<lb n="24"/>gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höher<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>gestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und
<lb n="26"/>ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden
<lb n="27"/>und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-
<lb n="28"/>Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem <hi rend="spaced">Pa<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>thos der Distanz</hi> heraus haben sie sich das Recht,
<lb n="30"/>Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen,
<lb n="31"/>erst genommen: was gieng sie die Nützlichkeit an! Der
<lb n="32"/>Gesichtspunkt der Nützlichkeit ist gerade in Bezug auf
<lb n="33"/>ein solches heisses Herausquellen oberster rang-ord<pc force="weak">-</pc>
<pb n="4" facs="#E40_0025" xml:id="Ed_4_id"/>
<lb n="1"/>nender, rang-abhebender Werthurtheile so fremd und
<lb n="2"/>unangemessen wie möglich: hier ist eben das Gefühl
<lb n="3"/>bei einem Gegensatze jenes niedrigen Wärmegrades
<lb n="4"/>angelangt, den jede berechnende Klugheit, jeder Nütz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>lichkeits-Calcul voraussetzt, – und nicht für einmal,
<lb n="6"/>nicht für eine Stunde der Ausnahme, sondern für die
<lb n="7"/>Dauer. Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie
<lb n="8"/>gesagt, das dauernde und dominirende Gesammt- und
<lb n="9"/>Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>hältniss zu einer niederen Art, zu einem „Unten“ –
<lb n="11"/><hi rend="spaced">das</hi> ist der Ursprung des Gegensatzes „gut“ und
<lb n="12"/>„schlecht“. (Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht
<lb n="13"/>so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung
<lb n="14"/>der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>den zu fassen: sie sagen „das <hi rend="spaced">ist</hi> das und das“, sie
<lb n="16"/>siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute
<lb n="17"/>ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.) Es
<lb n="18"/>liegt an diesem Ursprunge, dass das Wort „gut“ sich
<lb n="19"/>von vornherein durchaus <hi rend="spaced">nicht</hi> nothwendig an „un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>egoistische“ Handlungen anknüpft: wie es der Aber<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>glaube jener Moralgenealogen ist. Vielmehr geschieht
<lb n="22"/>es erst bei einem <hi rend="spaced">Niedergange</hi> aristokratischer Werth<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>urtheile, dass sich dieser ganze Gegensatz „egoistisch“
<lb n="24"/>„unegoistisch“ dem menschlichen Gewissen mehr und
<lb n="25"/>mehr aufdrängt, – es ist, um mich meiner Sprache zu
<lb n="26"/>bedienen, <hi rend="spaced">der Heerdeninstinkt</hi>, der mit ihm endlich
<lb n="27"/>zu Worte (auch zu <hi rend="spaced">Worten</hi>) kommt. Und auch dann
<lb n="28"/>dauert es noch lange, bis dieser Instinkt in dem Maasse
<lb n="29"/>Herr wird, dass die moralische Werthschätzung bei
<lb n="30"/>jenem Gegensatze geradezu hängen und stecken bleibt
<lb n="31"/>(wie dies zum Beispiel im gegenwärtigen Europa der
<lb n="32"/>Fall ist: heute herrscht das Vorurtheil, welches „mora<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>lisch“, „unegoistisch“, „<choice><orig>désinteressé</orig><corr source="#KGW #KSA">désintéressé</corr></choice>“ als gleichwerthige
<pb n="5" facs="#E40_0026" xml:id="Ed_5_id"/>
<lb n="1"/>Begriffe nimmt, bereits mit der Gewalt einer „fixen Idee“
<lb n="2"/>und Kopfkrankheit).</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0103">
<head>
<lb n="3"/>3.</head>
<p>
<lb n="4" rend="indent"/>Zweitens aber: ganz abgesehen von der historischen
<lb n="5"/>Unhaltbarkeit jener Hypothese über die Herkunft des
<lb n="6"/>Werthurtheils „gut“, krankt sie an einem psychologi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>schen Widersinn in sich selbst. Die Nützlichkeit der
<lb n="8"/>unegoistischen Handlung soll <milestone unit="page" source="#Dm" n="a7r"/>der Ursprung ihres
<lb n="9"/>Lobes sein, und dieser Ursprung soll <hi rend="spaced">vergessen</hi>
<lb n="10"/>worden sein: – wie ist dies Vergessen auch nur <hi rend="spaced">mög<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>lich</hi>? Hat vielleicht die Nützlichkeit solcher Hand<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>lungen irgend wann einmal aufgehört? Das Gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>theil ist der Fall: diese Nützlichkeit ist vielmehr die
<lb n="14"/>Alltagserfahrung zu allen Zeiten gewesen, Etwas also,
<lb n="15"/>das fortwährend immer neu unterstrichen wurde; folg<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>lich, statt aus dem Bewusstsein zu verschwinden, statt
<lb n="17"/>vergessbar zu werden, sich dem Bewusstsein mit immer
<lb n="18"/>grösserer Deutlichkeit eindrücken musste. Um wie viel
<lb n="19"/>vernünftiger ist jene entgegengesetzte Theorie (sie ist
<lb n="20"/>deshalb nicht wahrer –), welche zum Beispiel von
<lb n="21"/>Herbert Spencer vertreten wird: der den Begriff „gut“
<lb n="22"/>als wesensgleich mit dem Begriff „nützlich“, „zweck<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>mässig“ ansetzt, so dass in den Urtheilen „gut“ und
<lb n="24"/>„schlecht“ die Menschheit gerade ihre <hi rend="spaced">unvergess<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>nen</hi> und <hi rend="spaced">unvergessbaren</hi> Erfahrungen über nütz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>lich-zweckmässig, über schädlich-unzweckmässig auf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>summirt und sanktionirt habe. Gut ist, nach dieser
<lb n="28"/>Theorie, was sich von jeher als nützlich bewiesen hat:
<lb n="29"/>damit darf es als „werthvoll im höchsten Grade“, als
<lb n="30"/>„werthvoll an sich“ Geltung behaupten. Auch dieser
<lb n="31"/>Weg der Erklärung ist, wie gesagt, falsch, aber wenig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>stens ist die Erklärung selbst in sich vernünftig und
<lb n="33"/>psychologisch haltbar.</p>
</div2>
<pb n="6" facs="#E40_0027" xml:id="Ed_6_id"/>
<div2 xml:id="GM0104">
<head>
<lb n="1"/>4.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>– Den Fingerzeig zum <hi rend="spaced">rechten</hi> Wege gab mir die
<lb n="3"/>Frage, was eigentlich die von den verschiedenen Spra<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>chen ausgeprägten Bezeichnungen des „Guten“ in ety<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>mologischer Hinsicht zu bedeuten haben: da fand ich,
<lb n="6"/>dass sie allesammt auf die <hi rend="spaced">gleiche Begriffs-Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>wandlung</hi> zurückleiten, – dass überall „vornehm“,
<lb n="8"/>„edel“ im ständischen Sinne der Grundbegriff ist, aus
<lb n="9"/>dem sich „gut“ im Sinne von „seelisch-vornehm“,
<lb n="10"/>„edel“, von „seelisch-hochgeartet“, „seelisch-privilegirt“
<lb n="11"/>mit Nothwendigkeit heraus entwickelt: eine Entwick<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>lung, die immer parallel mit jener anderen läuft, welche
<lb n="13"/>„gemein“, „pöbelhaft“, „niedrig“ schliesslich in den
<lb n="14"/>Begriff „schlecht“ übergehen macht. Das beredteste
<lb n="15"/>Beispiel für das Letztere ist das deutsche Wort „schlecht“
<lb n="16"/>selber: als welches mit „schlicht“ identisch ist – ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>gleiche „schlechtweg“, „schlechterdings“ – und ur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>sprünglich den schlichten, den gemeinen Mann noch
<lb n="19"/>ohne einen verdächtigenden Seitenblick, einfach im Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>gensatz zum Vornehmen bezeichnete. Um die Zeit des
<lb n="21"/>dreissigjährigen Kriegs ungefähr, also spät genug, ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>schiebt sich dieser Sinn in den jetzt gebräuchlichen. –
<lb n="23"/>Dies scheint mir in Betreff der Moral-Genealogie eine
<lb n="24"/><hi rend="spaced">wesentliche</hi> Einsicht; dass sie so spät erst gefunden
<lb n="25"/>wird, liegt an dem hemmenden Einfluss, den das demo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>kratische Vorurtheil innerhalb der modernen Welt in
<lb n="27"/>Hinsicht auf alle Fragen der Herkunft ausübt. Und
<lb n="28"/>dies bis in das anscheinend objektivste Gebiet der Natur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>wissenschaft und Physiologie hinein, wie hier nur an<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>gedeutet werden soll. Welchen Unfug aber dieses Vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>urtheil, einmal bis zum Hass entzügelt, in Sonderheit
<lb n="32"/>für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>rüchtigte Fall Buckle’s; der <hi rend="spaced">Plebejismus</hi> des mo<pc force="weak">-</pc>
<pb n="7" facs="#E40_0028" xml:id="Ed_7_id"/>
<lb n="1"/>dernen Geistes, der englischer Abkunft ist, brach da
<lb n="2"/>einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus,
<lb n="3"/>heftig wie ein schlammichter Vulkan und mit jener ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>salzten, überlauten, gemeinen Beredtsamkeit, mit der
<lb n="5"/>bisher alle Vulkane geredet haben. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0105">
<head>
<lb n="6"/>5.</head>
<p>
<lb n="7" rend="indent"/>In Hinsicht auf <hi rend="spaced">unser</hi> Problem, das aus guten
<lb n="8"/>Gründen ein <hi rend="spaced">stilles</hi> Problem genannt werden kann
<lb n="9"/>und sich wählerisch nur an wenige Ohren wendet, ist
<lb n="10"/>es von keinem kleinen Interesse, festzustellen, dass viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>fach noch in jenen Worten und Wurzeln, die „gut“
<lb n="12"/>bezeichnen, die Hauptnuance durchschimmert, auf welche
<lb n="13"/>hin die Vornehmen sich eben als Menschen höheren
<lb n="14"/>Ranges fühlten. Zwar benennen sie sich vielleicht in
<lb n="15"/>den häufigsten Fällen einfach nach ihrer Überlegenheit
<lb n="16"/>an Macht (als „die Mächtigen“, „die Herren“, „die Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>bietenden“) oder nach dem sichtbarsten Abzeichen die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>ser Überlegenheit, zum Beispiel als „die Reichen“, „die
<lb n="19"/>Besitzenden“ (das ist der Sinn von arya; und entspre<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>chend im Eranischen und Slavischen). Aber auch nach
<lb n="21"/>einem <hi rend="spaced">typischen Charakterzuge</hi>: und dies ist der
<lb n="22"/>Fall, der uns hier angeht. Sie heissen sich zum Bei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>spiel „die Wahrhaftigen“: voran der griechische Adel,
<lb n="24"/>dessen Mundstück der Megarische Dichter Theognis
<lb n="25"/>ist. <milestone unit="page" source="#Dm" n="a8r"/>Das dafür ausgeprägte Wort <foreign xml:lang="grc">ἐσϑλός</foreign> bedeutet der
<lb n="26"/>Wurzel nach Einen, der <hi rend="spaced">ist</hi>, der Realität hat, der wirk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>lich ist, der wahr ist; dann, mit einer subjektiven
<lb n="28"/>Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen: in dieser
<lb n="29"/>Phase der Begriffs-Verwandlung wird es zum Schlag-
<lb n="30"/>und Stichwort des Adels und geht ganz und gar in
<lb n="31"/>den Sinn „adelig“ über, zur Abgrenzung vom <hi rend="spaced">lügen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>haften</hi> gemeinen Mann, so wie Theognis ihn nimmt
<pb n="8" facs="#E40_0029" xml:id="Ed_8_id"/>
<lb n="1"/>und schildert, – bis endlich das Wort, nach dem Nieder<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>gange des Adels, zur Bezeichnung der seelischen
<lb n="3"/>noblesse übrig bleibt und gleichsam reif und süss wird.
<lb n="4"/>Im Worte <foreign xml:lang="grc">κακός</foreign> wie in <foreign xml:lang="grc">δειλός</foreign> (der Plebejer im Gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>satz zum <foreign xml:lang="grc">ἀγαϑός</foreign>) ist die Feigheit unterstrichen: dies
<lb n="6"/>giebt vielleicht einen Wink, in welcher Richtung man
<lb n="7"/>die etymologische Herkunft des mehrfach deutbaren
<lb n="8"/><foreign xml:lang="grc">ἀγαϑός</foreign> zu suchen hat. Im lateinischen malus (dem ich
<lb n="9"/><foreign xml:lang="grc">μέλας</foreign> zur Seite stelle) könnte der gemeine Mann als
<lb n="10"/>der Dunkelfarbige, vor allem als der Schwarzhaarige
<lb n="11"/>(„hic niger est –“) gekennzeichnet sein, als der vorari<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>sche Insasse des italischen Bodens, der sich von der
<lb n="13"/>herrschend gewordenen blonden, nämlich arischen Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>oberer-Rasse durch die Farbe am deutlichsten abhob;
<lb n="15"/>wenigstens bot mir das Gälische den genau entsprechen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>den Fall, – fin (zum Beispiel im Namen Fin-Gal), das
<lb n="17"/>abzeichnende Wort des Adels, zuletzt der Gute, Edle,
<lb n="18"/>Reine, ursprünglich der Blondkopf, im Gegensatz zu
<lb n="19"/>den dunklen, schwarzhaarigen Ureinwohnern. Die Kel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>ten, beiläufig gesagt, waren durchaus eine blonde
<lb n="21"/>Rasse; man thut Unrecht, wenn man jene Streifen einer
<lb n="22"/>wesentlich dunkelhaarigen Bevölkerung, die sich auf
<lb n="23"/>sorgfältigeren ethnographischen Karten Deutschlands
<lb n="24"/>bemerkbar machen, mit irgend welcher keltischen Her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>kunft und Blutmischung in Zusammenhang bringt, wie
<lb n="26"/>dies noch Virchow thut: vielmehr schlägt an diesen
<lb n="27"/>Stellen die <hi rend="spaced">vorarische</hi> Bevölkerung Deutschlands
<lb n="28"/>vor. (Das Gleiche gilt beinahe für ganz Europa: im
<lb n="29"/>Wesentlichen hat die unterworfene Rasse schliesslich
<lb n="30"/>daselbst wieder die Oberhand bekommen, in Farbe,
<lb n="31"/>Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellek<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>tuellen und socialen Instinkten: wer steht uns dafür,
<lb n="33"/>ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere
<pb n="9" facs="#E40_0030" xml:id="Ed_9_id"/>
<lb n="1"/>Anarchismus und namentlich jener Hang zur „Commune“,
<lb n="2"/>zur primitivsten Gesellschafts-Form, der allen Socia<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>listen Europa’s jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache
<lb n="4"/>einen ungeheuren <hi rend="spaced">Nachschlag</hi> zu bedeuten hat –
<lb n="5"/>und dass die Eroberer- und <hi rend="spaced">Herren-Rasse</hi>, die der
<lb n="6"/>Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist?…) Das
<lb n="7"/>lateinische bonus glaube ich als „den Krieger“ auslegen
<lb n="8"/>zu dürfen: vorausgesetzt, dass ich mit Recht bonus auf
<lb n="9"/>ein älteres duonus zurückführe (vergleiche bellum =
<lb n="10"/>duellum = duen-lum, worin mir jenes duonus erhalten
<lb n="11"/>scheint). Bonus somit als Mann des Zwistes, der Ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>zweiung (duo), als Kriegsmann: man sieht, was im alten
<lb n="13"/>Rom an einem Manne seine „Güte“ ausmachte. Unser
<lb n="14"/>deutsches „Gut“ selbst: sollte es nicht „den Göttlichen“,
<lb n="15"/>den Mann „göttlichen Geschlechts“ bedeuten? Und
<lb n="16"/>mit dem Volks- (ursprünglich Adels-)Namen der Gothen
<lb n="17"/>identisch sein? Die Gründe zu dieser Vermuthung
<lb n="18"/>gehören nicht hierher. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0106">
<head>
<lb n="19"/>6.</head>
<p>
<lb n="20" rend="indent"/>Von dieser Regel, dass der politische Vorrangs-
<lb n="21"/>Begriff sich immer in einen seelischen Vorrangs-Begriff
<lb n="22"/>auslöst, macht es zunächst noch keine Ausnahme (ob<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>gleich es Anlass zu Ausnahmen giebt), wenn die höchste
<lb n="24"/>Kaste zugleich die <hi rend="spaced">priesterliche</hi> Kaste ist und folg<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>lich zu ihrer Gesammt-Bezeichnung ein Prädikat be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>vorzugt, das an ihre priesterliche Funktion erinnert.
<lb n="27"/>Da tritt zum Beispiel „rein“ und „unrein“ sich zum
<lb n="28"/>ersten Male als Ständeabzeichen gegenüber; und auch
<lb n="29"/>hier kommt später ein „gut“ und ein „schlecht“ in
<lb n="30"/>einem nicht mehr ständischen Sinne zur Entwicklung.
<lb n="31"/>Im Übrigen sei man davor gewarnt, diese Begriffe
<lb n="32"/>„rein“ und „unrein“ nicht von vornherein zu schwer,
<lb n="33"/>zu weit oder gar symbolisch zu nehmen: alle Begriffe
<pb n="10" facs="#E40_0031" xml:id="Ed_10_id"/>
<lb n="1"/>der älteren Menschheit sind vielmehr anfänglich in
<lb n="2"/>einem uns kaum ausdenkbaren Maasse grob, plump,
<lb n="3"/>äusserlich, eng, geradezu und insbesondere <hi rend="spaced">unsym<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>bolisch</hi> verstanden worden. Der „Reine“ ist von
<lb n="5"/>Anfang an bloss ein Mensch, der sich wäscht, der sich
<lb n="6"/>gewisse Speisen verbietet, die Hautkrankheiten nach
<lb n="7"/>sich ziehen, der nicht mit den schmutzigen Weibern des
<lb n="8"/>niederen Volkes schläft, der einen Abscheu vor Blut hat, –
<lb n="9"/>nicht mehr, nicht viel mehr! Andrerseits erhellt es frei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>lich aus der ganzen Art einer wesentlich priesterlichen
<lb n="11"/>Aristokratie, warum hier gerade frühzeitig sich die
<lb n="12"/>Werthungs-Gegensätze auf eine gefährliche <milestone unit="page" source="#Dm" n="a9r"/>Weise ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>innerlichen und verschärfen konnten; und in der That
<lb n="14"/>sind durch sie schliesslich Klüfte zwischen Mensch und
<lb n="15"/>Mensch aufgerissen worden, über die selbst ein Achill
<lb n="16"/>der Freigeisterei nicht ohne Schauder hinwegsetzen
<lb n="17"/>wird. Es ist von Anfang an etwas <hi rend="spaced">Ungesundes</hi> in
<lb n="18"/>solchen priesterlichen Aristokratien und in den daselbst
<lb n="19"/>herrschenden, dem Handeln abgewendeten, theils brü<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>tenden, theils gefühls-explosiven Gewohnheiten, als
<lb n="21"/>deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>meidlich anhaftende intestinale Krankhaftigkeit und
<lb n="23"/>Neurasthenie erscheint; was aber von ihnen selbst
<lb n="24"/>gegen diese ihre Krankhaftigkeit als Heilmittel erfun<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>den worden ist, – muss man nicht sagen, dass es sich
<lb n="26"/>zuletzt in seinen Nachwirkungen noch hundert Mal ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>fährlicher erwiesen hat, als die Krankheit, von der es
<lb n="28"/>erlösen sollte? Die Menschheit selbst krankt noch an
<lb n="29"/>den Nachwirkungen dieser priesterlichen Kur-Naive<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>täten! Denken wir zum Beispiel an gewisse Diätformen
<lb n="31"/>(Vermeidung des Fleisches), an das Fasten, an die ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>schlechtliche Enthaltsamkeit, an die Flucht „in die
<lb n="33"/>Wüste“ (Weir Mitchell’sche Isolirung, freilich ohne die
<pb n="11" facs="#E40_0032" xml:id="Ed_11_id"/>
<lb n="1"/>darauf folgende Mastkur und Überernährung, in der das
<lb n="2"/>wirksamste Gegenmittel gegen alle Hysterie des aske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>tischen Ideals besteht): hinzugerechnet die ganze sinnen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>feindliche, faul- und raffinirtmachende Metaphysik der
<lb n="5"/>Priester, ihre Selbst-Hypnotisirung nach Art des
<lb n="6"/>Fakirs und Brahmanen – Brahman als gläserner Knopf
<lb n="7"/>und fixe Idee benutzt – und das schliessliche, nur zu
<lb n="8"/>begreifliche allgemeine Satthaben mit seiner Radikal<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>kur, dem <hi rend="spaced">Nichts</hi> (oder Gott: – das Verlangen nach
<lb n="10"/>einer unio mystica mit Gott ist das Verlangen des
<lb n="11"/>Buddhisten in’s Nichts, Nirvâna – und nicht mehr!)
<lb n="12"/>Bei den Priestern wird eben <hi rend="spaced">Alles</hi> gefährlicher, nicht
<lb n="13"/>nur Kurmittel und Heilkünste, sondern auch Hochmuth,
<lb n="14"/>Rache, Scharfsinn, Ausschweifung, Liebe, Herrschsucht,
<lb n="15"/>Tugend, Krankheit; – mit einiger Billigkeit liesse sich
<lb n="16"/>allerdings auch hinzufügen, dass erst auf dem Boden
<lb n="17"/>dieser <hi rend="spaced">wesentlich gefährlichen</hi> Daseinsform des
<lb n="18"/>Menschen, der priesterlichen, der Mensch überhaupt
<lb n="19"/><hi rend="spaced">ein interessantes Thier</hi> geworden ist, dass erst
<lb n="20"/>hier die menschliche Seele in einem höheren Sinne
<lb n="21"/><hi rend="spaced">Tiefe</hi> bekommen hat und <hi rend="spaced">böse</hi> geworden ist – und
<lb n="22"/>das sind ja die beiden Grundformen der bisherigen
<lb n="23"/>Überlegenheit des Menschen über sonstiges Gethier!..</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0107">
<head>
<lb n="24"/>7.</head>
<p>
<lb n="25" rend="indent"/>– Man wird bereits errathen haben, wie leicht sich
<lb n="26"/>die priesterliche Werthungs-Weise von der ritterlich-
<lb n="27"/>aristokratischen abzweigen und dann zu deren Gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>satze fortentwickeln kann; wozu es in Sonderheit jedes
<lb n="29"/>Mal einen Anstoss giebt, wenn die Priesterkaste und
<lb n="30"/>die Kriegerkaste einander eifersüchtig entgegentreten
<lb n="31"/>und über den Preis mit einander nicht einig werden
<lb n="32"/>wollen. Die ritterlich-aristokratischen Werthurtheile
<pb n="12" facs="#E40_0033" xml:id="Ed_12_id"/>
<lb n="1"/>haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>keit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>sundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt,
<lb n="4"/>Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles
<lb n="5"/>überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln
<lb n="6"/>in sich schliesst. Die priesterlich-vornehme Werthungs-
<lb n="7"/>Weise hat – wir sahen es – andere Voraussetzungen:
<lb n="8"/>schlimm genug für sie, wenn es sich um Krieg han<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>delt! Die Priester sind, wie bekannt, die <hi rend="spaced">bösesten
<lb n="10"/>Feinde</hi> – weshalb doch? Weil sie die ohnmächtig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>sten sind. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der
<lb n="12"/>Hass in’s Ungeheure und Unheimliche, in’s Geistigste
<lb n="13"/>und Giftigste. Die ganz grossen Hasser in der Welt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>geschichte sind immer Priester gewesen, auch die geist<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>reichsten Hasser: – gegen den Geist der priesterlichen
<lb n="16"/>Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in
<lb n="17"/>Betracht. Die menschliche Geschichte wäre eine gar
<lb n="18"/>zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohn<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>mächtigen her in sie gekommen ist: – nehmen wir so<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>fort das grösste Beispiel. Alles, was auf Erden gegen
<lb n="21"/>„die Vornehmen“, „die Gewaltigen“, „die Herren“, „die
<lb n="22"/>Machthaber“ gethan worden ist, ist nicht der Rede
<lb n="23"/>werth im Vergleich mit dem, was <hi rend="spaced">die Juden</hi> gegen
<lb n="24"/>sie gethan haben: die Juden, jenes priesterliche Volk,
<lb n="25"/>das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt
<lb n="26"/>nur durch eine radikale Umwerthung von deren Wer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>then, also durch einen Akt der <hi rend="spaced">geistigsten Rache</hi>
<lb n="28"/>Genugthuung zu schaffen wusste. So allein war es
<lb n="29"/>eben einem priesterlichen Volke gemäss, dem Volke
<lb n="30"/>der zurückgetretensten priesterlichen Rachsucht. Die
<lb n="31"/>Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische
<lb n="32"/>Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön
<lb n="33"/>= glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflössenden
<pb n="13" facs="#E40_0034" xml:id="Ed_13_id"/>
<lb n="1"/>Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den
<lb n="2"/>Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der
<lb n="3"/>Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich „die Elenden
<lb n="4"/>sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Nied<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>rigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehren<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>den, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen,
<lb n="7"/>die einzig Gottseligen, für sie <milestone unit="page" source="#Dm" n="a10r"/>allein giebt es Selig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>keit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen,
<lb n="9"/>ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen,
<lb n="10"/>die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr
<lb n="11"/>werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>dammten sein!“… Man weiss, <hi rend="spaced">wer</hi> die Erbschaft
<lb n="13"/>dieser jüdischen Umwerthung gemacht hat… Ich er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>innere in Betreff der ungeheuren und über alle Maassen
<lb n="15"/>verhängnissvollen Initiative, welche die Juden mit die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>ser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen gegeben
<lb n="17"/>haben, an den Satz, auf den ich bei einer anderen Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>legenheit gekommen bin („Jenseits von Gut und Böse“
<lb n="19"/>p. 118) – dass nämlich mit den Juden <hi rend="spaced">der Sklaven<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>aufstand in der Moral</hi> beginnt: jener Aufstand,
<lb n="21"/>welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich
<lb n="22"/>hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>rückt ist, weil er – siegreich gewesen ist…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0108">
<head>
<lb n="24"/>8.</head>
<p>
<lb n="25" rend="indent"/>– Aber ihr versteht das nicht? Ihr habt keine
<lb n="26"/>Augen für Etwas, das zwei Jahrtausende gebraucht hat,
<lb n="27"/>um zum Siege zu kommen?… Daran ist Nichts zum
<lb n="28"/>Verwundern: alle <hi rend="spaced">langen</hi> Dinge sind schwer zu sehn,
<lb n="29"/>zu übersehn. <hi rend="spaced">Das</hi> aber ist das Ereigniss: aus dem
<lb n="30"/>Stamme jenes Baums der Rache und des Hasses, des
<lb n="31"/>jüdischen Hasses – des tiefsten und sublimsten, näm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>lich Ideale schaffenden, Werthe umschaffenden Hasses,
<pb n="14" facs="#E40_0035" xml:id="Ed_14_id"/>
<lb n="1"/>dessen Gleichen nie auf Erden dagewesen ist – wuchs
<lb n="2"/>etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine <hi rend="spaced">neue
<lb n="3"/>Liebe</hi>, die tiefste und sublimste aller Arten Liebe: –
<lb n="4"/>und aus welchem andern Stamme hätte sie auch wachsen
<lb n="5"/>können?… Dass man aber ja nicht vermeine, sie sei
<lb n="6"/>etwa als die eigentliche Verneinung jenes Durstes nach
<lb n="7"/>Rache, als der Gegensatz des jüdischen Hasses empor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>gewachsen! Nein, das Umgekehrte ist die Wahrheit!
<lb n="9"/>Diese Liebe wuchs aus ihm heraus, als seine Krone, als
<lb n="10"/>die triumphirende, in der reinsten Helle und Sonnenfülle
<lb n="11"/>sich breit und breiter entfaltende Krone, welche mit
<lb n="12"/>demselben Drange gleichsam im Reiche des Lichts und
<lb n="13"/>der Höhe auf die Ziele jenes Hasses, auf Sieg, auf Beute,
<lb n="14"/>auf Verführung aus war, mit dem die Wurzeln jenes
<lb n="15"/>Hasses sich immer gründlicher und begehrlicher in
<lb n="16"/>Alles, was Tiefe hatte und böse war, hinunter senkten.
<lb n="17"/>Dieser Jesus von Nazareth, als das leibhafte Evange<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>lium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den
<lb n="19"/>Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende „Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>löser“ – war er nicht gerade die Verführung in ihrer
<lb n="21"/>unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>führung und der Umweg zu eben jenen <hi rend="spaced">jüdischen</hi>
<lb n="23"/>Werthen und Neuerungen des Ideals? Hat Israel nicht
<lb n="24"/>gerade auf dem Umwege dieses „Erlösers“, dieses
<lb n="25"/>scheinbaren Widersachers und Auflösers Israel’s, das
<lb n="26"/>letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht? Gehört
<lb n="27"/>es nicht in die geheime schwarze Kunst einer wahrhaft
<lb n="28"/><hi rend="spaced">grossen</hi> Politik der Rache, einer weitsichtigen, unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>irdischen, langsam-greifenden und vorausrechnenden
<lb n="30"/>Rache, dass Israel selber das eigentliche Werkzeug
<lb n="31"/>seiner Rache vor aller Welt wie etwas Todfeindliches
<lb n="32"/>verleugnen und an’s Kreuz schlagen musste, damit „alle
<lb n="33"/>Welt“, nämlich alle Gegner Israel’s unbedenklich ge<pc force="weak">-</pc>
<pb n="15" facs="#E40_0036" xml:id="Ed_15_id"/>
<lb n="1"/>rade an diesem Köder anbeissen konnten? Und wüsste
<lb n="2"/>man sich andrerseits, aus allem Raffinement des Geistes
<lb n="3"/>heraus, überhaupt noch einen <hi rend="spaced">gefährlicheren</hi> Köder
<lb n="4"/>auszudenken? Etwas, das an verlockender, berauschen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>der, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol
<lb n="6"/>des „heiligen Kreuzes“ gleichkäme, jener schauerlichen
<lb n="7"/>Paradoxie eines „Gottes am Kreuze“, jenem Mysterium
<lb n="8"/>einer unausdenkbaren letzten äussersten Grausamkeit
<lb n="9"/>und Selbstkreuzigung Gottes <hi rend="spaced">zum Heile des Men<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>schen</hi>?… Gewiss ist wenigstens, dass sub hoc signo
<lb n="11"/>Israel mit seiner Rache und Umwerthung aller Werthe
<lb n="12"/>bisher über alle anderen Ideale, über alle <hi rend="spaced">vornehme<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>ren</hi> Ideale immer wieder triumphirt hat. – –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0109">
<head>
<lb n="14"/>9.</head>
<p>
<lb n="15" rend="indent"/>– „Aber was reden Sie noch von <hi rend="spaced">vornehmeren</hi>
<lb n="16"/>Idealen! Fügen wir uns in die Thatsachen: das Volk
<lb n="17"/>hat gesiegt – oder „die Sklaven“, oder „der Pöbel“,
<lb n="18"/>oder „die Heerde“, oder wie Sie es zu nennen belieben
<lb n="19"/>– wenn dies durch die Juden geschehen ist, wohlan!
<lb n="20"/>so hatte nie ein Volk eine welthistorischere Mission.
<lb n="21"/>„Die Herren“ sind abgethan; die Moral des gemeinen
<lb n="22"/>Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg zugleich
<lb n="23"/>als eine Blutvergiftung nehmen (er hat die Rassen
<lb n="24"/>durch einander gemengt) – ich widerspreche nicht;
<lb n="25"/>unzweifelhaft <milestone unit="page" source="#Dm" n="a11r"/>ist aber diese Intoxikation <hi rend="spaced">gelungen</hi>.
<lb n="26"/>Die „Erlösung“ des Menschengeschlechtes (nämlich von
<lb n="27"/>„den Herren“) ist auf dem besten Wege; Alles ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>jüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends
<lb n="29"/>(was liegt an Worten!). Der Gang dieser Vergiftung,
<lb n="30"/>durch den ganzen Leib der Menschheit hindurch, scheint
<lb n="31"/>unaufhaltsam, ihr tempo und Schritt darf sogar von
<lb n="32"/>nun an immer langsamer, feiner, unhörbarer, besonnener
<pb n="16" facs="#E40_0037" xml:id="Ed_16_id"/>
<lb n="1"/>sein – man hat ja Zeit… Kommt der Kirche in die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>ser Absicht heute noch eine <hi rend="spaced">nothwendige</hi> Aufgabe,
<lb n="3"/>überhaupt noch ein Recht auf Dasein zu? Oder könnte
<lb n="4"/>man ihrer entrathen? Quaeritur. Es scheint, dass sie
<lb n="5"/>jenen Gang eher hemmt und zurückhält, statt ihn zu
<lb n="6"/>beschleunigen? Nun, eben das könnte ihre Nützlichkeit
<lb n="7"/>sein… Sicherlich ist sie nachgerade etwas Gröb<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>liches und Bäurisches, das einer zarteren Intelligenz,
<lb n="9"/>einem eigentlich modernen Geschmacke widersteht.
<lb n="10"/>Sollte sie sich zum Mindesten nicht etwas raffinieren?…
<lb n="11"/>Sie entfremdet heute mehr, als dass sie verführte…
<lb n="12"/>Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht
<lb n="13"/>die Kirche gäbe? Die Kirche widersteht uns, <hi rend="spaced">nicht</hi> ihr
<lb n="14"/>Gift… Von der Kirche abgesehn lieben auch wir das
<lb n="15"/>Gift…“ – Dies der Epilog eines „Freigeistes“ zu
<lb n="16"/>meiner Rede, eines ehrlichen Thiers, wie er reichlich
<lb n="17"/>verrathen hat, überdies eines Demokraten; er hatte mir
<lb n="18"/>bis dahin zugehört und hielt es nicht aus, mich schwei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>gen zu hören. Für mich nämlich giebt es an dieser
<lb n="20"/>Stelle viel zu schweigen. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0110">
<head>
<lb n="21"/>10.</head>
<p>
<lb n="22" rend="indent"/>Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit,
<lb n="23"/>dass das <hi rend="spaced">Ressentiment</hi> selbst schöpferisch wird und
<lb n="24"/>Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen
<lb n="25"/>die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die
<lb n="26"/>sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.
<lb n="27"/>Während alle vornehme Moral aus einem triumphiren<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>den Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die
<lb n="29"/>Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausser<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>halb“, zu einem „Anders“, zu einem „Nicht-selbst“: und
<lb n="31"/><hi rend="spaced">dies</hi> Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkeh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>rung des werthe-setzenden Blicks – diese <hi rend="spaced">nothwen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>dige</hi> Richtung nach Aussen statt zurück auf sich <anchor xml:id="Bogen1End"/><milestone xml:id="Bogen2" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen2End"/>
<pb n="17" facs="#E40_0038" xml:id="Ed_17_id"/>
<lb n="1"/>selber – gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-
<lb n="2"/>Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>gen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gespro<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>chen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre
<lb n="5"/>Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte
<lb n="6"/>ist bei der vornehmen Werthungsweise der Fall: sie
<lb n="7"/>agirt und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz
<lb n="8"/>nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch froh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>lockender Ja zu sagen, – ihr negativer Begriff „nied<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>rig“ „gemein“ „schlecht“ ist nur ein nachgebornes
<lb n="11"/>blasses Contrastbild im Verhältniss zu ihrem positiven,
<lb n="12"/>durch und durch mit Leben und Leidenschaft durch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>tränkten Grundbegriff „wir Vornehmen, wir Guten, wir
<lb n="14"/>Schönen, wir Glücklichen!“ Wenn die vornehme Wer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>thungsweise sich vergreift und an der Realität ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>sündigt, so geschieht dies in Bezug auf die Sphäre,
<lb n="17"/>welche ihr <hi rend="spaced">nicht</hi> genügend bekannt ist, ja gegen deren
<lb n="18"/>wirkliches Kennen sie sich spröde zur Wehre setzt: sie
<lb n="19"/>verkennt unter Umständen die von ihr verachtete Sphäre,
<lb n="20"/>die des gemeinen Mannes, des niedren Volks; andrer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>seits erwäge man, dass jedenfalls der Affekt der Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>achtung, des Herabblickens, des Überlegen-Blickens,
<lb n="23"/>gesetzt, dass er das Bild des Verachteten <hi rend="spaced">fälscht</hi>, bei
<lb n="24"/>weitem hinter der Fälschung zurückbleiben wird, mit
<lb n="25"/>der der zurückgetretene Hass, die Rache des Ohnmäch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>tigen sich an seinem Gegner – in effigie natürlich –
<lb n="27"/>vergreifen wird. In der That ist in der Verachtung zu
<lb n="28"/>viel Nachlässigkeit, zu viel Leicht-Nehmen, zu viel Weg<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>blicken und Ungeduld mit eingemischt, selbst zu viel
<lb n="30"/>eignes Frohgefühl, als dass sie im Stande wäre, ihr
<lb n="31"/>Objekt zum eigentlichen Zerrbild und Scheusal umzu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>wandeln. Man überhöre doch die beinahe wohlwollenden
<lb n="33"/>nuances nicht, welche zum Beispiel der griechische Adel
<pb n="18" facs="#E40_0039" xml:id="Ed_18_id"/>
<lb n="1"/>in alle Worte legt, mit denen er das niedere Volk von
<lb n="2"/>sich abhebt; wie sich fortwährend eine Art Bedauern,
<lb n="3"/>Rücksicht, Nachsicht einmischt und anzuckert, bis zu
<lb n="4"/>dem Ende, dass fast alle Worte, die dem gemeinen Manne
<lb n="5"/>zukommen, schliesslich als Ausdrücke für „unglück<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>lich“ „bedauernswürdig“ übrig geblieben sind (vergleiche
<lb n="7"/><foreign xml:lang="grc">δειλός</foreign>, <foreign xml:lang="grc">δείλαιος</foreign>, <foreign xml:lang="grc">πονηρός</foreign>, <foreign xml:lang="grc">μοχϑηρός</foreign>, letztere zwei eigentlich
<lb n="8"/>den gemeinen Mann als Arbeitssklaven und Lastthier
<lb n="9"/>kennzeichnend) – und wie andrerseits „schlecht“ „nied<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>rig“ „unglücklich“ nie wieder aufgehört haben, für das
<lb n="11"/>griechische Ohr in Einen Ton auszuklingen, mit einer
<lb n="12"/>Klangfarbe, in der „unglücklich“ überwiegt: dies als
<lb n="13"/>Erbstück der alten edleren aristokratischen Werthungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>weise, die sich auch im Verachten nicht verleugnet
<lb n="15"/>(– Philologen seien daran erinnert, <milestone unit="page" source="#Dm" n="a12r"/>in welchem Sinne
<lb n="16"/><foreign xml:lang="grc">οïζυρός</foreign>, <foreign xml:lang="grc">ἄνολβος</foreign>, <foreign xml:lang="grc">τλήμων</foreign>, <foreign xml:lang="grc">δυςτυχεῖν</foreign>, <foreign xml:lang="grc">ξυμφορά</foreign> gebraucht wer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>den). Die „Wohlgeborenen“ <hi rend="spaced">fühlten</hi> sich eben als
<lb n="18"/>die „Glücklichen“; sie hatten ihr Glück nicht erst durch
<lb n="19"/>einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu construiren,
<lb n="20"/>unter Umständen einzureden, <hi rend="spaced">einzulügen</hi> (wie es alle
<lb n="21"/>Menschen des Ressentiment zu thun pflegen); und eben<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>falls wussten sie, als volle, mit Kraft überladene, folg<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>lich <hi rend="spaced">nothwendig</hi> aktive Menschen, von dem Glück
<lb n="24"/>das Handeln nicht abzutrennen, – das Thätigsein wird
<lb n="25"/>bei ihnen mit Nothwendigkeit in’s Glück hineingerechnet
<lb n="26"/>(woher <foreign xml:lang="grc">εὖ πράττειν</foreign> seine Herkunft nimmt) – Alles sehr
<lb n="27"/>im Gegensatz zu dem „Glück“ auf der Stufe der Ohn<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>mächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen
<lb n="29"/>Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Nar<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>cose, Betäubung, Ruhe, Frieden, „Sabbat“, Gemüths-
<lb n="31"/>Ausspannung und Gliederstrecken, kurz <hi rend="spaced">passivisch</hi>
<lb n="32"/>auftritt. Während der vornehme Mensch vor sich selbst
<lb n="33"/>mit Vertrauen und Offenheit lebt (<foreign xml:lang="grc">γενναῖος</foreign> „edelbürtig“
<pb n="19" facs="#E40_0040" xml:id="Ed_19_id"/>
<lb n="1"/>unterstreicht die nuance „aufrichtig“ und auch wohl
<lb n="2"/>„naiv“), so ist der Mensch des Ressentiment weder auf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>richtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>radezu. Seine Seele <hi rend="spaced">schielt</hi>; sein Geist liebt Schlupf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>winkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte
<lb n="6"/>muthet ihn an als <hi rend="spaced">seine</hi> Welt, <hi rend="spaced">seine</hi> Sicherheit, <hi rend="spaced">sein</hi>
<lb n="7"/>Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-
<lb n="8"/>Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern,
<lb n="9"/>Sich-demüthigen. Eine Rasse solcher Menschen des
<lb n="10"/>Ressentiment wird nothwendig endlich <hi rend="spaced">klüger</hi> sein
<lb n="11"/>als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit
<lb n="12"/>auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine
<lb n="13"/>Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klug<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>heit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Bei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>geschmack von Luxus und Raffinement an sich hat: –
<lb n="16"/>sie ist eben hier lange nicht so wesentlich, als die voll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>kommne Funktions-Sicherheit der regulirenden <hi rend="spaced">unbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>wussten</hi> Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit,
<lb n="19"/>etwa das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr,
<lb n="20"/>sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>lichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und
<lb n="22"/>Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen
<lb n="23"/>wiedererkannt haben. Das Ressentiment des vorneh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>men Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, voll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>zieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen
<lb n="26"/>Reaktion, es <hi rend="spaced">vergiftet</hi> darum nicht: andrerseits tritt
<lb n="27"/>es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es bei allen
<lb n="28"/>Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. Seine
<lb n="29"/>Feinde, seine Unfälle, seine <hi rend="spaced">Unthaten</hi> selbst nicht
<lb n="30"/>lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen
<lb n="31"/>starker voller Naturen, in denen ein Überschuss plasti<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>scher, nachbildender, ausheilender, auch vergessen ma<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>chender Kraft ist (ein gutes Beispiel dafür aus der
<pb n="20" facs="#E40_0041" xml:id="Ed_20_id"/>
<lb n="1"/>modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtniss
<lb n="2"/>für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an
<lb n="3"/>ihm begieng, und der nur deshalb nicht vergeben konnte,
<lb n="4"/>weil er – vergass). Ein solcher Mensch schüttelt eben
<lb n="5"/>viel Gewürm mit Einem Ruck von sich, das sich bei
<lb n="6"/>Anderen eingräbt; hier allein ist auch das möglich,
<lb n="7"/>gesetzt, dass es überhaupt auf Erden möglich ist – die
<lb n="8"/>eigentliche „<hi rend="spaced">Liebe</hi> zu seinen Feinden“. Wie viel Ehr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>furcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer
<lb n="10"/>Mensch! – und eine solche Ehrfurcht ist schon eine
<lb n="11"/>Brücke zur Liebe… Er verlangt ja seinen Feind für
<lb n="12"/>sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren
<lb n="13"/>Feind aus, als einen solchen, an dem Nichts zu ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>achten und <hi rend="spaced">sehr Viel</hi> zu ehren ist! Dagegen stelle
<lb n="15"/>man sich „den Feind“ vor, wie ihn der Mensch des
<lb n="16"/>Ressentiment concipirt – und hier gerade ist seine
<lb n="17"/>That, seine Schöpfung: er hat „den bösen Feind“ con<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>cipirt, „<hi rend="spaced">den Bösen</hi>“, und zwar als Grundbegriff, von
<lb n="19"/>dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch
<lb n="20"/>noch einen „Guten“ ausdenkt – sich selbst!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0111">
<head>
<lb n="21"/>11.</head>
<p>
<lb n="22" rend="indent"/>Gerade umgekehrt also wie bei dem Vornehmen,
<lb n="23"/>der den Grundbegriff „gut“ voraus und spontan, näm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>lich von sich aus concipirt und von da aus erst eine
<lb n="25"/>Vorstellung von „schlecht“ sich schafft! Dies „schlecht“
<lb n="26"/>vornehmen Ursprungs und jenes „böse“ aus dem Brau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>kessel des ungesättigten Hasses – das erste eine Nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>schöpfung, ein Nebenher, eine Complementärfarbe, das
<lb n="29"/>zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>liche <hi rend="spaced">That</hi> in der Conception einer Sklaven-Moral –
<lb n="31"/>wie verschieden stehen die beiden scheinbar demselben
<lb n="32"/>Begriff „gut“ entgegengestellten Worte „schlecht“ und
<pb n="21" facs="#E40_0042" xml:id="Ed_21_id"/><lb n="1"/>„böse“ da! Aber es ist <hi rend="spaced">nicht</hi> derselbe Begriff „gut“: viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>mehr frage man sich doch, <hi rend="spaced">wer</hi> eigentlich „böse“ ist,
<lb n="3"/>im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge
<lb n="4"/>geantwortet: <hi rend="spaced">eben</hi> der „Gute“ der andren Moral, eben
<lb n="5"/>der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur um<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>gefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Gift<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>auge des Ressentiment. Hier wollen wir Eins am we<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>nigsten leugnen: wer jene „Guten“ nur als Feinde
<lb n="9"/>kennen lernte, lernte auch nichts als <hi rend="spaced">böse Feinde</hi>
<lb n="10"/>kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch
<lb n="11"/>Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr
<lb n="12"/>durch <milestone unit="page" source="#Dm" n="a13r"/>gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter
<lb n="13"/>pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im
<lb n="14"/>Verhalten zu einander so erfinderisch in Rücksicht,
<lb n="15"/>Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freund<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>schaft sich beweisen, – sie sind nach Aussen hin, dort
<lb n="17"/>wo das Fremde, <hi rend="spaced">die</hi> Fremde beginnt, nicht viel besser
<lb n="18"/>als losgelassne Raubthiere. Sie geniessen da die Frei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>heit von allem socialen Zwang, sie halten sich in der
<lb n="20"/>Wildniss schadlos für die Spannung, welche eine lange
<lb n="21"/>Einschliessung und Einfriedigung in den Frieden der
<lb n="22"/>Gemeinschaft giebt, sie treten in die Unschuld des
<lb n="23"/>Raubthier-Gewissens <hi rend="spaced">zurück</hi>, als frohlockende Unge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>heuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>folge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung
<lb n="26"/>mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte
<lb n="27"/>davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich voll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>bracht sei, überzeugt davon, dass die Dichter für lange
<lb n="29"/>nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben.
<lb n="30"/>Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist
<lb n="31"/>das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg
<lb n="32"/>lüstern schweifende <hi rend="spaced">blonde Bestie</hi> nicht zu ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>kennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von
<pb n="22" facs="#E40_0043" xml:id="Ed_22_id"/>
<lb n="1"/>Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>aus, muss wieder in die Wildniss zurück: – römischer,
<lb n="3"/>arabischer, germanischer, japanesischer Adel, home<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>rische Helden, skandinavische Wikinger – in diesem Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>dürfniss sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen
<lb n="6"/>sind es, welche den Begriff „Barbar“ auf all den Spuren
<lb n="7"/>hinterlassen haben, wo sie gegangen sind; noch aus
<lb n="8"/>ihrer höchsten Cultur heraus verräth sich ein Bewusst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>sein davon und ein Stolz selbst darauf (zum Beispiel
<lb n="10"/>wenn Perikles seinen Athenern sagt, in jener berühm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>ten Leichenrede, „zu allem Land und Meer hat unsre
<lb n="12"/>Kühnheit sich den Weg gebrochen, unvergängliche
<lb n="13"/>Denkmale sich überall im Guten <hi rend="spaced">und Schlimmen</hi>
<lb n="14"/>aufrichtend“). Diese „Kühnheit“ vornehmer Rassen,
<lb n="15"/>toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äussert, das Unbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>rechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>nehmungen – Perikles hebt die <foreign xml:lang="grc">ῥαϑυμία</foreign> der Athener
<lb n="18"/>mit Auszeichnung hervor – ihre Gleichgültigkeit und
<lb n="19"/>Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen,
<lb n="20"/>ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem
<lb n="21"/>Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>samkeit – Alles fasste sich für Die, welche daran litten,
<lb n="23"/>in das Bild des „Barbaren“, des „bösen Feindes“, etwa
<lb n="24"/>des „Gothen“, des „Vandalen“ zusammen. Das tiefe,
<lb n="25"/>eisige Misstrauen, das der Deutsche erregt, sobald er
<lb n="26"/>zur Macht kommt, auch jetzt wieder – ist immer noch
<lb n="27"/>ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit
<lb n="28"/>dem Jahrhunderte lang Europa dem Wüthen der blon<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>den germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>schen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine
<lb n="31"/>Begriffs-, geschweige eine Blutverwandtschaft besteht).
<lb n="32"/>Ich habe einmal auf die Verlegenheit Hesiod’s aufmerk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>sam gemacht, als er die Abfolge der Cultur-Zeitalter
<pb n="23" facs="#E40_0044" xml:id="Ed_23_id"/>
<lb n="1"/>aussann und sie in Gold, Silber, Erz auszudrücken
<lb n="2"/>suchte: er wusste mit dem Widerspruch, den ihm die
<lb n="3"/>herrliche, aber ebenfalls so schauerliche, so gewalt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>thätige Welt Homer’s bot, nicht anders fertig zu werden,
<lb n="5"/>als indem er aus Einem Zeitalter zwei machte, die er
<lb n="6"/>nunmehr hinter einander stellte – einmal das Zeitalter
<lb n="7"/>der Helden und Halbgötter von Troja und Theben, so
<lb n="8"/>wie jene Welt im Gedächtniss der vornehmen Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>schlechter zurückgeblieben war, die in ihr die eignen
<lb n="10"/>Ahnherrn hatten; sodann das eherne Zeitalter, so wie
<lb n="11"/>jene gleiche Welt den Nachkommen der Niedergetre<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>tenen, Beraubten, Misshandelten, Weggeschleppten,
<lb n="13"/>Verkauften erschien: als ein Zeitalter von Erz, wie ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>sagt, hart, kalt, grausam, gefühl- und gewissenlos,
<lb n="15"/>Alles zermalmend und mit Blut übertünchend. Gesetzt,
<lb n="16"/>dass es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als „Wahrheit“
<lb n="17"/>geglaubt wird, dass es eben der <hi rend="spaced">Sinn aller Cultur</hi>
<lb n="18"/>sei, aus dem Raubthiere „Mensch“ ein zahmes und
<lb n="19"/>civilisirtes Thier, ein <hi rend="spaced">Hausthier</hi> herauszuzüchten, so
<lb n="20"/>müsste man unzweifelhaft alle jene Reaktions- und
<lb n="21"/>Ressentiments-Instinkte, mit deren Hülfe die vorneh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>men Geschlechter sammt ihren Idealen schliesslich zu
<lb n="23"/>Schanden gemacht und überwältigt worden sind, als
<lb n="24"/>die eigentlichen <hi rend="spaced">Werkzeuge der Cultur</hi> betrach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>ten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, dass deren
<lb n="26"/><hi rend="spaced">Träger</hi> zugleich auch selber die Cultur darstellten.
<lb n="27"/>Vielmehr wäre das Gegentheil nicht nur wahrschein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>lich – nein! es ist heute <hi rend="spaced">augenscheinlich</hi>! Diese
<lb n="29"/>Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen
<lb n="30"/>Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und
<lb n="31"/>nicht europäischen Sklaventhums, aller vorarischen Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>völkerung in Sonderheit – sie stellen den <hi rend="spaced">Rück<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>gang</hi> der Menschheit dar! Diese „Werkzeuge der
<pb n="24" facs="#E40_0045" xml:id="Ed_24_id"/>
<lb n="1"/>Cultur“ sind eine Schande des Menschen, und eher ein
<lb n="2"/>Verdacht, ein Gegenargument gegen „Cultur“ über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>haupt! Man mag im besten Rechte sein, wenn man
<lb n="4"/>vor der blonden Bestie auf dem Grunde aller vornehmen
<lb n="5"/>Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist:
<lb n="6"/>aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten,
<lb n="7"/>wenn <milestone unit="page" source="#Dm" n="a14r"/>er zugleich bewundern darf, als sich <hi rend="spaced">nicht</hi> fürch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>ten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Missrathe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>nen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht
<lb n="10"/>mehr los werden können? Und ist das nicht <hi rend="spaced">unser</hi>
<lb n="11"/>Verhängniss? Was macht heute <hi rend="spaced">unsern</hi> Widerwillen
<lb n="12"/>gegen „den Menschen“? – denn wir <hi rend="spaced">leiden</hi> am Men<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>schen, es ist kein Zweifel. – <hi rend="spaced">Nicht</hi> die Furcht; eher,
<lb n="14"/>dass wir Nichts mehr am Menschen zu fürchten haben;
<lb n="15"/>dass das Gewürm „Mensch“ im Vordergrunde ist und
<lb n="16"/>wimmelt; dass der „zahme Mensch“, der Heillos-Mittel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>mässige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und
<lb n="18"/>Spitze, als Sinn der Geschichte, als „höheren Menschen“
<lb n="19"/>zu fühlen gelernt hat; – ja dass er ein gewisses Recht
<lb n="20"/>darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>stande von der Überfülle des Missrathenen, Kränklichen,
<lb n="22"/>Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu
<lb n="23"/>stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>rathenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens
<lb n="25"/>zum Leben Ja-sagendes…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0112">
<head>
<lb n="26"/>12.</head>
<p>
<lb n="27" rend="indent"/>– Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer
<lb n="28"/>und eine letzte Zuversicht nicht. Was ist das gerade
<lb n="29"/>mir ganz Unerträgliche? Das, womit ich allein nicht
<lb n="30"/>fertig werde, was mich ersticken und verschmachten
<lb n="31"/>macht? Schlechte Luft! Schlechte Luft! Dass etwas
<lb n="32"/>Missrathenes in meine Nähe kommt; dass ich die Ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>geweide einer missrathenen Seele riechen muss!…
<pb n="25" facs="#E40_0046" xml:id="Ed_25_id"/>
<lb n="1"/>Was hält man sonst nicht aus von Noth, Entbehrung,
<lb n="2"/>bösem Wetter, Siechthum, Mühsal, Vereinsamung? Im
<lb n="3"/>Grunde wird man mit allem Übrigen fertig, geboren
<lb n="4"/>wie man ist zu einem unterirdischen und kämpfenden
<lb n="5"/>Dasein; man kommt immer wieder einmal an’s Licht,
<lb n="6"/>man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des
<lb n="7"/>Siegs, – und dann steht man da, wie man geboren ist,
<lb n="8"/>unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwere<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>rem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Noth
<lb n="10"/>immer nur noch straffer anzieht. – Aber von Zeit zu
<lb n="11"/>Zeit gönnt mir – gesetzt, dass es himmlische Gönne<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>rinnen giebt, jenseits von Gut und Böse – einen Blick,
<lb n="13"/>gönnt mir Einen Blick nur auf etwas Vollkommenes,
<lb n="14"/>zu-Ende-Gerathenes, Glückliches, Mächtiges, Trium<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>phirendes, an dem es noch Etwas zu fürchten giebt!
<lb n="16"/>Auf einen Menschen, der <hi rend="spaced">den</hi> Menschen rechtfertigt,
<lb n="17"/>auf einen complementären und erlösenden Glücksfall
<lb n="18"/>des Menschen, um desswillen man <hi rend="spaced">den Glauben an
<lb n="19"/>den Menschen</hi> festhalten darf!… Denn so steht es:
<lb n="20"/>die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen
<lb n="21"/>Menschen birgt <hi rend="spaced">unsre</hi> grösste Gefahr, denn dieser
<lb n="22"/>Anblick macht müde… Wir sehen heute Nichts, das
<lb n="23"/>grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch
<lb n="24"/>abwärts, abwärts geht, in’s Dünnere, Gutmüthigere,
<lb n="5"/>Klügere, Behaglichere, Mittelmässigere, Gleichgültigere,
<lb n="26"/>Chinesischere, Christlichere – der Mensch, es ist kein
<lb n="27"/>Zweifel, wird immer „besser“… Hier eben liegt das
<lb n="28"/>Verhängniss Europa’s – mit der Furcht vor dem Men<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>schen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht
<lb n="39"/>vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm
<lb n="31"/>eingebüsst. Der Anblick des Menschen macht nun<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>mehr müde – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht
<lb n="33"/><hi rend="spaced">das</hi> ist?… Wir sind <hi rend="spaced">des Menschen</hi> müde…</p></div2>
<pb n="26" facs="#E40_0047" xml:id="Ed_26_id"/>
<div2 xml:id="GM0113">
<head>
<lb n="1"/>13.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>– Doch kommen wir zurück: das Problem vom
<lb n="3"/><hi rend="spaced">andren</hi> Ursprung des „Guten“, vom Guten, wie ihn
<lb n="4"/>der Mensch des Ressentiment sich ausgedacht hat, ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>langt nach seinem Abschluss. – Dass die Lämmer den
<lb n="6"/>grossen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht:
<lb n="7"/>nur liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln
<lb n="8"/>zu verargen, dass sie sich kleine Lämmer holen. Und
<lb n="9"/>wenn die Lämmer unter sich sagen „diese Raubvögel
<lb n="10"/>sind böse; und wer so wenig als möglich ein Raub<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>vogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm, –
<lb n="12"/>sollte der nicht gut sein?“ so ist an dieser Aufrichtung
<lb n="13"/>eines Ideals Nichts auszusetzen, sei es auch, dass die
<lb n="14"/>Raubvögel dazu ein wenig spöttisch blicken werden
<lb n="15"/>und vielleicht sich sagen: „<hi rend="spaced">wir</hi> sind ihnen gar nicht
<lb n="16"/>gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar:
<lb n="17"/>nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm.“ – Von
<lb n="18"/>der Stärke verlangen, dass sie sich <hi rend="spaced">nicht</hi> als Stärke
<lb n="19"/>äussere, dass sie <hi rend="spaced">nicht</hi> ein Überwältigen-Wollen, ein
<lb n="20"/>Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein
<lb n="21"/>Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen
<lb n="22"/>sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche
<lb n="23"/>verlangen, dass sie sich als Stärke äussere. Ein Quan<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>tum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille,
<lb n="25"/>Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben
<lb n="26"/>dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter
<lb n="27"/>der Verführung der Sprache (und der in ihr versteiner<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>ten Grundirrthümer der <choice><orig>Vernunft)</orig><corr source="#KGW #KSA">Vernunft),</corr></choice> welche alles Wirken
<lb n="29"/>als bedingt durch ein Wirkendes, durch <milestone unit="page" source="#Dm" n="a15r"/>ein „Subjekt“
<lb n="30"/>versteht und missversteht, kann es anders erscheinen.
<lb n="31"/>Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem
<lb n="32"/>Leuchten trennt und letzteres als <hi rend="spaced">Thun</hi>, als Wirkung
<lb n="33"/>eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die
<pb n="27" facs="#E40_0048" xml:id="Ed_27_id"/>
<lb n="1"/>Volks-Moral auch die Stärke von den <choice><orig>Ausserungen</orig><corr source="#KGW #KSA">Äusserungen</corr></choice>
<lb n="2"/>der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken
<lb n="3"/>ein indifferentes Substrat gäbe, dem es <hi rend="spaced">freistünde</hi>,
<lb n="4"/>Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein
<lb n="5"/>solches Substrat; es giebt kein „Sein“ hinter dem
<lb n="6"/>Thun, Wirken, Werden; „der Thäter“ ist zum Thun
<lb n="7"/>bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles. Das Volk
<lb n="8"/>verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz
<lb n="9"/>leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dasselbe
<lb n="10"/>Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal
<lb n="11"/>als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht
<lb n="12"/>besser, wenn sie sagen „die Kraft bewegt, die Kraft
<lb n="13"/>verursacht“ und dergleichen, – unsre ganze Wissen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>schaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit
<lb n="15"/>vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist
<lb n="16"/>die untergeschobenen Wechselbälge, die „Subjekte“ nicht
<lb n="17"/>losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher
<lb n="18"/>Wechselbalg, insgleichen das Kantische „Ding an
<lb n="19"/>sich“): was Wunder, wenn die zurückgetretenen, ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>steckt glimmenden Affekte Rache und Hass diesen
<lb n="21"/>Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar
<lb n="22"/>keinen Glauben inbrünstiger aufrecht erhalten als den,
<lb n="23"/><hi rend="spaced">es stehe dem Starken frei</hi>, schwach, und dem
<lb n="24"/>Raubvogel, Lamm zu sein: – damit gewinnen sie ja
<lb n="25"/>bei sich das Recht, dem Raubvogel es <hi rend="spaced">zuzurechnen</hi>,
<lb n="26"/>Raubvogel zu sein… Wenn die Unterdrückten, Nieder<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>getretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List
<lb n="28"/>der Ohnmacht heraus sich zureden: „lasst uns anders
<lb n="29"/>sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist Jeder,
<lb n="30"/>der nicht vergewaltigt, der Niemanden verletzt, der
<lb n="31"/>nicht angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott
<lb n="32"/>übergiebt, der sich wie wir im Verborgenen hält, der
<lb n="33"/>allem Bösen aus dem Wege geht und wenig über<pc force="weak">-</pc>
<pb n="28" facs="#E40_0049" xml:id="Ed_28_id"/>
<lb n="1"/>haupt vom Leben verlangt, gleich uns den Geduldigen,
<lb n="2"/>Demüthigen, Gerechten“ – so heisst das, kalt und ohne
<lb n="3"/>Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter
<lb n="4"/>als: „wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist
<lb n="5"/>gut, wenn wir nichts thun, <hi rend="spaced">wozu wir nicht stark
<lb n="6"/>genug sind</hi>“ – aber dieser herbe Thatbestand, diese
<lb n="7"/>Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten
<lb n="8"/>haben (die sich wohl todt stellen, um nicht „zu viel“ zu
<lb n="9"/>thun, bei grosser Gefahr), hat sich Dank jener Falsch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>münzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den
<lb n="11"/>Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend
<lb n="12"/>gekleidet, gleich als ob die Schwäche des Schwachen
<lb n="13"/>selbst – das heisst doch sein <hi rend="spaced">Wesen</hi>, sein Wirken,
<lb n="14"/>seine ganze einzige unvermeidliche, unablösbare Wirk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>lichkeit – eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes,
<lb n="16"/>Gewähltes, eine <hi rend="spaced">That</hi>, ein <hi rend="spaced">Verdienst</hi> sei. Diese
<lb n="17"/>Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahl<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>freie „Subjekt“ <hi rend="spaced">nöthig</hi> aus einem Instinkte der Selbst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>erhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge
<lb n="20"/>sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, dass wir
<lb n="21"/>populärer reden, die <hi rend="spaced">Seele</hi>) ist vielleicht deshalb bis
<lb n="22"/>jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil
<lb n="23"/>er der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und
<lb n="24"/>Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrü<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>gerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr
<lb n="26"/>So- und So-sein als <hi rend="spaced">Verdienst</hi> auszulegen.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0114">
<head>
<lb n="27"/>14.</head>
<p>
<lb n="28" rend="indent"/>– Will Jemand ein wenig in das Geheimniss hinab
<lb n="29"/>und hinunter sehn, wie man auf Erden <hi rend="spaced">Ideale fabri<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>zirt</hi>? Wer hat den Muth dazu?… Wohlan! Hier ist
<lb n="31"/>der Blick offen in diese dunkle Werkstätte. Warten
<lb n="32"/>Sie noch einen Augenblick, mein Herr Vorwitz und
<pb n="29" facs="#E40_0050" xml:id="Ed_29_id"/>
<lb n="1"/>Wagehals: Ihr Auge muss sich erst an dieses falsche
<lb n="2"/>schillernde Licht gewöhnen… So! Genug! Reden Sie
<lb n="3"/>jetzt! Was geht da unten vor? Sprechen Sie aus, was
<lb n="4"/>Sie sehen, Mann der gefährlichsten Neugierde – jetzt
<lb n="5"/>bin <hi rend="spaced">ich</hi> der, welcher zuhört. –
<lb n="6" rend="indent"/>– „Ich sehe Nichts, ich höre um so mehr. Es ist
<lb n="7"/>ein vorsichtiges tückisches leises Munkeln und Zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>sammenflüstern aus allen Ecken und Winkeln. Es
<lb n="9"/>scheint mir, dass man lügt; eine zuckrige Milde klebt
<lb n="10"/>an jedem Klange. Die Schwäche soll zum <hi rend="spaced">Verdienste</hi>
<lb n="11"/>umgelogen werden, es ist kein Zweifel – es steht da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>mit so, wie Sie es sagten.“ – <milestone unit="page" source="#Dm" n="a16r"/>
<lb n="13" rend="indent"/>– Weiter!
<lb n="14" rend="indent"/>– „und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur „Güte“;
<lb n="15"/>die ängstliche Niedrigkeit zur „Demuth“; die Unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>werfung vor Denen, die man hasst, zum „Gehorsam“
<lb n="17"/>(nämlich gegen Einen, von dem sie sagen, er befehle
<lb n="18"/>diese Unterwerfung, – sie heissen ihn Gott). Das Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>offensive des Schwachen, die Feigheit selbst, an der er
<lb n="20"/>reich ist, sein An-der-Thür-stehn, sein unvermeidliches
<lb n="21"/>Warten-müssen kommt hier zu guten Namen, als <choice><orig>„Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>duld,“</orig><corr source="#KGW #KSA">Geduld“,</corr></choice> es heisst auch wohl <hi rend="spaced">die</hi> Tugend; das Sich-nicht-
<lb n="23"/>rächen-Können heisst Sich-nicht-rächen-Wollen, viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>leicht selbst Verzeihung („denn <hi rend="spaced">sie</hi> wissen nicht, was
<lb n="25"/>sie thun – wir allein wissen es, was <hi rend="spaced">sie</hi> thun!“). Auch
<lb n="26"/>redet man von der „Liebe zu seinen Feinden“ – und
<lb n="27"/>schwitzt dabei.“
<lb n="28" rend="indent"/>– Weiter!
<lb n="29" rend="indent"/>– „Sie sind elend, es ist kein Zweifel, alle diese
<lb n="30"/>Munkler und Winkel-Falschmünzer, ob sie schon warm
<lb n="31"/>bei einander hocken – aber sie sagen mir, ihr Elend
<lb n="32"/>sei eine Auswahl und Auszeichnung Gottes, man prügele
<lb n="33"/>die Hunde, die man am liebsten habe; vielleicht sei dies
<pb n="30" facs="#E40_0051" xml:id="Ed_30_id"/>
<lb n="1"/>Elend auch eine Vorbereitung, eine Prüfung, eine Schu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>lung, vielleicht sei es noch mehr – Etwas, das einst
<lb n="3"/>ausgeglichen und mit ungeheuren Zinsen in Gold, nein!
<lb n="4"/>in Glück ausgezahlt werde. Das heissen sie „die Selig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>keit.“
<lb n="6" rend="indent"/>– Weiter!
<lb n="7" rend="indent"/>– „Jetzt geben sie mir zu verstehen, dass sie nicht
<lb n="8"/>nur besser seien als die Mächtigen, die Herrn der Erde,
<lb n="9"/>deren Speichel sie lecken müssen (<hi rend="spaced">nicht</hi> aus Furcht,
<lb n="10"/>ganz und gar nicht aus Furcht! sondern weil es Gott
<lb n="11"/>gebietet, alle Obrigkeit zu ehren) – dass sie nicht nur
<lb n="12"/>besser seien, sondern es auch „besser hätten“, jedenfalls
<lb n="13"/>einmal besser haben würden. Aber genug! genug! Ich
<lb n="14"/>halte es nicht mehr aus. Schlechte Luft! Schlechte
<lb n="15"/>Luft! Diese Werkstätte, wo man <hi rend="spaced">Ideale fabrizirt</hi> –
<lb n="16"/>mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.“
<lb n="17" rend="indent"/>– Nein! Noch einen Augenblick! Sie sagten noch
<lb n="18"/>nichts von dem Meisterstücke dieser Schwarzkünstler,
<lb n="19"/>welche Weiss, Milch und Unschuld aus jedem Schwarz
<lb n="20"/>herstellen: – haben Sie nicht bemerkt, was ihre Voll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>endung im Raffinement ist, ihr kühnster, feinster, geist<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>reichster, lügenreichster Artisten-Griff? Geben Sie Acht!
<lb n="23"/>Diese Kellerthiere voll Rache und Hass – was machen
<lb n="24"/>sie doch gerade aus Rache und Hass? Hörten Sie je
<lb n="25"/>diese Worte? Würden Sie ahnen, wenn Sie nur ihren
<lb n="26"/>Worten trauten, dass Sie unter lauter Menschen des
<lb n="27"/>Ressentiment sind?…
<lb n="28" rend="indent"/>– „Ich verstehe, ich mache nochmals die Ohren
<lb n="29"/>auf (ach! ach! ach! und die Nase <hi rend="spaced">zu</hi>). Jetzt höre ich
<lb n="30"/>erst, was sie so oft schon sagten: „Wir Guten – <hi rend="spaced">wir
<lb n="31"/>sind die Gerechten</hi>“ – was sie verlangen, das heissen
<lb n="32"/>sie nicht Vergeltung, sondern „den Triumph der <hi rend="spaced">Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>rechtigkeit</hi>“; was sie hassen, das ist nicht ihr Feind,
<pb n="31" facs="#E40_0052" xml:id="Ed_31_id"/>
<lb n="1"/>nein! sie hassen das „<hi rend="spaced">Unrecht</hi>“, die „Gottlosigkeit“;
<lb n="2"/>was sie glauben und hoffen, ist nicht die Hoffnung
<lb n="3"/>auf Rache, die Trunkenheit der süssen Rache (– „süsser
<lb n="4"/>als Honig“ nannte sie schon Homer), sondern der
<lb n="5"/>Sieg Gottes, des <hi rend="spaced">gerechten</hi> Gottes über die Gott<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>losen; was ihnen zu lieben auf Erden übrig bleibt, sind
<lb n="7"/>nicht ihre Brüder im Hasse, sondern ihre „Brüder in
<lb n="8"/>der Liebe“, wie sie sagen, alle Guten und Gerechten
<lb n="9"/>auf der Erde.“
<lb n="10" rend="indent"/>– Und wie nennen sie das, was ihnen als Trost
<lb n="11"/>wider alle Leiden des Lebens dient – ihre Phantas<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>magorie der vorweggenommenen zukünftigen Seligkeit?
<lb n="13" rend="indent"/>– „Wie? Höre ich recht? Sie heissen das „das
<lb n="14"/>jüngste Gericht“, das Kommen <hi rend="spaced">ihres</hi> Reichs, des
<lb n="15"/>„Reichs Gottes“ – <hi rend="spaced">einstweilen</hi> aber leben sie „im
<lb n="16"/>Glauben“, „in der Liebe“, „in der Hoffnung.“
<lb n="17" rend="indent"/>– Genug! Genug!</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0115">
<head>
<lb n="18"/>15.</head>
<p>
<lb n="19" rend="indent"/>Im Glauben woran? In der Liebe wozu? In der
<lb n="20"/>Hoffnung worauf? – Diese Schwachen – irgendwann
<lb n="21"/>einmal nämlich <milestone unit="page" source="#Dm" n="a17r"/>wollen auch <hi rend="spaced">sie</hi> die Starken sein, es
<lb n="22"/>ist kein Zweifel, irgendwann soll auch <hi rend="spaced">ihr</hi> „Reich“ kom<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>men – „das Reich Gottes“ heisst es schlechtweg bei
<lb n="24"/>ihnen, wie gesagt: man ist ja in Allem so demüthig!
<lb n="25"/>Schon um <hi rend="spaced">das</hi> zu erleben, hat man nöthig, lange zu
<lb n="26"/>leben, über den Tod hinaus, – ja man hat das ewige
<lb n="27"/>Leben nöthig, damit man sich auch ewig im „Reiche
<lb n="28"/>Gottes“ schadlos halten kann für jenes Erden-Leben „im
<lb n="29"/>Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung.“ Schadlos
<lb n="30"/>wofür? Schadlos wodurch?… Dante hat sich, wie
<lb n="31"/>mich dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit einer
<lb n="32"/>schreckeneinflössenden Ingenuität, jene Inschrift über
<pb n="32" facs="#E40_0053" xml:id="Ed_32_id"/>
<lb n="1"/>das Thor zu seiner Hölle setzte „auch mich schuf die
<lb n="2"/>ewige Liebe“: – über dem Thore des christlichen Pa<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>radieses und seiner „ewigen Seligkeit“ würde jedenfalls
<lb n="4"/>mit besserem Rechte die Inschrift stehen dürfen „auch
<lb n="5"/>mich schuf der ewige <hi rend="spaced">Hass</hi>“ – gesetzt, dass eine
<lb n="6"/>Wahrheit über dem Thor zu einer Lüge stehen dürfte!
<lb n="7"/>Denn <hi rend="spaced">was</hi> ist die Seligkeit jenes Paradieses?… Wir
<lb n="8"/>würden es vielleicht schon errathen; <milestone unit="page" source="#Dm" n="a18r"/>aber besser ist es,
<lb n="9"/>dass es uns eine in solchen Dingen nicht zu unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>schätzende Autorität ausdrücklich bezeugt, Thomas von
<lb n="11"/>Aquino, der grosse Lehrer und Heilige. „Beati in
<lb n="12"/>regno <choice><orig>coelesti,“</orig><corr source="#KGW #KSA">coelesti“,</corr></choice> sagt er sanft wie ein Lamm, „videbunt
<lb n="13"/>poenas damnatorum, <hi rend="spaced">ut beatitudo illis magis com<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>placeat</hi>.“ Oder will man es in einer stärkeren Tonart
<lb n="15"/>hören, etwa aus dem Munde eines triumphirenden
<lb n="16"/>Kirchenvaters, der seinen Christen die grausamen Wol<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>lüste der öffentlichen Schauspiele widerrieth – warum
<lb n="18"/>doch? „Der Glaube bietet uns ja viel mehr, – sagt
<lb n="19"/>er, de spectac. c. 29 ss. – <hi rend="spaced">viel Stärkeres</hi>; Dank der
<lb n="20"/>Erlösung stehen uns ja ganz andre Freuden zu Gebote;
<lb n="21"/>an Stelle der Athleten haben wir unsre Märtyrer;
<lb n="22"/>wollen wir Blut, nun, so haben wir das Blut Christi…
<lb n="23"/>Aber was erwartet uns erst am Tage seiner Wieder <pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>kunft, seines Triumphes!“ – und nun fährt er fort, der
<lb n="25"/>entzückte Visionär: „At enim supersunt alia spectacula,
<lb n="26"/>ille ultimus et perpetuus judicii dies, ille nationibus
<lb n="27"/>insperatus, ille derisus, cum tanta saeculi vetustas et
<lb n="28"/>tot ejus nativitates uno igne haurientur. Quae tunc
<lb n="29"/>spectaculi latitudo! <hi rend="spaced">Quid admirer! Quid rideam!
<lb n="30"/>Ubi gaudeam! Ubi exultem</hi>, spectans tot et tantos
<lb n="31"/><hi rend="spaced">reges</hi>, qui in coelum recepti nuntiabantur, cum ipso
<lb n="32"/>Jove et ipsis suis testibus in imis tenebris congeme<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>scentes! Item praesides (die Provinzialstatthalter) perse<pc force="weak">-</pc>
<anchor xml:id="Bogen2End"/>
<milestone xml:id="Bogen3" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen3End"/>
<pb n="33" facs="#E40_0054" xml:id="Ed_33_id"/>
<lb n="1"/>cutores dominici nominis saevioribus quam ipsi flammis
<lb n="2"/>saevierunt insultantibus contra Christianos liquescentes!
<lb n="3"/>Quos praeterea sapientes illos philosophos coram dis<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>cipulis suis una conflagrantibus erubescentes, quibus
<lb n="5"/>nihil ad deum pertinere suadebant, quibus animas aut
<lb n="6"/>nullas aut non in pristina corpora redituras affirmabant!
<lb n="7"/>Etiam <choice><orig>poëtas</orig><sic source="#KGW #KSA">poëtàs<note type="editorial">Erratum</note></sic></choice> non ad Rhadamanti nec ad Minois, sed
<lb n="8"/>ad inopinati Christi tribunal palpitantes! <milestone unit="page" source="#Dm" n="a18v"/>Tunc magis
<lb n="9"/>tragoedi audiendi, magis scilicet vocales (besser bei
<lb n="10"/>Stimme, noch ärgere Schreier) in sua propria calami<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>tate; tunc histriones cognoscendi, solutiores multo per
<lb n="12"/>ignem; tunc spectandus auriga in flammea rota totus ru<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>bens, tunc xystici contemplandi non in gymnasiis, sed
<lb n="14"/>in igne jaculati, nisi quod ne tunc quidem illos velim
<lb n="15"/><choice><orig>vivos</orig><corr><note type="editorial">vgl. Tertullian, De spectaculis 30: visos</note></corr></choice>, ut qui malim ad eos potius conspectum <hi rend="spaced">insatia<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>bilem</hi> conferre, qui in dominum desaevierunt. „Hic
<lb n="17"/>est ille, dicam, fabri aut quaestuariae filius (wie alles
<lb n="18"/>Folgende und insbesondere auch diese aus dem Talmud
<lb n="19"/>bekannte Bezeichnung der Mutter Jesu zeigt, meint
<lb n="20"/>Tertullian von hier ab die Juden), sabbati destructor,
<lb n="21"/>Samarites et daemonium habens. Hic est, quem a Juda
<lb n="22"/>redemistis, hic est ille arundine et colaphis diverbera<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>tus, sputamentis dedecoratus, felle et aceto potatus.
<lb n="24"/>Hic est, quem clam discentes subripuerunt, ut resur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>rexisse dicatur vel hortulanus detraxit, ne lactucae suae
<lb n="26"/>frequentia commeantium laederentur.“ Ut talia spectes,
<lb n="27"/><hi rend="spaced">ut talibus exultes</hi>, quis tibi praetor aut consul aut
<lb n="28"/>quaestor aut sacerdos de sua liberalitate praestabit?
<lb n="29"/>Et tamen haec jam habemus quodammodo <hi rend="spaced">per fidem</hi>
<lb n="30"/>spiritu imaginante repraesentata. Ceterum qualia illa
<lb n="31"/>sunt, quae nec oculus vidit nec auris audivit nec in
<lb n="32"/>cor hominis ascenderunt? (1. Cor. 2, 9.) Credo circo et
<lb n="33"/>utraque cavea (erster und vierter Rang oder, nach
<pb n="34" facs="#E40_0055" xml:id="Ed_34_id"/>
<lb n="1"/>Anderen, komische und tragische Bühne) et omni stadio
<lb n="2"/>gratiora.“ – <hi rend="spaced">Per fidem:</hi> so steht’s geschrieben.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0116">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a19r"/>
<head>
<lb n="3"/>16.</head>
<p>
<lb n="4" rend="indent"/>Kommen wir zum Schluss. Die beiden <hi rend="spaced">entgegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>gesetzten</hi> Werthe „gut und schlecht“, „gut und böse“
<lb n="6"/>haben einen furchtbaren, Jahrtausende langen Kampf
<lb n="7"/>auf Erden gekämpft; und so gewiss auch der zweite
<lb n="8"/>Werth seit langem im Übergewichte ist, so fehlt es
<lb n="9"/>doch auch jetzt noch nicht an Stellen, wo der Kampf
<lb n="10"/>unentschieden fortgekämpft wird. Man könnte selbst
<lb n="11"/>sagen, dass er inzwischen immer höher hinauf getragen
<lb n="12"/>und eben damit immer tiefer, immer geistiger gewor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>den sei: so dass es heute vielleicht kein entscheiden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>deres Abzeichen der „<hi rend="spaced">höheren Natur</hi>“, der geistige<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>ren Natur giebt, als zwiespältig in jenem Sinne und
<lb n="16"/>wirklich noch ein Kampfplatz für jene Gegensätze zu
<lb n="17"/>sein. Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift
<lb n="18"/>geschrieben, die über alle Menschengeschichte hinweg
<lb n="19"/>bisher lesbar blieb, heisst „Rom gegen Judäa, Judäa
<lb n="20"/>gegen Rom“: – es gab bisher kein grösseres Ereig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>niss als <hi rend="spaced">diesen</hi> Kampf, <hi rend="spaced">diese</hi> Fragestellung, <hi rend="spaced">diesen</hi>
<lb n="22"/>todfeindlichen Widerspruch. Rom empfand im Juden
<lb n="23"/>Etwas wie die Widernatur selbst, gleichsam sein anti<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>podisches Monstrum; in Rom galt der Jude „des Hasses
<lb n="25"/>gegen das ganze Menschengeschlecht <hi rend="spaced">überführt</hi>“:
<lb n="26"/>mit Recht, sofern man ein Recht hat, das Heil und die
<lb n="27"/>Zukunft des Menschengeschlechts an die unbedingte
<lb n="28"/>Herrschaft der aristokratischen Werthe, der römischen
<lb n="29"/>Werthe anzuknüpfen. Was dagegen die Juden gegen
<lb n="30"/>Rom empfunden haben? Man erräth es aus tausend An<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>zeichen; aber es genügt, sich einmal wieder die Jo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>hanneische Apokalypse zu Gemüthe zu führen, jenen
<pb n="35" facs="#E40_0056" xml:id="Ed_35_id"/>
<lb n="1"/>wüstesten aller geschriebenen Ausbrüche, welche die
<lb n="2"/>Rache auf dem Gewissen hat. (Unterschätze man üb<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>rigens die tiefe Folgerichtigkeit des christlichen In<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>stinktes nicht, als er gerade dieses Buch des Hasses
<lb n="5"/>mit dem Namen des Jüngers der Liebe überschrieb,
<lb n="6"/>desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische Evan<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>gelium zu eigen gab –: darin steckt ein Stück Wahr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>heit, wie viel litterarische Falschmünzerei auch zu die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>sem Zwecke nöthig gewesen sein mag.) Die Römer
<lb n="10"/>waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker
<lb n="11"/>und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst
<lb n="12"/>niemals geträumt worden sind; jeder Überrest von
<lb n="13"/>ihnen, jede Inschrift entzückt, gesetzt, dass man erräth,
<lb n="14"/><hi rend="spaced">was</hi> da schreibt. Die Juden umgekehrt waren jenes
<lb n="15"/>priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem
<lb n="16"/>eine volksthümlich-moralische Genialität sonder Gleichen
<lb n="17"/>innewohnte: man vergleiche nur die verwandt-begab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>ten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit
<lb n="19"/>den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften
<lb n="20"/>Ranges ist. Wer von ihnen einstweilen <hi rend="spaced">gesiegt</hi> hat,
<lb n="21"/>Rom oder Judäa? Aber es ist ja gar kein Zweifel:
<lb n="22"/>man erwäge doch, vor wem man sich heute in Rom
<lb n="23"/>selber als vor dem Inbegriff aller höchsten Werthe
<lb n="24"/>beugt – und nicht nur in Rom, sondern fast auf der
<lb n="25"/>halben Erde, überall wo nur der Mensch zahm gewor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>den ist oder zahm werden will, – vor <hi rend="spaced">drei Juden</hi>,
<lb n="27"/>wie man weiss, und <hi rend="spaced">Einer Jüdin</hi> (vor Jesus von Na<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>zareth, dem Fischer Petrus, dem Teppichwirker Paulus
<lb n="29"/>und der Mutter des anfangs genannten Jesus, genannt
<lb n="30"/>Maria). Dies ist sehr merkwürdig: Rom ist ohne allen
<lb n="31"/>Zweifel unterlegen. Allerdings gab es in der Renais<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>sance <milestone unit="page" source="#Dm" n="a20r"/>ein glanzvoll-unheimliches Wiederaufwachen des
<lb n="33"/>klassischen Ideals, der vornehmen Werthungsweise aller
<pb n="36" facs="#E40_0057" xml:id="Ed_36_id"/>
<lb n="1"/>Dinge: Rom selber bewegte sich wie ein aufgeweckter
<lb n="2"/>Scheintodter unter dem Druck des neuen, darüber ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>bauten judaisirten Rom, das den Aspekt einer öku<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>menischen Synagoge darbot und „Kirche“ hiess: aber
<lb n="5"/>sofort triumphirte wieder Judäa, Dank jener gründ<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>lich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressenti<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>ments-Bewegung, welche man die Reformation nennt,
<lb n="8"/>hinzugerechnet, was aus ihr folgen musste, die Wieder<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>herstellung der Kirche, – die Wiederherstellung auch
<lb n="10"/>der alten Grabesruhe des klassischen Rom. In einem
<lb n="11"/>sogar entscheidenderen und tieferen Sinne als damals
<lb n="12"/>kam Judäa noch einmal mit der französischen Revo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>lution zum Siege über das klassische Ideal: die letzte
<lb n="14"/>politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des
<lb n="15"/>siebzehnten und achtzehnten <hi rend="spaced">französischen</hi> Jahr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>hunderts brach unter den volksthümlichen Ressentiments-
<lb n="17"/>Instinkten zusammen, – es wurde niemals auf Erden
<lb n="18"/>ein grösserer Jubel, eine lärmendere Begeisterung ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>hört! Zwar geschah mitten darin das Ungeheuerste,
<lb n="20"/>das Unerwartetste: das antike Ideal selbst trat <hi rend="spaced">leib<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>haft</hi> und mit unerhörter Pracht vor Auge und Gewissen
<lb n="22"/>der Menschheit, – und noch einmal, stärker, einfacher,
<lb n="23"/>eindringlicher als je, erscholl, gegenüber der alten Lü<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>gen-Losung des Ressentiment vom <hi rend="spaced">Vorrecht der
<lb n="25"/>Meisten</hi>, gegenüber dem Willen zur Niederung, zur
<lb n="26"/>Erniedrigung, zur Ausgleichung, zum Abwärts und
<lb n="27"/>Abendwärts des Menschen die furchtbare und ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>zückende Gegenlosung vom <hi rend="spaced">Vorrecht der Wenig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>sten</hi>! Wie ein letzter Fingerzeig zum <hi rend="spaced">andren</hi> Wege
<lb n="30"/>erschien Napoleon, jener einzelnste und spätestgeborne
<lb n="31"/>Mensch, den es jemals gab, und in ihm das fleisch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>gewordne Problem des <hi rend="spaced">vornehmen Ideals an sich</hi>
<lb n="33"/>– man überlege wohl, <hi rend="spaced">was</hi> es für ein Problem ist:
<pb n="37" facs="#E40_0058" xml:id="Ed_37_id"/>
<lb n="1"/>Napoleon, diese Synthesis von <hi rend="spaced">Unmensch</hi> und <hi rend="spaced">Über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>mensch</hi>…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0117">
<head>
<lb n="3"/>17.</head>
<p>
<lb n="4" rend="indent"/>– War es damit vorbei? Wurde jener grösste aller
<lb n="5"/>Ideal-Gegensätze damit für alle Zeiten ad acta gelegt?
<lb n="6"/>Oder nur vertagt, auf lange vertagt?… Sollte es
<lb n="7"/>nicht irgendwann einmal ein noch viel furchtbareres,
<lb n="8"/>viel länger vorbereitetes Auflodern des alten Brandes
<lb n="9"/>geben müssen? Mehr noch: wäre nicht gerade <hi rend="spaced">das</hi>
<lb n="10"/>aus allen Kräften zu wünschen? selbst zu wollen? selbst
<lb n="11"/>zu fördern?… Wer an dieser Stelle anfängt, gleich
<lb n="12"/>meinen Lesern, nachzudenken, weiter zu denken, der
<lb n="13"/>wird schwerlich bald damit zu Ende kommen, – Grund
<lb n="14"/>genug für mich, selbst zu Ende zu kommen, voraus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>gesetzt, dass es längst zur Genüge klar geworden ist,
<lb n="16"/>was ich <hi rend="spaced">will</hi>, was ich gerade mit jener gefährlichen
<lb n="17"/>Losung will, welche meinem letzten Buche auf den
<lb n="18"/>Leib geschrieben ist: „<hi rend="spaced">Jenseits von Gut und
<lb n="19"/>Böse</hi>“… Dies heisst zum Mindesten <hi rend="spaced">nicht</hi> „Jenseits
<lb n="20"/>von Gut und Schlecht.“ – –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM01Anmerkung">
<p>
<lb n="21" rend="indent"/><hi rend="spaced">Anmerkung</hi>. Ich nehme die Gelegenheit wahr, welche diese Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>handlung mir giebt, um einen Wunsch öffentlich und förmlich auszu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>drücken, der von mir bisher nur in gelegentlichem Gespräche mit Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>lehrten geäussert worden ist: dass nämlich irgend eine philosophische
<lb n="25"/>Fakultät sich durch eine Reihe akademischer Preisausschreiben um die För<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>derung <hi rend="spaced">moralhistorischer</hi> <choice><orig>Sudien</orig><corr source="#KGW #KSA">Studien</corr></choice> verdient machen möge: – vielleicht
<lb n="27"/>dient dies Buch dazu, einen kräftigen Anstoss gerade in solcher Richtung
<pb n="38" facs="#E40_0059" xml:id="Ed_38_id"/>
<lb n="1"/>zu geben. In Hinsicht auf eine Möglichkeit dieser Art sei die nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>stehende Frage in Vorschlag gebracht: sie verdient ebenso sehr die Auf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>merksamkeit der Philologen und Historiker als die der eigentlichen Philo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>sophie-Gelehrten von Beruf.
<lb n="5" rend="indent"/>„<hi rend="spaced">Welche Fingerzeige giebt die Sprachwissenschaft,
<lb n="6" rend="indent"/>insbesondere die etymologische Forschung, für die
<lb n="7" rend="indent"/>Entwicklungsgeschichte der moralischen Begriffe ab</hi>?“
<lb n="8" rend="indent"/>– Andrerseits ist es freilich ebenso nöthig, die Theilnahme der
<lb n="9"/>Physiologen und Mediciner für diese Probleme (vom <hi rend="spaced">Werthe</hi> der bis<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>herigen Werthschätzungen) zu gewinnen: wobei es den Fach-Philosophen
<lb n="11"/>überlassen sein mag, auch in diesem einzelnen Falle die Fürsprecher und
<lb n="12"/>Vermittler zu machen, nachdem es ihnen im Ganzen gelungen ist, das
<lb n="13"/>ursprünglich so spröde, so misstrauische Verhältniss zwischen Philosophie,
<lb n="14"/>Physiologie und Medicin in den freundschaftlichsten und fruchtbringendsten
<lb n="15"/>Austausch umzugestalten. In der That bedürfen alle Gütertafeln, alle
<lb n="16"/>„du sollst“, von denen die Geschichte oder die ethnologische Forschung
<lb n="17"/>weiss, zunächst der <hi rend="spaced">physiologischen</hi> Beleuchtung und Ausdeutung,
<lb n="18"/>eher jedenfalls noch als der psychologischen; alle insgleichen warten auf
<lb n="19"/>eine Kritik von seiten der medicinischen Wissenschaft. Die Frage: was
<lb n="20"/>ist diese oder jene Gütertafel und „Moral“ <hi rend="spaced">werth</hi>?“ will unter die ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>schiedensten Perspektiven gestellt sein; man kann namentlich das „werth
<lb n="22"/><hi rend="spaced">wozu</hi>?“ nicht fein genug aus einander legen. Etwas zum Beispiel, das
<lb n="23"/>ersichtlich Werth hätte in Hinsicht auf möglichste Dauerfähigkeit einer
<lb n="24"/>Rasse (oder auf Steigerung ihrer Anpassungskräfte an ein bestimmtes Klima
<lb n="25"/>oder auf Erhaltung der grössten Zahl) hätte durchaus nicht den gleichen
<lb n="26"/>Werth, wenn es sich etwa darum handelte, einen stärkeren Typus herauszu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>bilden. Das Wohl der Meisten und das Wohl der Wenigsten sind ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>gegengesetzte Werth-Gesichtspunkte: <hi rend="spaced">an sich</hi> schon den ersteren für den
<lb n="29"/>höherwerthigen zu halten wollen wir der Naivetät englischer Biologen über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>lassen… <hi rend="spaced">Alle</hi> Wissenschaften haben nunmehr der Zukunfts-Aufgabe
<lb n="31"/>des Philosophen vorzuarbeiten: diese Aufgabe dahin verstanden, dass der
<lb n="32"/>Philosoph das <hi rend="spaced">Problem vom Werthe</hi> zu lösen hat, dass er die
<lb n="33"/><hi rend="spaced">Rangordnung der Werthe</hi> zu bestimmen hat. –</p>
</div2>
</div1>
<div1 xml:id="GM02">
<pb n="[39]" facs="#E40_0060" xml:id="Ed_39_id"/>
<head>
<lb n="1"/>Zweite Abhandlung:
<lb n="2"/>„<hi rend="spaced">Schuld</hi>“, „<hi rend="spaced">schlechtes Gewissen</hi>“
<lb n="3"/>und Verwandtes.</head>
<pb n="[40]" facs="#E40_0061" xml:id="Ed_40_id"/><note type="editorial">vakat</note>
<pb n="[41]" facs="#E40_0062" xml:id="Ed_41_id"/>
<div2 xml:id="GM0201">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a21r"/>
<head>
<lb n="1"/>1.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>Ein Thier heranzüchten, das <hi rend="spaced">versprechen darf</hi> –
<lb n="3"/>ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst,
<lb n="4"/>welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen
<lb n="5"/>gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem <hi rend="spaced">vom</hi>
<lb n="6"/>Menschen?… Dass dies Problem bis zu einem hohen
<lb n="7"/>Grad gelöst ist, muss Dem um so erstaunlicher erschei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>nen, der die entgegen wirkende Kraft, die der <hi rend="spaced">Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>gesslichkeit</hi>, vollauf zu würdigen weiss. Vergess<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>lichkeit ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberfläch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>lichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im streng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>sten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>zuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren,
<lb n="14"/>in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der
<lb n="15"/>Verdauung (man dürfte ihn „Einverseelung“ nennen)
<lb n="16"/>ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt, als der ganze tausend<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>fältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung,
<lb n="18"/>die sogenannte „Einverleibung“ abspielt. Die Thüren
<lb n="19"/>und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen;
<lb n="20"/>von dem Lärm und Kampf, mit dem unsre Unterwelt
<lb n="21"/>von dienstbaren Organen für und gegen einander arbei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>tet, unbehelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig
<lb n="23"/>tabula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird
<lb n="24"/>für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen
<lb n="25"/>und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Voraus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>bestimmen (denn unser Organismus ist oligarchisch
<lb n="27"/>eingerichtet) – das ist der Nutzen der, wie gesagt,
<lb n="28"/>aktiven Vergesslichkeit, einer Thürwärterin gleichsam,
<pb n="42" facs="#E40_0063" xml:id="Ed_42_id"/>
<lb n="1"/>einer Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung, der
<lb n="2"/>Ruhe, der Etiquette: womit sofort abzusehn ist, inwie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>fern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung,
<lb n="4"/>keinen Stolz, keine <hi rend="spaced">Gegenwart</hi> geben könnte ohne
<lb n="5"/>Vergesslichkeit. Der Mensch, in dem dieser Hemmungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>apparat beschädigt wird und aussetzt, ist einem Dys<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>peptiker zu vergleichen (und nicht nur zu vergleichen –)
<lb n="8"/>er wird mit Nichts „fertig“… Eben dieses nothwendig
<lb n="9"/>vergessliche Thier, an dem das Vergessen eine Kraft,
<lb n="10"/>eine Form der <hi rend="spaced">starken</hi> Gesundheit darstellt, hat sich
<lb n="11"/>nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtniss,
<lb n="12"/>mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit
<lb n="13"/>ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, dass ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>sprochen werden soll: somit keineswegs bloss ein pas<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>sivisches Nicht-wieder-los-werden-können des einmal
<lb n="16"/>eingeritzten Eindrucks, nicht bloss die Indigestion an
<lb n="17"/>einem ein Mal verpfändeten Wort, mit dem man nicht
<lb n="18"/>wieder fertig wird, sondern ein aktives Nicht-wieder-
<lb n="19"/>los-werden-<hi rend="spaced">wollen</hi>, ein Fort- und Fortwollen des ein
<lb n="20"/>Mal Gewollten, ein eigentliches <hi rend="spaced">Gedächtniss des
<lb n="21"/>Willens</hi>: so dass zwischen das ursprüngliche „ich
<lb n="22"/>will“ „ich werde thun“ und die eigentliche Entladung
<lb n="23"/>des Willens, seinen <hi rend="spaced">Akt</hi>, unbedenklich eine Welt von
<lb n="24"/>neuen fremden Dingen, Umständen, selbst Willensakten
<lb n="25"/>dazwischengelegt werden darf, ohne dass diese lange
<lb n="26"/>Kette des Willens springt. Was setzt das aber Alles
<lb n="27"/>voraus! Wie muss der Mensch, um dermaassen über
<lb n="28"/>die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben
<lb n="29"/>das nothwendige vom zufälligen Geschehen scheiden,
<lb n="30"/>causal denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und
<lb n="31"/>vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit
<lb n="32"/>Sicherheit ansetzen, überhaupt rechnen, berechnen
<lb n="33"/>können, – wie muss dazu der Mensch selbst vorerst
<pb n="43" facs="#E40_0064" xml:id="Ed_43_id"/>
<lb n="1"/><hi rend="spaced">berechenbar, regelmässig, nothwendig</hi> ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>worden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>lung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender
<lb n="4"/>thut, für sich <hi rend="spaced">als Zukunft</hi> gut sagen zu können!</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0202">
<head>
<lb n="5"/>2.</head>
<p>
<lb n="6" rend="indent"/>Eben das ist die lange Geschichte von der Herkunft
<lb n="7"/>der <hi rend="spaced">Verantwortlichkeit</hi>. Jene Aufgabe, ein Thier
<lb n="8"/>heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst, wie wir
<lb n="9"/>bereits begriffen haben, als Bedingung und Vorberei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>tung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst
<lb n="11"/>bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig,
<lb n="12"/>gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>rechenbar zu <hi rend="spaced">machen</hi>. Die ungeheure Arbeit dessen,
<lb n="14"/>was von mir „Sittlichkeit der Sitte“ genannt worden
<lb n="15"/>ist (vergl. Morgenröthe S. 7. 13. 16) – die eigentliche
<lb n="16"/>Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten
<lb n="17"/>Zeitdauer des Menschengeschlechts, seine ganze <hi rend="spaced">vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>historische</hi> Arbeit hat hierin ihren Sinn, ihre grosse
<lb n="19"/>Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei,
<lb n="20"/>Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt: der Mensch
<lb n="21"/>wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der so<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>cialen Zwangsjacke wirklich berechenbar <hi rend="spaced">gemacht</hi>.
<lb n="23"/>Stellen wir uns dagegen an’s Ende des ungeheuren
<lb n="24"/>Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte
<lb n="25"/>zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte
<lb n="26"/>endlich zu Tage bringt, <hi rend="spaced">wozu</hi> sie nur das Mittel war:
<lb n="27"/>so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das
<lb n="28"/><hi rend="spaced">souveraine Individuum</hi>, das nur sich selbst gleiche,
<lb n="29"/>das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene,
<lb n="30"/>das autonome übersittliche Individuum (denn „autonom“
<lb n="31"/>und „sittlich“ schliesst sich aus), kurz den Menschen
<lb n="32"/>des eignen unabhängigen langen Willens, der <hi rend="spaced">ver<pc force="weak">-</pc>
<pb n="44" facs="#E40_0065" xml:id="Ed_44_id"/>
<lb n="1"/>sprechen darf</hi> – und in ihm ein stolzes, in allen
<lb n="2"/>Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, <hi rend="spaced">was</hi> da endlich
<lb n="3"/>errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>liches Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Voll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>endungs-Gefühl des Menschen überhaupt. Dieser Frei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>gewordne, der wirklich versprechen <hi rend="spaced">darf</hi>, dieser Herr
<lb n="7"/>des <hi rend="spaced">freien</hi> Willens, dieser Souverain – wie sollte er
<lb n="8"/>es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor
<lb n="9"/>Allem voraus hat, was nicht versprechen und für sich
<lb n="10"/>selbst gut sagen darf, wie viel Vertrauen, wie viel
<lb n="11"/>Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt – er „<hi rend="spaced">verdient</hi>“
<lb n="12"/>alles Dreies – und wie ihm, mit dieser Herrschaft
<lb n="13"/>über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über
<lb n="14"/>die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässige<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>ren Creaturen nothwendig in die Hand gegeben ist? Der
<lb n="16"/>„freie“ Mensch, der Inhaber eines langen unzerbrech<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>lichen Willens, hat in diesem Besitz auch sein <hi rend="spaced">Werth<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>maass</hi>: von sich aus nach den Andern hinblickend,
<lb n="19"/>ehrt er oder verachtet er; und eben so nothwendig als
<lb n="20"/>er die ihm Gleichen, die Starken und Zuverlässigen
<lb n="21"/>(die welche versprechen <hi rend="spaced">dürfen</hi>) ehrt, – also Jeder<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>mann, der wie ein Souverain verspricht, schwer, selten,
<lb n="23"/>langsam, der mit seinem Vertrauen geizt, der <hi rend="spaced">aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>zeichnet</hi>, wenn er vertraut, der sein Wort giebt als
<lb n="25"/>Etwas, auf das Verlass ist, weil er sich stark genug
<lb n="26"/>weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst „gegen das
<lb n="27"/>Schicksal“ aufrecht zu halten –: eben so nothwendig
<lb n="28"/>wird er seinen Fusstritt für die schmächtigen Wind<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>hunde bereit halten, welche versprechen, ohne es zu
<lb n="30"/>dürfen, und seine Zuchtruthe für den Lügner, der sein
<lb n="31"/>Wort bricht, im Augenblick schon, wo er es im Munde
<lb n="32"/>hat. Das stolze Wissen um das ausserordentliche Pri<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>vilegium der <hi rend="spaced">Verantwortlichkeit</hi>, das Bewusstsein
<pb n="45" facs="#E40_0066" xml:id="Ed_45_id"/>
<lb n="1"/>dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und
<lb n="2"/>das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste
<lb n="3"/>Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum
<lb n="4"/>dominirenden Instinkt: – wie wird er ihn heissen,
<lb n="5"/>diesen dominirenden Instinkt, gesetzt, dass er ein Wort
<lb n="6"/>dafür bei sich nöthig hat? Aber es ist kein Zweifel:
<lb n="7"/>dieser souveraine Mensch heisst ihn sein <hi rend="spaced">Gewissen</hi>…
</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0203">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a22r"/>
<head>
<lb n="8"/>3.</head>
<p>
<lb n="9" rend="indent"/>Sein Gewissen?… Es lässt sich voraus errathen,
<lb n="10"/>dass der Begriff „Gewissen“, dem wir hier in seiner
<lb n="11"/>höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung begegnen,
<lb n="12"/>bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung
<lb n="13"/>hinter sich hat. Für sich gut sagen dürfen und mit
<lb n="14"/>Stolz, also auch zu sich <hi rend="spaced">Ja sagen dürfen</hi> – das ist,
<lb n="15"/>wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine <hi rend="spaced">späte</hi>
<lb n="16"/>Frucht: – wie lange musste diese Frucht herb und
<lb n="17"/>sauer am Baume hängen! Und eine noch viel längere
<lb n="18"/>Zeit war von einer solchen Frucht gar nichts zu sehn, –
<lb n="19"/>Niemand hätte sie versprechen dürfen, so gewiss auch
<lb n="20"/>Alles am Baume vorbereitet und gerade auf sie hin im
<lb n="21"/>Wachsen war! – „Wie macht man dem Menschen-Thiere
<lb n="22"/>ein Gedächtniss? Wie prägt man diesem theils stum<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>pfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leib<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>haften Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>wärtig bleibt?“… Dies uralte Problem ist, wie man
<lb n="26"/>denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und
<lb n="27"/>Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furcht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>barer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte
<lb n="29"/>des Menschen, als seine <hi rend="spaced">Memnotechnik</hi>. „Man brennt
<lb n="30"/>Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was
<lb n="31"/>nicht aufhört, <hi rend="spaced">weh zu thun</hi>, bleibt im Gedächtniss“ –
<lb n="32"/>das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider
<pb n="46" facs="#E40_0067" xml:id="Ed_46_id"/>
<lb n="1"/>auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte
<lb n="2"/>selbst sagen, dass es überall, wo es jetzt noch auf Erden
<lb n="3"/>Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, düstere Farben im
<lb n="4"/>Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der
<lb n="5"/>Schrecklichkeit <hi rend="spaced">nachwirkt</hi>, mit der ehemals überall
<lb n="6"/>auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist:
<lb n="7"/>die Vergangenheit, die längste tiefste härteste Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>gangenheit, haucht uns an und quillt in uns herauf,
<lb n="9"/>wenn wir „ernst“ werden. Es gieng niemals ohne Blut,
<lb n="10"/>Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt,
<lb n="11"/>sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten
<lb n="12"/>Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören),
<lb n="13"/>die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die
<lb n="14"/>Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller reli<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>giösen Culte (und alle Religionen sind auf dem unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>sten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das
<lb n="17"/>hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im
<lb n="18"/>Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Memnonik er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>rieth. In einem gewissen Sinne gehört die ganze As<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>ketik hierher: ein paar Ideen sollen unauslöschlich,
<lb n="21"/>allgegenwärtig, unvergessbar, „fix“ gemacht werden,
<lb n="22"/>zum Zweck der Hypnotisirung des ganzen nervösen
<lb n="23"/>und intellektuellen Systems durch diese „fixen Ideen“ –
<lb n="24"/>und die asketischen Prozeduren und Lebensformen sind
<lb n="25"/>Mittel dazu, um jene Ideen aus der Concurrenz mit allen
<lb n="26"/>übrigen Ideen zu lösen, um sie „unvergesslich“ zu machen.
<lb n="27"/>Je schlechter die Menschheit „bei Gedächtniss“ war, um
<lb n="28"/>so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche;
<lb n="29"/>die Härte der Strafgesetze giebt in Sonderheit einen
<lb n="30"/>Maassstab dafür ab, wie viel Mühe sie hatte, gegen die
<lb n="31"/>Vergesslichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar
<lb n="32"/>primitive Erfordernisse des socialen Zusammenlebens
<lb n="33"/>diesen Augenblicks-Sklaven des Affekts und der Be<pc force="weak">-</pc>
<pb n="47" facs="#E40_0068" xml:id="Ed_47_id"/>
<lb n="1"/>gierde <hi rend="spaced">gegenwärtig</hi> zu erhalten. Wir Deutschen be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>trachten uns gewiss nicht als ein besonders grausames
<lb n="3"/>und hartherziges Volk, noch weniger als besonders
<lb n="4"/>leichtfertig und in-den-Tag-hineinleberisch; aber man
<lb n="5"/>sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um dahinter
<lb n="6"/>zu kommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein „Volk
<lb n="7"/>von Denkern“ heranzuzüchten (will sagen: <hi rend="spaced">das</hi> Volk
<lb n="8"/>Europa’s, unter dem auch heute noch das Maximum
<lb n="9"/>von Zutrauen, Ernst, Geschmacklosigkeit und Sachlich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>keit zu finden ist und das mit diesen Eigenschaften
<lb n="11"/>ein Anrecht darauf hat, alle Art von Mandarinen Euro<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>pa’s heran zu züchten). Diese Deutschen haben sich
<lb n="13"/>mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtniss gemacht, um
<lb n="14"/>über ihre pöbelhaften Grund-Instinkte und deren bru<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>tale Plumpheit Herr zu werden: man denke an die
<lb n="16"/>alten deutschen Strafen, zum Beispiel an das Steinigen
<lb n="17"/>(– schon die Sage lässt den Mühlstein auf das Haupt
<lb n="18"/>des Schuldigen fallen), das Rädern (die eigenste Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>findung und Spezialität des deutschen Genius im Reich
<lb n="20"/>der Strafe!), das Werfen mit dem Pfahle, das Zerreissen-
<lb n="21"/>oder Zertretenlassen durch Pferde (das „Viertheilen“),
<lb n="22"/>das <milestone unit="page" source="#Dm" n="a23r"/>Sieden des Verbrechers in Öl oder Wein (noch im
<lb n="23"/>vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert), das beliebte
<lb n="24"/>Schinden („Riemenschneiden“), das Herausschneiden
<lb n="25"/>des Fleisches aus der Brust; auch wohl dass man den
<lb n="26"/>Übelthäter mit Honig bestrich und bei brennender
<lb n="27"/>Sonne den Fliegen überliess. Mit Hülfe solcher Bilder
<lb n="28"/>und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs „ich will
<lb n="29"/>nicht“ im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein
<lb n="30"/><hi rend="spaced">Versprechen</hi> gegeben hat, um unter den Vortheilen
<lb n="31"/>der Societät zu leben, – und wirklich! mit Hülfe dieser
<lb n="32"/>Art von Gedächtniss kam man endlich „zur Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>nunft“! – Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft
<pb n="48" facs="#E40_0069" xml:id="Ed_48_id"/>
<lb n="1"/>über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche
<lb n="2"/>Nachdenken heisst, alle diese Vorrechte und Prunk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>stücke des Menschen: wie theuer haben sie sich be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>zahlt gemacht! wie viel Blut und Grausen ist auf dem
<lb n="5"/>Grunde aller „guten Dinge“!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0204">
<head>
<lb n="6"/>4.</head>
<p>
<lb n="7" rend="indent"/>Aber wie ist denn jene andre „düstre Sache“, das
<lb n="8"/>Bewusstsein der Schuld, das ganze „schlechte Gewissen“
<lb n="9"/>auf die Welt gekommen? – Und hiermit kehren wir zu
<lb n="10"/>unsern Genealogen der Moral zurück. Nochmals ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>sagt – oder habe ich’s noch gar nicht gesagt? – sie
<lb n="12"/>taugen nichts. Eine fünf Spannen lange eigne, bloss
<lb n="13"/>„moderne“ Erfahrung; kein Wissen, kein Wille zum
<lb n="14"/>Wissen des Vergangnen; noch weniger ein historischer
<lb n="15"/>Instinkt, ein hier gerade nöthiges „zweites Gesicht“ –
<lb n="16"/>und dennoch Geschichte der Moral treiben: das muss
<lb n="17"/>billigerweise mit Ergebnissen enden, die zur Wahrheit
<lb n="18"/>in einem nicht bloss spröden Verhältnisse stehn. Haben
<lb n="19"/>sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur
<lb n="20"/>von Ferne Etwas davon träumen lassen, dass zum Bei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>spiel jener moralische Hauptbegriff „Schuld“ seine Her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>kunft aus dem sehr materiellen Begriff „Schulden“ ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>nommen hat? Oder dass die Strafe als eine <hi rend="spaced">Vergel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>tung</hi> sich vollkommen abseits von jeder Voraussetzung
<lb n="25"/>über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwickelt
<lb n="26"/>hat? – und dies bis zu dem Grade, dass es vielmehr
<lb n="27"/>immer erst einer <hi rend="spaced">hohen</hi> Stufe der Vermenschlichung
<lb n="28"/>bedarf, damit das Thier „Mensch“ anfängt, jene viel
<lb n="29"/>primitiveren Unterscheidungen „absichtlich“ „fahrläs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>sig“ „zufällig“ „zurechnungsfähig“ und deren Gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>sätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in
<lb n="32"/>Anschlag zu bringen. Jener jetzt so wohlfeile und <anchor xml:id="Bogen3End"/><milestone xml:id="Bogen4" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen4End"/>
<pb n="49" facs="#E40_0070" xml:id="Ed_49_id"/>
<lb n="1"/>scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke, der
<lb n="2"/>wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>keitsgefühl auf Erden zu Stande gekommen ist, hat
<lb n="4"/>herhalten müssen, „der Verbrecher verdient Strafe,
<lb n="5"/><hi rend="spaced">weil</hi> er hätte anders handeln können“ ist thatsächlich
<lb n="6"/>eine überaus spät erreichte, ja raffinirte Form des
<lb n="7"/>menschlichen Urtheilens und Schliessens; wer sie in
<lb n="8"/>die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben Fingern
<lb n="9"/>an der Psychologie der älteren Menschheit. Es ist die
<lb n="10"/>längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>aus <hi rend="spaced">nicht</hi> gestraft worden, <hi rend="spaced">weil</hi> man den Übelanstifter
<lb n="12"/>für seine That verantwortlich machte, also <hi rend="spaced">nicht</hi> unter
<lb n="13"/>der Voraussetzung, dass nur der Schuldige zu strafen
<lb n="14"/>sei: – vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder
<lb n="15"/>strafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden, der
<lb n="16"/>sich am Schädiger auslässt, – dieser Zorn aber in
<lb n="17"/>Schranken gehalten und modifizirt durch die Idee, dass
<lb n="18"/>jeder Schaden irgend worin sein <hi rend="spaced">Äquivalent</hi> habe und
<lb n="19"/>wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch
<lb n="20"/>einen <hi rend="spaced">Schmerz</hi> des Schädigers. Woher diese uralte,
<lb n="21"/>tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare
<lb n="22"/>Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äqui<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>valenz von Schaden und Schmerz? Ich habe es bereits
<lb n="24"/>verrathen: in dem Vertragsverhältniss zwischen <hi rend="spaced">Gläu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>biger</hi> und <hi rend="spaced">Schuldner</hi>, das so alt ist als es über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>haupt „Rechtssubjekte“ giebt und seinerseits wieder
<lb n="27"/>auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch,
<lb n="28"/>Handel und Wandel zurückweist.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0205">
<head>
<lb n="29"/>5.</head>
<p>
<lb n="30" rend="indent"/>Die Vergegenwärtigung dieser Vertragsverhältnisse
<lb n="31"/>weckt allerdings, wie es nach dem Voraus-Bemerkten
<lb n="32"/>von vornherein zu erwarten steht, gegen die ältere
<pb n="50" facs="#E40_0071" xml:id="Ed_50_id"/>
<lb n="1"/>Menschheit, die sie schuf oder gestattete, mancherlei
<lb n="2"/>Verdacht und Widerstand. Hier gerade wird <hi rend="spaced">ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>sprochen</hi>; hier gerade handelt es sich darum, Dem,
<lb n="4"/>der verspricht, ein Gedächtniss zu <hi rend="spaced">machen</hi>; hier ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>rade, so darf man argwöhnen, wird eine Fundstätte für
<lb n="6"/>Hartes, Grausames, Peinliches sein. Der Schuldner,
<lb n="7"/>um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung
<lb n="8"/>einzuflössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die
<lb n="9"/>Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich
<lb n="10"/>selbst die Zurückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung
<lb n="11"/>seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet Kraft eines
<lb n="12"/>Vertrags dem Gläubiger für den Fall, dass er nicht
<lb n="13"/>zahlt, Etwas, das er sonst <milestone unit="page" source="#Dm" n="a24r"/>noch „besitzt“, über das er
<lb n="14"/>sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib oder
<lb n="15"/>sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben
<lb n="16"/>(oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen,
<lb n="17"/>selbst seine Seligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar den
<lb n="18"/>Frieden im Grabe: so in Ägypten, wo der Leichnam
<lb n="19"/>des Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine
<lb n="20"/>Ruhe fand, – es hatte allerdings gerade bei den Ägyp<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>tern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe). Nament<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>lich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuld<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>ners alle Arten Schmach und Folter anthun, zum
<lb n="24"/>Beispiel so viel davon herunterschneiden als der Grösse
<lb n="25"/>der Schuld angemessen schien: – und es gab früh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>zeitig und überall von diesem Gesichtspunkte aus ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>naue, zum Theil entsetzlich in’s Kleine und Kleinste
<lb n="28"/>gehende Abschätzungen, <hi rend="spaced">zu Recht</hi> bestehende Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>schätzungen der einzelnen Glieder und Körperstellen.
<lb n="30"/>Ich nehme es bereits als Fortschritt, als Beweis freierer,
<lb n="31"/>grösser rechnender, <hi rend="spaced">römischerer</hi> Rechtsauffassung,
<lb n="32"/>wenn die Zwölftafel-Gesetzgebung Rom’s dekretierte, es
<lb n="33"/>sei gleichgültig, wie viel oder wie wenig die Gläubiger
<pb n="51" facs="#E40_0072" xml:id="Ed_51_id"/>
<lb n="1"/>in einem solchen Falle herunterschnitten „si plus mi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>nusve secuerunt, se fraude esto“. Machen wir uns die
<lb n="3"/>Logik dieser ganzen Ausgleichungsform klar: sie ist
<lb n="4"/>fremdartig genug. Die Äquivalenz ist damit gegeben,
<lb n="5"/>dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt auf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>kommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs
<lb n="7"/>in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>biger eine Art <hi rend="spaced">Wohlgefühl</hi> als Rückzahlung und Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>gleich zugestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht
<lb n="10"/>an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen,
<lb n="11"/>die Wollust „de faire le mal pour le plaisir de le faire“,
<lb n="12"/>der Genuss in der Vergewaltigung: als welcher Genuss
<lb n="13"/>um so höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der
<lb n="14"/>Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft <choice><orig>steht</orig><corr source="#KGW #KSA">steht,</corr></choice> und
<lb n="15"/>leicht ihm als köstlichster Bissen, ja als Vorgeschmack
<lb n="16"/>eines höheren Rangs erscheinen kann. Vermittelst der
<lb n="17"/>„Strafe“ am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem
<lb n="18"/><hi rend="spaced">Herren-Rechte</hi> theil: endlich kommt auch er ein Mal
<lb n="19"/>zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein „Unter-
<lb n="20"/>sich“ verachten und misshandeln zu dürfen – oder
<lb n="21"/>wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der
<lb n="22"/>Strafvollzug schon an die „Obrigkeit“ übergegangen
<lb n="23"/>ist, es verachtet und misshandelt zu <hi rend="spaced">sehen</hi>. Der Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>gleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf
<lb n="25"/>Grausamkeit. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0206">
<head>
<lb n="26"/>6.</head>
<p>
<lb n="27" rend="indent"/>In <hi rend="spaced">dieser</hi> Sphäre, im Obligationen-Rechte also,
<lb n="28"/>hat die moralische Begriffswelt „Schuld“, „Gewissen“,
<lb n="29"/>„Pflicht“, „Heiligkeit der Pflicht“ ihren Entstehungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>heerd, – ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen
<lb n="31"/>auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen
<lb n="32"/>worden. Und dürfte man nicht hinzufügen, dass jene
<lb n="33"/>Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und
<pb n="52" facs="#E40_0073" xml:id="Ed_52_id"/>
<lb n="1"/>Folter niemals wieder ganz eingebüsst habe? (selbst
<lb n="2"/>beim alten Kant nicht: der kategorische Imperativ
<lb n="3"/>riecht nach Grausamkeit…) Hier ebenfalls ist jene
<lb n="4"/>unheimliche und vielleicht unlösbar gewordne Ideen-
<lb n="5"/>Verhäkelung „Schuld und Leid“ zuerst eingehäkelt
<lb n="6"/>worden. Nochmals gefragt: in wiefern kann Leiden
<lb n="7"/>eine Ausgleichung von „Schulden“ sein? Insofern
<lb n="8"/>Leiden-<hi rend="spaced">machen</hi> im höchsten Grade wohl that, insofern
<lb n="9"/>der Geschädigte für den Nachtheil, hinzugerechnet die
<lb n="10"/>Unlust über den Nachtheil, einen ausserordentlichen
<lb n="11"/>Gegen-Genuss eintauschte: das Leiden-<hi rend="spaced">machen</hi>, –
<lb n="12"/>ein eigentliches <hi rend="spaced">Fest</hi>, Etwas, das, wie gesagt, um
<lb n="13"/>so höher im Preise stand, je mehr es dem Range und
<lb n="14"/>der gesellschaftlichen Stellung des Gläubigers wider<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>sprach. Dies vermuthungsweise gesprochen: denn sol<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>chen unterirdischen Dingen ist schwer auf den Grund
<lb n="17"/>zu sehn, abgesehn davon, dass es peinlich ist; und
<lb n="18"/>wer hier den Begriff der „Rache“ plump dazwischen
<lb n="19"/>wirft, hat sich den Einblick eher noch verdeckt und
<lb n="20"/>verdunkelt, als leichter gemacht (– Rache selbst führt
<lb n="21"/>ja eben auf das gleiche Problem zurück: „wie kann
<lb n="22"/>Leiden-machen eine Genugthuung sein?“) Es widersteht,
<lb n="23"/>wie mir scheint, der Delikatesse, noch mehr der Tar<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>tüfferie zahmer Hausthiere (will sagen moderner Men<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>schen, will sagen uns), es sich in aller Kraft vorstellig
<lb n="26"/>zu machen, bis zu welchem Grade die <hi rend="spaced">Grausamkeit</hi>
<lb n="27"/>die grosse Festfreude der älteren Menschheit aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>macht, ja als Ingredienz fast jeder ihrer Freuden zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>gemischt ist; wie naiv andrerseits, wie unschuldig ihr
<lb n="30"/>Bedürfniss nach Grausamkeit auftritt, wie grundsätzlich
<lb n="31"/>gerade die „uninteressirte Bosheit“ (oder, mit Spinoza
<lb n="32"/>zu reden, die sympathia malevolens) von ihr als <hi rend="spaced">nor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>male</hi> Eigenschaft des Menschen angesetzt wird –:
<pb n="53" facs="#E40_0074" xml:id="Ed_53_id"/>
<lb n="1"/>somit als Etwas, zu dem das Gewissen herzhaft <hi rend="spaced">Ja</hi> sagt!
<lb n="2"/>Für ein tieferes Auge wäre vielleicht auch jetzt noch
<lb n="3"/>genug von dieser ältesten und gründlichsten Festfreude
<lb n="4"/>des Menschen wahrzunehmen; in „Jenseits von Gut und
<lb n="5"/>Böse“ S. 117 ff. (früher schon in der „Morgenröthe“
<lb n="6"/>S. 17. 68. 102) habe ich mit vorsichtigem Finger auf
<lb n="7"/>die immer wachsende Vergeistigung und <milestone unit="page" source="#Dm" n="a25r"/>„Vergött<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>lichung“ der Grausamkeit hingezeigt, welche sich durch
<lb n="9"/>die ganze Geschichte der höheren Cultur hindurchzieht
<lb n="10"/>(und, in einem bedeutenden Sinne genommen, sie sogar
<lb n="11"/>ausmacht). Jedenfalls ist es noch nicht zu lange her, dass
<lb n="12"/>man sich fürstliche Hochzeiten und Volksfeste grössten
<lb n="13"/>Stils ohne Hinrichtungen, Folterungen oder etwa ein
<lb n="14"/>Autodafé nicht zu denken wusste, insgleichen keinen
<lb n="15"/>vornehmen Haushalt ohne Wesen, an denen man unbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>denklich seine Bosheit und grausame Neckerei aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>lassen konnte (– man erinnere sich etwa Don Quixote’s
<lb n="18"/>am Hofe der Herzogin: wir lesen heute den ganzen
<lb n="19"/>Don Quixote mit einem bittren Geschmack auf der Zunge,
<lb n="20"/>fast mit einer Tortur und würden damit seinem Urheber
<lb n="21"/>und dessen Zeitgenossen sehr fremd, sehr dunkel sein, –
<lb n="22"/>sie lasen ihn mit allerbestem Gewissen als das heiterste
<lb n="23"/>der Bücher, sie lachten sich an ihm fast zu Tod).
<lb n="24"/>Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler –
<lb n="25"/>das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger mensch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>lich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>leicht auch schon die Affen unterschreiben würden:
<lb n="28"/>denn man erzählt, dass sie im Ausdenken von bizarren
<lb n="29"/>Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankün<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>digen und gleichsam „vorspielen“. Ohne Grausamkeit
<lb n="31"/>kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte
<lb n="32"/>des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel
<lb n="33"/><hi rend="spaced">Festliches</hi>! –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0207">
<pb n="54" facs="#E40_0075" xml:id="Ed_54_id"/>
<head>
<lb n="1"/>7.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>– Mit diesen Gedanken, nebenbei gesagt, bin ich
<lb n="3"/>durchaus nicht Willens, unsren Pessimisten zu neuem
<lb n="4"/>Wasser auf ihre misstönigen und knarrenden Mühlen
<lb n="5"/>des Lebensüberdrusses zu verhelfen; im Gegentheil soll
<lb n="6"/>ausdrücklich bezeugt sein, dass damals, als die Mensch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>heit sich ihrer Grausamkeit noch nicht schämte, das
<lb n="8"/>Leben heiterer auf Erden war als jetzt, wo es Pessi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>misten giebt. Die Verdüsterung des Himmels über dem
<lb n="10"/>Menschen hat immer im Verhältniss dazu überhand
<lb n="11"/>genommen, als die Scham des Menschen <hi rend="spaced">vor dem
<lb n="12"/>Menschen</hi> gewachsen ist. Der müde pessimistische
<lb n="13"/>Blick, das Misstrauen zum Räthsel des Lebens, das
<lb n="14"/>eisige Nein des Ekels am Leben – das sind nicht die
<lb n="15"/>Abzeichen der <hi rend="spaced">bösesten</hi> Zeitalter des Menschen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>geschlechts: sie treten vielmehr erst an das Tageslicht,
<lb n="17"/>als die Sumpfpflanzen, die sie sind, wenn der Sumpf
<lb n="18"/>da ist, zu dem sie gehören, – ich meine die krankhafte
<lb n="19"/>Verzärtlichung und Vermoralisirung, vermöge deren
<lb n="20"/>das Gethier „Mensch“ sich schliesslich aller seiner In<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>stinkte schämen lernt. Auf dem Wege zum „Engel“
<lb n="22"/>(um hier nicht ein härteres Wort zu gebrauchen) hat
<lb n="23"/>sich der Mensch jenen verdorbenen Magen und jene
<lb n="24"/>belegte Zunge angezüchtet, durch die ihm nicht nur die
<lb n="25"/>Freude und Unschuld des Thiers widerlich, sondern
<lb n="26"/>das Leben selbst unschmackhaft geworden ist: – so
<lb n="27"/>dass er mitunter vor sich selbst mit zugehaltener Nase
<lb n="28"/>dasteht und mit Papst Innocenz dem Dritten miss<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>billigend den Katalog seiner Widerwärtigkeiten macht
<lb n="30"/>(„unreine Erzeugung, ekelhafte Ernährung im Mutter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>leibe, Schlechtigkeit des Stoffs, aus dem der Mensch
<lb n="32"/>sich entwickelt, scheusslicher Gestank, Absonderung
<pb n="55" facs="#E40_0076" xml:id="Ed_55_id"/>
<lb n="1"/>von Speichel, Urin und Koth“). Jetzt, wo das Leiden
<lb n="2"/>immer als erstes unter den Argumenten <hi rend="spaced">gegen</hi> das
<lb n="3"/>Dasein aufmarschieren muss, als dessen schlimmstes
<lb n="4"/>Fragezeichen, thut man gut, sich der Zeiten zu er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>innern, wo man umgekehrt urtheilte, weil man das
<lb n="6"/>Leiden-<hi rend="spaced">machen</hi> nicht entbehren mochte und in ihm
<lb n="7"/>einen Zauber ersten Rangs, einen eigentlichen Verfüh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>rungs-Köder <hi rend="spaced">zum</hi> Leben sah. Vielleicht that damals
<lb n="9"/>– den Zärtlingen zum Trost gesagt – der Schmerz
<lb n="10"/>noch nicht so weh wie heute; wenigstens wird ein Arzt
<lb n="11"/>so schliessen dürfen, der Neger (diese als Repräsen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>tanten des vorgeschichtlichen Menschen genommen –)
<lb n="13"/>bei schweren inneren Entzündungsfällen behandelt hat,
<lb n="14"/>welche auch den bestorganisirten Europäer fast zur
<lb n="15"/>Verzweiflung bringen; – bei Negern thun sie dies <hi rend="spaced">nicht</hi>.
<lb n="16"/>(Die Curve der menschlichen Schmerzfähigkeit scheint
<lb n="17"/>in der That ausserordentlich und fast plötzlich zu sinken,
<lb n="18"/>sobald man erst die oberen Zehn-Tausend oder Zehn-
<lb n="19"/>Millionen der Übercultur hinter sich hat; und ich für
<lb n="20"/>meine Person zweifle nicht, dass, gegen Eine schmerz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>hafte Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weib<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>chens gehalten, die Leiden aller Thiere insgesammt,
<lb n="23"/>welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher Ant<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>worten mit dem Messer befragt worden sind, einfach
<lb n="25"/>nicht in Betracht kommen.) Vielleicht ist es sogar er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>laubt, die Möglichkeit zuzulassen, dass auch jene Lust
<lb n="27"/>an der Grausamkeit eigentlich nicht ausgestorben zu
<lb n="28"/>sein brauchte: nur bedürfte sie, im Verhältniss dazu,
<lb n="29"/>wie heute der Schmerz mehr weh thut, einer gewissen
<lb n="30"/>Sublimirung und Subtilisirung, sie müsste namentlich
<lb n="31"/>in’s Imaginative und <milestone unit="page" source="#Dm" n="a26r"/>Seelische übersetzt auftreten und
<lb n="32"/>geschmückt mit lauter so unbedenklichen Namen, dass
<lb n="33"/>von ihnen her auch dem zartesten hypokritischen Ge<pc force="weak">-</pc>
<pb n="56" facs="#E40_0077" xml:id="Ed_56_id"/>
<lb n="1"/>wissen kein Verdacht kommt (das „tragische Mitleiden“
<lb n="2"/>ist ein solcher Name; ein andrer ist „les nostalgies de
<lb n="3"/>la croix“). Was eigentlich gegen das Leiden empört,
<lb n="4"/>ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des
<lb n="5"/>Leidens: aber weder für den Christen, der in das Leiden
<lb n="6"/>eine ganze geheime Heils-Maschinerie hineininterpretirt
<lb n="7"/>hat, noch für den naiven Menschen älterer Zeiten, der
<lb n="8"/>alles Leiden sich in Hinsicht auf Zuschauer oder auf
<lb n="9"/>Leiden-Macher auszulegen verstand, gab es überhaupt
<lb n="10"/>ein solches <hi rend="spaced">sinnloses</hi> Leiden. Damit das verborgne,
<lb n="11"/>unentdeckte, zeugenlose Leiden aus der Welt geschafft
<lb n="12"/>und ehrlich negirt werden konnte, war man damals
<lb n="13"/>beinahe dazu genöthigt, Götter zu erfinden und Zwischen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>wesen aller Höhe und Tiefe, kurz Etwas, das auch im
<lb n="15"/>Verborgnen schweift, das auch im Dunklen sieht
<lb n="16"/>und das sich nicht leicht ein interessantes schmerz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>haftes Schauspiel entgehen lässt. Mit Hülfe solcher
<lb n="18"/>Erfindungen nämlich verstand sich damals das Leben
<lb n="19"/>auf das Kunststück, auf das es sich immer verstanden
<lb n="20"/>hat, sich selbst zu rechtfertigen, sein „Übel“ zu recht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>fertigen; jetzt bedürfte es vielleicht dazu andrer Hülfs-
<lb n="22"/>Erfindungen (zum Beispiel Leben als Räthsel, Leben
<lb n="23"/>als Erkenntnissproblem). „Jedes Übel ist gerechtfertigt,
<lb n="24"/>an dessen Anblick ein Gott sich erbaut“: so klang die
<lb n="25"/>vorzeitliche Logik des Gefühls – und wirklich, war es
<lb n="26"/>nur die vorzeitliche? Die Götter als Freunde <hi rend="spaced">grau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>samer</hi> Schauspiele gedacht – oh wie weit ragt diese
<lb n="28"/>uralte Vorstellung selbst noch in unsre europäische
<lb n="29"/>Vermenschlichung hinein! man mag hierüber etwa mit
<lb n="30"/>Calvin und Luther zu Rathe gehn. Gewiss ist jeden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>falls, dass noch die <hi rend="spaced">Griechen</hi> ihren Göttern keine an<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>genehmere Zukost zu ihrem Glücke zu bieten wussten,
<lb n="33"/>als die Freuden der Grausamkeit. Mit welchen Augen
<pb n="57" facs="#E40_0078" xml:id="Ed_57_id"/>
<lb n="1"/>glaubt ihr denn, dass Homer seine Götter auf die
<lb n="2"/>Schicksale der Menschen niederblicken liess? Welchen
<lb n="3"/>letzten Sinn hatten im Grunde trojanische Kriege und
<lb n="4"/>ähnliche tragische Furchtbarkeiten? Man kann gar
<lb n="5"/>nicht daran zweifeln: sie waren als <hi rend="spaced">Festspiele</hi> für die
<lb n="6"/>Götter gemeint: und, insofern der Dichter darin mehr
<lb n="7"/>als die übrigen Menschen „göttlich“ geartet ist, wohl
<lb n="8"/>auch als Festspiele für die Dichter… Nicht anders dach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>ten sich später die Moral-Philosophen Griechenlands die
<lb n="10"/>Augen Gottes noch auf das moralische Ringen, auf den
<lb n="11"/>Heroismus und die Selbstquälerei des Tugendhaften
<lb n="12"/>herabblicken: der „Herakles der Pflicht“ war auf einer
<lb n="13"/>Bühne, er wusste sich auch darauf; die Tugend ohne
<lb n="14"/>Zeugen war für dies Schauspieler-Volk etwas ganz Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>denkbares. Sollte nicht jene so verwegene, so verhäng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>nissvolle Philosophen-Erfindung, welche damals zuerst
<lb n="17"/>für Europa gemacht wurde, die vom „freien Willen“,
<lb n="18"/>von der absoluten Spontaneität des Menschen im Guten
<lb n="19"/>und im Bösen, nicht vor Allem gemacht sein, um sich
<lb n="20"/>ein Recht zu der Vorstellung zu schaffen, dass das
<lb n="21"/>Interesse der Götter am Menschen, an der menschlichen
<lb n="22"/>Tugend <hi rend="spaced">sich nie erschöpfen könne</hi>? Auf dieser
<lb n="23"/>Erden-Bühne sollte es niemals an wirklich Neuem, an
<lb n="24"/>wirklich unerhörten Spannungen, Verwicklungen, Ka<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>tastrophen gebrechen: eine vollkommen deterministisch
<lb n="26"/>gedachte Welt würde für Götter errathbar und folglich
<lb n="27"/>in Kürze auch ermüdend gewesen sein, – Grund ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>nug für diese <hi rend="spaced">Freunde der Götter</hi>, die Philosophen,
<lb n="29"/>ihren Göttern eine solche deterministische Welt nicht
<lb n="30"/>zuzumuthen! Die ganze antike Menschheit ist voll von
<lb n="31"/>zarten Rücksichten auf „den Zuschauer“, als eine we<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>sentlich öffentliche, wesentlich augenfällige Welt, die
<lb n="33"/>sich das Glück nicht ohne Schauspiele und Feste zu
<pb n="58" facs="#E40_0079" xml:id="Ed_58_id"/>
<lb n="1"/>denken wusste. – Und, wie schon gesagt, auch an der
<lb n="2"/>grossen <hi rend="spaced">Strafe</hi> ist so viel Festliches!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0208">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a27r"/>
<head>
<lb n="3"/>8.</head>
<p>
<lb n="4" rend="indent"/>Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>tung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder auf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>zunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem
<lb n="7"/>ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss,
<lb n="8"/>das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen
<lb n="9"/>Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier
<lb n="10"/>trat zuerst Person gegen Person, hier <hi rend="spaced">mass sich</hi> zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>erst Person an Person. Man hat keinen noch so
<lb n="12"/>niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht
<lb n="13"/>schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde.
<lb n="14"/>Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>denken, tauschen – das hat in einem solchen Maasse
<lb n="16"/>das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass
<lb n="17"/>es in einem gewissen Sinne <hi rend="spaced">das</hi> Denken ist: hier ist
<lb n="18"/>die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier
<lb n="19"/>möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen
<lb n="20"/>Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls in Hinsicht auf anderes
<lb n="21"/>Gethier zu vermuthen sein. Vielleicht drückt noch
<lb n="22"/>unser Wort „Mensch“ (manas) gerade etwas von <hi rend="spaced">diesem</hi>
<lb n="23"/>Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnete sich als das
<lb n="24"/>Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als
<lb n="25"/>das „abschätzende Thier an sich“. Kauf und Verkauf,
<lb n="26"/>sammt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als
<lb n="27"/>selbst die Anfänge irgend welcher gesellschaftlichen Or<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>ganisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten
<lb n="29"/>Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das kei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>mende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht,
<lb n="31"/>Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und an<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>fänglichsten Gemeinschafts-Complexe (in deren Ver<pc force="weak">-</pc>
<pb n="59" facs="#E40_0080" xml:id="Ed_59_id"/>
<lb n="1"/>hältniss zu ähnlichen Complexen) <hi rend="spaced">übertragen</hi>, zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>gleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>gleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war
<lb n="4"/>nun einmal für diese Perspektive eingestellt: und mit
<lb n="5"/>jener plumpen Consequenz, die dem schwerbeweg<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>lichen, aber dann unerbittlich in gleicher Richtung
<lb n="7"/>weitergehenden Denken der älteren Menschheit eigen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>thümlich ist, langte man alsbald bei der grossen Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>allgemeinerung an „jedes Ding hat seinen Preis; <hi rend="spaced">Alles</hi>
<lb n="10"/>kann abgezahlt werden“ – dem ältesten und naivsten
<lb n="11"/>Moral-Kanon der <hi rend="spaced">Gerechtigkeit</hi>, dem Anfange aller
<lb n="12"/>„Gutmüthigkeit“, aller „Billigkeit“, alles „guten Willens“,
<lb n="13"/>aller „Objektivität“ auf Erden. Gerechtigkeit auf dieser
<lb n="14"/>ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>mächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch
<lb n="16"/>einen Ausgleich wieder zu „verständigen“ – und, in
<lb n="17"/>Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem
<lb n="18"/>Ausgleich zu <hi rend="spaced">zwingen</hi>. –
</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0209">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a28r"/>
<head>
<lb n="19"/>9.</head>
<p>
<lb n="20" rend="indent"/>Immer mit dem Maasse der Vorzeit gemessen
<lb n="21"/>(welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder
<lb n="22"/>wieder möglich ist): so steht auch das Gemeinwesen
<lb n="23"/>zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhält<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>nisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern. Man
<lb n="25"/>lebt in einem Gemeinwesen, man geniesst die Vortheile
<lb n="26"/>eines Gemeinwesens (oh was für Vortheile! wir unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>schätzen es heute mitunter), man wohnt geschützt, ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>schont, im Frieden und Vertrauen, sorglos in Hinsicht
<lb n="29"/>auf gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten, denen
<lb n="30"/>der Mensch <hi rend="spaced">ausserhalb</hi>, der „Friedlose“, ausgesetzt ist
<lb n="31"/>– ein Deutscher versteht, was „Elend“, êlend ursprüng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>lich besagen will –, wie man sich gerade in Hinsicht
<pb n="60" facs="#E40_0081" xml:id="Ed_60_id"/>
<lb n="1"/>auf diese Schädigungen und Feindseligkeiten der Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>meinde verpfändet und verpflichtet hat. Was wird <hi rend="spaced">im
<lb n="3"/>andren Fall</hi> geschehn? Die Gemeinschaft, der ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>täuschte Gläubiger, wird sich bezahlt machen, so gut
<lb n="5"/>er kann, darauf darf man rechnen. Es handelt sich
<lb n="6"/>hier am wenigsten um den unmittelbaren Schaden, den
<lb n="7"/>der Schädiger angestiftet hat: von ihm noch abgesehn,
<lb n="8"/>ist der Verbrecher vor allem ein „Brecher“, ein Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>trags- und Wortbrüchiger <hi rend="spaced">gegen das Ganze</hi>, in Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>zug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>lebens, an denen er bis dahin Antheil gehabt hat. Der
<lb n="12"/>Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen
<lb n="13"/>Vortheile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt,
<lb n="14"/>sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift: daher
<lb n="15"/>geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser
<lb n="16"/>Güter und Vortheile verlustig, – er wird vielmehr jetzt
<lb n="17"/>daran erinnert, <hi rend="spaced">was es mit diesen Gütern auf sich
<lb n="18"/>hat</hi>. Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>meinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>stande wieder zurück, vor dem er bisher behütet war:
<lb n="21"/>es stösst ihn von sich, – und nun darf sich jede Art
<lb n="22"/>Feindseligkeit an ihm auslassen. Die „Strafe“ ist auf
<lb n="23"/>dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild, der
<lb n="24"/><hi rend="spaced">Mimus</hi> des normalen Verhaltens gegen den gehassten,
<lb n="25"/>wehrlos gemachten, niedergeworfnen Feind, der nicht
<lb n="26"/>nur jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder
<lb n="27"/>Gnade verlustig gegangen ist; also das Kriegsrecht
<lb n="28"/>und Siegesfest des vae victis! in aller Schonungslosig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>keit und Grausamkeit: – woraus es sich erklärt, dass
<lb n="30"/>der Krieg selbst (eingerechnet der kriegerische Opfer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>kult) alle die <hi rend="spaced">Formen</hi> hergegeben hat, unter denen die
<lb n="32"/>Strafe in der Geschichte auftritt.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0210">
<pb n="61" facs="#E40_0082" xml:id="Ed_61_id"/>
<head>
<lb n="1"/>10.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen
<lb n="3"/>die Vergehungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig,
<lb n="4"/>weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maasse wie früher
<lb n="5"/>für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und um<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>stürzend gelten dürfen: der Übelthäter wird nicht mehr
<lb n="7"/>„friedlos gelegt“ und ausgestossen, der allgemeine Zorn
<lb n="8"/>darf sich nicht mehr wie früher dermaassen zügellos
<lb n="9"/>an ihm auslassen, – vielmehr wird von nun an der
<lb n="10"/>Übelthäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>mittelbar Geschädigten, vorsichtig von Seiten des
<lb n="12"/>Ganzen vertheidigt und in Schutz genommen. Der
<lb n="13"/>Compromiss mit dem Zorn der zunächst durch die Übel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>that Betroffenen; ein Bemühen darum, den Fall zu loka<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>lisiren und einer weiteren oder gar allgemeinen Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>theiligung und Beunruhigung vorzubeugen; Versuche,
<lb n="17"/>Äquivalente zu finden und den ganzen Handel beizu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>legen (die compositio); vor allem der immer bestimmter
<lb n="19"/>auftretende Wille, jedes Vergehn als in irgend einem
<lb n="20"/>Sinne <hi rend="spaced">abzahlbar</hi> zu nehmen, also, wenigstens bis zu
<lb n="21"/>einem gewissen Maasse, den Verbrecher und seine That
<lb n="22"/>von einander zu <hi rend="spaced">isoliren</hi> – das sind die Züge, die
<lb n="23"/>der ferneren Entwicklung des Strafrechts immer deut<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>licher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das
<lb n="25"/>Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich
<lb n="26"/>immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere
<lb n="27"/>Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen
<lb n="28"/>wieder an’s Licht. Der „Gläubiger“ ist immer in dem
<lb n="29"/>Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden
<lb n="30"/>ist; zuletzt ist es selbst das <hi rend="spaced">Maass</hi> seines Reichthums,
<lb n="31"/>wie viel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran
<lb n="32"/>zu leiden. Es wäre ein <hi rend="spaced">Machtbewusstsein</hi> der Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>sellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vor<pc force="weak">-</pc>
<pb n="62" facs="#E40_0083" xml:id="Ed_62_id"/>
<lb n="1"/>nehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, –
<lb n="2"/>ihren Schädiger <hi rend="spaced">straflos</hi> zu lassen. „Was gehen mich
<lb n="3"/>eigentlich meine Schmarotzer an? dürfte sie dann spre<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>chen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich
<lb n="5"/>noch stark genug!“… Die Gerechtigkeit, welche damit
<lb n="6"/>anhob „Alles ist abzahlbar, Alles muss abgezahlt wer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>den“, endet damit, durch die Finger zu sehn und den
<lb n="8"/>Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, – sie endet wie
<lb n="9"/>jedes gute Ding auf Erden, <hi rend="spaced">sich selbst aufhebend</hi>.
<lb n="10"/>Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiss,
<lb n="11"/>mit welch schönem Namen sie sich nennt – <hi rend="spaced">Gnade</hi>;
<lb n="12"/>sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht
<lb n="13"/>des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0211">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a29r"/>
<head>
<lb n="14"/>11.</head>
<p>
<lb n="15" rend="indent"/>– Hier ein ablehnendes Wort gegen neuerdings
<lb n="16"/>hervorgetretene Versuche, den Ursprung der Gerechtig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>keit auf einem ganz andren Boden zu suchen, – nämlich
<lb n="18"/>auf dem des Ressentiment. Den Psychologen voran
<lb n="19"/>in’s Ohr gesagt, gesetzt dass sie Lust haben sollten,
<lb n="20"/>das Ressentiment selbst einmal aus der Nähe zu stu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>dieren: diese Pflanze blüht jetzt am schönsten unter
<lb n="22"/>Anarchisten und Antisemiten, übrigens so wie sie immer
<lb n="23"/>geblüht hat, im Verborgnen, dem Veilchen gleich, wenn
<lb n="24"/>schon mit andrem Duft. Und wie aus Gleichem noth<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>wendig immer Gleiches hervorgehn muss, so wird es
<lb n="26"/>nicht überraschen, gerade wieder aus solchen Kreisen
<lb n="27"/>Versuche hervorgehen zu sehn, wie sie schon öfter
<lb n="28"/>dagewesen sind – vergleiche oben Seite 30 –, die
<lb n="29"/><hi rend="spaced">Rache</hi> unter dem Namen der <hi rend="spaced">Gerechtigkeit</hi> zu hei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>ligen – wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine
<lb n="31"/>Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins wäre –
<lb n="32"/>und mit der Rache die <hi rend="spaced">reaktiven</hi> Affekte überhaupt
<pb n="63" facs="#E40_0084" xml:id="Ed_63_id"/>
<lb n="1"/>und allesammt nachträglich zu Ehren zu bringen. An
<lb n="2"/>Letzterem selbst würde ich am wenigsten Anstoss neh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>men: es schiene mir sogar in Hinsicht auf das ganze
<lb n="4"/>biologische Problem (in Bezug auf welches der Werth
<lb n="5"/>jener Affekte bisher unterschätzt worden ist) ein <hi rend="spaced">Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>dienst</hi>. Worauf ich allein aufmerksam mache, ist der
<lb n="7"/>Umstand, dass es der Geist des Ressentiment selbst
<lb n="8"/>ist, aus dem diese neue Nuance von wissenschaftlicher
<lb n="9"/>Billigkeit (zu Gunsten von Hass, Neid, Missgunst, Arg<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>wohn, Rancune, Rache) herauswächst. Diese „wissen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>schaftliche Billigkeit“ nämlich pausirt sofort und macht
<lb n="12"/>Accenten tödtlicher Feindschaft und Voreingenommen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>heit Platz, sobald es sich um eine andre Gruppe von
<lb n="14"/>Affekten handelt, die, wie mich dünkt, von einem noch
<lb n="15"/>viel höheren biologischen Werthe sind, als jene reak<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>tiven, und folglich erst recht verdienten, <hi rend="spaced">wissenschaft<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>lich</hi> abgeschätzt und hochgeschätzt zu werden: nämlich
<lb n="18"/>die eigentlich <hi rend="spaced">aktiven</hi> Affekte, wie Herrschsucht, Hab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>sucht und dergleichen. (E. Dühring, Werth des Le<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>bens; Cursus der Philosophie; im Grunde überall.) So
<lb n="21"/>viel gegen diese Tendenz im Allgemeinen: was aber
<lb n="22"/>gar den einzelnen Satz Dühring’s angeht, dass die
<lb n="23"/>Heimat der Gerechtigkeit auf dem Boden des reaktiven
<lb n="24"/>Gefühls zu suchen sei, so muss man ihm, der Wahrheit
<lb n="25"/>zu Liebe, mit schroffer Umkehrung diesen andren Satz
<lb n="26"/>entgegenstellen: der <hi rend="spaced">letzte</hi> Boden, der vom Geiste
<lb n="27"/>der Gerechtigkeit erobert wird, ist der Boden des
<lb n="28"/>reaktiven Gefühls! Wenn es wirklich vorkommt, dass
<lb n="29"/>der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schä<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>diger bleibt (und nicht nur kalt, massvoll, fremd, gleich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>gültig: Gerecht-sein ist immer ein <hi rend="spaced">positives</hi> Verhalten),
<lb n="32"/>wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>letzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare,
<pb n="64" facs="#E40_0085" xml:id="Ed_64_id"/>
<lb n="1"/>ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten,
<lb n="2"/>des <hi rend="spaced">richtenden</hi> Auges nicht trübt, nun, so ist das ein
<lb n="3"/>Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden,
<lb n="4"/>– sogar Etwas, das man hier kluger Weise nicht er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>warten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht <hi rend="spaced">glau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>ben</hi> soll. Gewiss ist durchschnittlich, dass selbst bei
<lb n="7"/>den rechtschaffensten Personen schon eine kleine Dosis
<lb n="8"/>von Angriff, Bosheit, Insinuation genügt, um ihnen das
<lb n="9"/>Blut in die Augen und die Billigkeit <hi rend="spaced">aus</hi> den Augen
<lb n="10"/>zu jagen. Der aktive, der angreifende, übergreifende
<lb n="11"/>Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert
<lb n="12"/>Schritte näher gestellt als der reaktive; es ist eben für
<lb n="13"/>ihn durchaus nicht nöthig, in der Art, wie es der reak<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>tive Mensch thut, thun muss, sein Objekt falsch und
<lb n="15"/>voreingenommen abzuschätzen. Thatsächlich hat des<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>halb zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der
<lb n="17"/>Stärkere, Muthigere, Vornehmere, auch das <hi rend="spaced">freiere</hi>
<lb n="18"/>Auge, das <hi rend="spaced">bessere</hi> Gewissen auf seiner Seite gehabt:
<lb n="19"/>umgekehrt erräth man schon, wer überhaupt die Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>findung des „schlechten Gewissens“ auf dem Gewissen
<lb n="21"/>hat, – der Mensch des Ressentiment! Zuletzt sehe
<lb n="22"/>man sich doch in der Geschichte um: in welcher Sphäre
<lb n="23"/>ist denn bisher überhaupt die ganze Handhabung des
<lb n="24"/>Rechts, auch das eigentliche Bedürfniss nach Recht
<lb n="25"/>auf Erden heimisch gewesen? Etwa in der Sphäre der
<lb n="26"/>reaktiven Menschen? Ganz und gar nicht: vielmehr in
<lb n="27"/>der der Aktiven, Starken, Spontanen, Aggressiven.
<lb n="28"/>Historisch betrachtet, stellt das Recht auf Erden <milestone unit="page" source="#Dm" n="a40r"/>– zum
<lb n="29"/>Verdruss des genannten Agitator’s sei es gesagt (der
<lb n="30"/>selber einmal über sich das Bekenntniss ablegt: „die
<lb n="31"/>Rachelehre hat sich als der rothe Gerechtigkeitsfaden
<lb n="32"/>durch alle meine Arbeiten und Anstrengungen hindurch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>gezogen“) <milestone unit="page" source="#Dm" n="a29r"/>– den Kampf gerade <hi rend="spaced">wider</hi> die reaktiven <anchor xml:id="Bogen4End"/><milestone xml:id="Bogen5" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen5End"/>
<pb n="65" facs="#E40_0086" xml:id="Ed_65_id"/>
<lb n="1"/>Gefühle vor, den Krieg mit denselben seitens aktiver
<lb n="2"/>und aggressiver Mächte, welche ihre Stärke zum Theil
<lb n="3"/>dazu verwendeten, der Ausschweifung des reaktiven
<lb n="4"/>Pathos Halt und Maass zu gebieten und einen Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>gleich zu erzwingen. Überall, wo Gerechtigkeit geübt,
<lb n="6"/>Gerechtigkeit aufrecht erhalten wird, sieht man eine
<lb n="7"/>stärkere Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwä<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>chere (seien es Gruppen, seien es Einzelne) nach Mitteln
<lb n="9"/>suchen, unter diesen dem unsinnigen Wüthen des Res<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>sentiment ein Ende zu machen, indem sie theils das
<lb n="11"/>Objekt des Ressentiment aus den Händen der Rache
<lb n="12"/>herauszieht, theils an Stelle der Rache ihrerseits den
<lb n="13"/>Kampf gegen die Feinde des Friedens und der Ordnung
<lb n="14"/>setzt, theils Ausgleiche erfindet, vorschlägt, unter Um<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>ständen aufnöthigt, theils gewisse Äquivalente von
<lb n="16"/>Schädigungen zur Norm erhebt, an welche von nun an
<lb n="17"/>das Ressentiment ein für alle Mal gewiesen ist. Das
<lb n="18"/>Entscheidenste aber, was die oberste Gewalt gegen
<lb n="19"/>die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle thut und
<lb n="20"/>durchsetzt – sie thut es immer, sobald sie irgendwie
<lb n="21"/>stark genug dazu ist – ist die Aufrichtung des <hi rend="spaced">Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>setzes</hi>, die imperativische Erklärung darüber, was
<lb n="23"/>überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht,
<lb n="24"/>was als verboten, als unrecht zu gelten habe: indem
<lb n="25"/>sie nach Aufrichtung des Gesetzes Übergriffe und Will<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>kür-Akte Einzelner oder ganzer Gruppen als Frevel am
<lb n="27"/>Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst
<lb n="28"/>behandelt, lenkt sie das Gefühl ihrer Untergebenen
<lb n="29"/>von dem nächsten durch solche Frevel angerichteten
<lb n="30"/>Schaden ab und erreicht damit auf die Dauer das
<lb n="31"/>Umgekehrte von dem, was alle Rache will, welche
<lb n="32"/>den Gesichtspunkt des Geschädigten allein sieht,
<lb n="33"/>allein gelten lässt –: von nun an wird das Auge für
<pb n="66" facs="#E40_0087" xml:id="Ed_66_id"/>
<lb n="1"/>eine immer <hi rend="spaced">unpersönlichere</hi> Abschätzung der That
<lb n="2"/>eingeübt, sogar das Auge des Geschädigten selbst (ob<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>schon dies am allerletzten, wie voran bemerkt wurde). –
<lb n="4"/>Demgemäss giebt es erst von der Aufrichtung des Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>setzes an „Recht“ und „Unrecht“ (und <hi rend="spaced">nicht</hi>, wie Düh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>ring will, von dem Akte der Verletzung an). <hi rend="spaced">An sich</hi>
<lb n="7"/>von Recht und Unrecht reden entbehrt alles Sinn’s,
<lb n="8"/><hi rend="spaced">an sich</hi> kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen,
<lb n="9"/>Ausbeuten, Vernichten nichts „Unrechtes“ sein, inso<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>fern das Leben <hi rend="spaced">essentiell</hi>, nämlich in seinen Grund<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>funktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>nichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann
<lb n="13"/>ohne diesen Charakter. Man muss sich sogar noch
<lb n="14"/>etwas Bedenklicheres eingestehn: dass, vom höchsten
<lb n="15"/>biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer
<lb n="16"/>nur <hi rend="spaced">Ausnahme-Zustände</hi> sein dürfen, als theilweise
<lb n="17"/>Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf
<lb n="18"/>Macht aus ist, und sich dessen Gesammtzwecke als
<lb n="19"/>Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, <hi rend="spaced">grössere</hi>
<lb n="20"/>Macht-Einheiten zu schaffen. Eine Rechtsordnung sou<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>verain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf
<lb n="22"/>von Macht-Complexen, sondern als Mittel <hi rend="spaced">gegen</hi> allen
<lb n="23"/>Kampf überhaupt, etwa gemäss der Communisten-
<lb n="24"/>Schablone Dühring’s, dass jeder Wille jeden Willen als
<lb n="25"/>gleich zu nehmen habe, wäre ein <hi rend="spaced">lebensfeindliches</hi>
<lb n="26"/>Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen,
<lb n="27"/>ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen
<lb n="28"/>von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0212">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a30r"/>
<head>
<lb n="29"/>12.</head>
<p>
<lb n="30" rend="indent"/>Hier noch ein Wort über Ursprung und Zweck
<lb n="31"/>der Strafe – zwei Probleme, die auseinander fallen oder
<lb n="32"/>fallen sollten: leider wirft man sie gewöhnlich in Eins.
<pb n="67" facs="#E40_0088" xml:id="Ed_67_id"/>
<lb n="1"/>Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen
<lb n="2"/>in diesem Falle? Naiv, wie sie es immer getrieben
<lb n="3"/>haben –: sie machen irgend einen „Zweck“ in der Strafe
<lb n="4"/>ausfindig, zum Beispiel Rache oder Abschreckung,
<lb n="5"/>setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als
<lb n="6"/>causa fiendi der Strafe, und – sind fertig. Der „Zweck
<lb n="7"/>im Rechte“ ist aber zu allerletzt für die Entstehungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>geschichte des Rechts zu verwenden: vielmehr giebt
<lb n="9"/>es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz
<lb n="10"/>als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch
<lb n="11"/>wirklich errungen <hi rend="spaced">sein sollte</hi>, – dass nämlich die
<lb n="12"/>Ursache der Entstehung eines Dings und dessen schliess<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>liche Nützlichkeit, dessen thatsächliche Verwendung und
<lb n="14"/>Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>einander liegen; dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-
<lb n="16"/>Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>legenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in
<lb n="18"/>Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet
<lb n="19"/>und umgerichtet wird; dass alles Geschehen in der or<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>ganischen Welt ein <hi rend="spaced">Überwältigen</hi>, <hi rend="spaced">Herrwerden</hi>
<lb n="21"/>und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden
<lb n="22"/>ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem
<lb n="23"/>der bisherige „Sinn“ und „Zweck“ nothwendig ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>dunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss. Wenn
<lb n="25"/>man die <hi rend="spaced">Nützlichkeit</hi> von irgend welchem physiolo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>gischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution,
<lb n="27"/>einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs,
<lb n="28"/>einer Form in den Künsten oder im religiösen Cultus)
<lb n="29"/>noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch
<lb n="30"/>nichts in Betreff seiner Entstehung begriffen: so unbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>quem und unangenehm dies älteren Ohren klingen
<lb n="32"/>mag, – denn von Alters her hatte man in dem nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>weisbaren Zwecke, in der Nützlichkeit eines Dings,
<pb n="68" facs="#E40_0089" xml:id="Ed_68_id"/>
<lb n="1"/>einer Form, einer Einrichtung auch deren Entstehungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>grund zu begreifen geglaubt, das Auge als gemacht
<lb n="3"/>zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen. So
<lb n="4"/>hat man sich auch die Strafe vorgestellt als erfunden
<lb n="5"/>zum Strafen. Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten
<lb n="6"/>sind nur <hi rend="spaced">Anzeichen</hi> davon, dass ein Wille zur Macht
<lb n="7"/>über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und
<lb n="8"/>ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt
<lb n="9"/>hat; und die ganze Geschichte eines „Dings“, eines Or<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>gans, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte
<lb n="11"/>Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und
<lb n="12"/>Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter
<lb n="13"/>sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>mehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>ander folgen und ablösen. „Entwicklung“ eines Dings,
<lb n="16"/>eines Brauchs, eines Organs ist demgemäss nichts weni<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>ger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger
<lb n="18"/>ein logischer und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand
<lb n="19"/>von Kraft und Kosten erreichter progressus, – sondern
<lb n="20"/>die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>den, mehr oder minder von einander unabhängigen,
<lb n="22"/>an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen,
<lb n="23"/>hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten
<lb n="24"/>Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum
<lb n="25"/>Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Re<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>sultate gelungener Gegenaktionen. Die Form ist flüssig,
<lb n="27"/>der „Sinn“ ist es aber noch mehr… Selbst innerhalb
<lb n="28"/>jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders: mit
<lb n="29"/>jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt
<lb n="30"/>sich auch der „Sinn“ der einzelnen Organe, – unter Um<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>ständen kann deren theilweises Zu-Grunde-Gehn, deren
<lb n="32"/>Zahl-Verminderung (zum Beispiel durch Vernichtung
<lb n="33"/>der Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und
<pb n="69" facs="#E40_0090" xml:id="Ed_69_id"/>
<lb n="1"/>Vollkommenheit sein. Ich wollte sagen: auch das theil<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>weise <hi rend="spaced">Unnützlichwerden</hi>, das Verkümmern und Ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>arten, das Verlustiggehn von Sinn und Zweckmässigkeit,
<lb n="4"/>kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>lichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines
<lb n="6"/>Willens und Wegs zu <hi rend="spaced">grösserer Macht</hi> erscheint
<lb n="7"/>und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte
<lb n="8"/>durchgesetzt wird. Die Grösse eines „Fortschritts“ <hi rend="spaced">be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>misst</hi> sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles
<lb n="10"/>geopfert werden musste; die Menschheit als Masse dem
<lb n="11"/>Gedeihen einer einzelnen <hi rend="spaced">stärkeren</hi> Species Mensch
<lb n="12"/>geopfert – das <hi rend="spaced">wäre</hi> ein Fortschritt… – Ich hebe
<lb n="13"/>diesen Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik
<lb n="14"/>hervor, um so mehr als er im Grunde dem gerade
<lb n="15"/>herrschenden Instinkte und Zeitgeschmack entgegen
<lb n="16"/>geht, welcher lieber sich noch mit der absoluten Zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>fälligkeit, ja mechanistischen Unsinnigkeit alles Gesche<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>hens vertragen würde, als mit der Theorie eines in allem
<lb n="19"/>Geschehn sich abspielenden <hi rend="spaced">Macht-Willens</hi>. Die de<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>mokratische Idiosynkrasie gegen Alles, was herrscht
<lb n="21"/>und herrschen will, der moderne <hi rend="spaced">Misarchismus</hi> (um
<lb n="22"/>ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache zu bil<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>den) hat sich allmählich dermaassen in’s Geistige, Gei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>stigste umgesetzt und verkleidet, dass er heute Schritt
<lb n="25"/>für Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objek<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>tivsten Wissenschaften eindringt, eindringen <hi rend="spaced">darf</hi>; ja
<lb n="27"/>er scheint mir schon über die ganze Physiologie und
<lb n="28"/>Lehre vom Leben Herr geworden zu sein, zu ihrem
<lb n="29"/>Schaden, wie sich von selbst versteht, indem er ihr
<lb n="30"/>einen Grundbegriff, den der eigentlichen <hi rend="spaced">Aktivität</hi>,
<lb n="31"/>eskamotirt hat. Man stellt dagegen unter dem Druck
<lb n="32"/>jener Idiosynkrasie die „Anpassung“ in den Vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>dergrund, das heisst eine Aktivität zweiten Ranges,
<pb n="70" facs="#E40_0091" xml:id="Ed_70_id"/>
<lb n="1"/>eine blosse Reaktivität, ja man hat das Leben selbst
<lb n="2"/>als eine immer zweckmässigere innere Anpassung an
<lb n="3"/>äussere Umstände definirt (Herbert Spencer). Damit
<lb n="4"/>ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein <hi rend="spaced">Wille
<lb n="5"/>zur Macht</hi>; damit ist der principielle Vorrang über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>sehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden,
<lb n="7"/>neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte
<lb n="8"/>haben, auf deren Wirkung erst die „Anpassung“ folgt;
<lb n="9"/>damit ist im Organismus selbst die herrschaftliche Rolle
<lb n="10"/>der höchsten Funktionäre abgeleugnet, in denen der
<lb n="11"/>Lebenswille aktiv und formgebend erscheint. Man er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>innert sich, was Huxley Spencern zum Vorwurf gemacht
<lb n="13"/>hat, – seinen „administrativen Nihilismus“: aber es han<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>delt sich noch um <hi rend="spaced">mehr</hi> als um’s „Administriren“…
</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0213">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a31r"/>
<head>
<lb n="15"/>13.</head>
<p>
<lb n="16" rend="indent"/>– Man hat also, um zur Sache, nämlich zur <hi rend="spaced">Strafe</hi>
<lb n="17"/>zurückzukehren, zweierlei an ihr zu unterscheiden: ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>mal das relativ <hi rend="spaced">Dauerhafte</hi> an ihr, den Brauch, den
<lb n="19"/>Akt, das „Drama“, eine gewisse strenge Abfolge von
<lb n="20"/>Prozeduren, andrerseits das <hi rend="spaced">Flüssige</hi> an ihr, den Sinn,
<lb n="21"/>den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>führung solcher Prozeduren knüpft. Hierbei wird ohne
<lb n="23"/>Weiteres vorausgesetzt, per analogiam, gemäss dem
<lb n="24"/>eben entwickelten Hauptgesichtspunkte der historischen
<lb n="25"/>Methodik, dass die Prozedur selbst etwas Älteres, Frü<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>heres als ihre Benützung zur Strafe sein wird, dass
<lb n="27"/>letztere erst in die (längst vorhandene, aber in einem
<lb n="28"/>anderen Sinne übliche) Prozedur <hi rend="spaced">hineingelegt</hi>, hinein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>gedeutet worden ist, kurz, dass es <hi rend="spaced">nicht</hi> so steht, wie
<lb n="30"/>unsre naiven Moral- und Rechtsgenealogen bisher an<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>nahmen, welche sich allesammt die Prozedur <hi rend="spaced">erfunden</hi>
<lb n="32"/>dachten zum Zweck der Strafe, so wie man sich ehe<pc force="weak">-</pc>
<pb n="71" facs="#E40_0092" xml:id="Ed_71_id"/>
<lb n="1"/>mals die Hand erfunden dachte zum Zweck des Grei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>fens. Was nun jenes andre Element an der Strafe
<lb n="3"/>betrifft, das flüssige, ihren „Sinn“, so stellt in einem
<lb n="4"/>sehr späten Zustande der Cultur (zum Beispiel im heu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>tigen Europa) der Begriff „Strafe“ in der That gar nicht
<lb n="6"/>mehr Einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis
<lb n="7"/>von „Sinnen“: die bisherige Geschichte der Strafe über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>haupt, die Geschichte ihrer Ausnützung zu den ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>schiedensten Zwecken, krystallisirt sich zuletzt in eine
<lb n="10"/>Art von Einheit, welche schwer löslich, schwer zu ana<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>lysiren und, was man hervorheben muss, ganz und gar
<lb n="12"/><hi rend="spaced">undefinirbar</hi> ist. (Es ist heute unmöglich, bestimmt
<lb n="13"/>zu sagen, <hi rend="spaced">warum</hi> eigentlich gestraft wird: alle Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>griffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>sammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar
<lb n="16"/>ist nur Das, was keine Geschichte hat.) In einem frü<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>heren Stadium erscheint dagegen jene Synthesis von
<lb n="18"/>„Sinnen“ noch löslicher, auch noch verschiebbarer; man
<lb n="19"/>kann noch wahrnehmen, wie für jeden einzelnen Fall
<lb n="20"/>die Elemente der Synthesis ihre Werthigkeit verändern
<lb n="21"/>und sich demgemäss umordnen, so dass bald dies, bald
<lb n="22"/>jenes Element auf Kosten der übrigen hervortritt und
<lb n="23"/>dominirt, ja unter Umständen Ein Element (etwa der
<lb n="24"/>Zweck der Abschreckung) den ganzen Rest von Ele<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>menten aufzuheben scheint. Um wenigstens eine Vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>stellung davon zu geben, wie unsicher, wie nachträg<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>lich, wie accidentiell „der Sinn“ der Strafe ist und wie
<lb n="28"/>ein und dieselbe Prozedur auf grundverschiedne Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>sichten hin benützt, gedeutet, zurechtgemacht werden
<lb n="30"/>kann: so stehe hier das Schema, das sich mir selbst
<lb n="31"/>auf Grund eines verhältnissmässig kleinen und zufälli<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>gen Materials ergeben hat. Strafe als Unschädlich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>machen, als Verhinderung weiteren Schädigens. Strafe
<pb n="72" facs="#E40_0093" xml:id="Ed_72_id"/>
<lb n="1"/>als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in
<lb n="2"/>irgend einer Form (auch in der einer Affekt-Compen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>sation). Strafe als Isolirung einer Gleichgewichts-Stö<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>rung, um ein Weitergreifen der Störung zu verhüten.
<lb n="5"/>Strafe als Furchteinflössen vor Denen, welche die Strafe
<lb n="6"/>bestimmen und exekutiren. Strafe als eine Art Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>gleich für die Vortheile, welche der Verbrecher bis da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>hin genossen hat (zum Beispiel wenn er als Bergwerks<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>sklave nutzbar gemacht wird). Strafe als Ausscheidung
<lb n="10"/>eines entartenden Elementes (unter Umständen eines
<lb n="11"/>ganzen Zweigs, wie nach chinesischem Rechte: somit
<lb n="12"/>als Mittel zur Reinerhaltung der Rasse oder zur Fest<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>haltung eines socialen Typus). Strafe als Fest, nämlich
<lb n="14"/>als Vergewaltigung und Verhöhnung eines endlich nie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>dergeworfnen Feindes. Strafe als ein Gedächtniss-
<lb n="16"/>machen, sei es für Den, der die Strafe erleidet – die
<lb n="17"/>sogenannte „Besserung“, sei es für die Zeugen der
<lb n="18"/>Exekution. Strafe als Zahlung eines Honorars, ausbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>dungen Seitens der Macht, welche den Übelthäter vor
<lb n="20"/>den Ausschweifungen der Rache schützt. Strafe als
<lb n="21"/>Compromiss mit dem Naturzustand der Rache, sofern
<lb n="22"/>letzterer durch mächtige Geschlechter noch aufrecht
<lb n="23"/>erhalten und als Privilegium in Anspruch genommen
<lb n="24"/>wird. Strafe als Kriegserklärung und Kriegsmaassregel
<lb n="25"/>gegen einen Feind des Friedens, des Gesetzes, der Ord<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>nung, der Obrigkeit, den man als gefährlich für das
<lb n="27"/>Gemeinwesen, als vertragsbrüchig in Hinsicht auf dessen
<lb n="28"/>Voraussetzungen, als einen Empörer, Verräther und
<lb n="29"/>Friedensbrecher bekämpft, mit Mitteln, wie sie eben
<lb n="30"/>der Krieg an die Hand giebt. –
</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0214">
<head>
<lb n="31"/>14.</head>
<p>
<lb n="32" rend="indent"/>Diese Liste ist gewiss nicht vollständig; ersichtlich
<lb n="33"/>ist die Strafe mit Nützlichkeiten aller Art überladen.
<pb n="73" facs="#E40_0094" xml:id="Ed_73_id"/>
<lb n="1"/>Um so eher darf man von ihr eine <hi rend="spaced">vermeintliche</hi>
<lb n="2"/>Nützlichkeit in Abzug bringen, die allerdings im popu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>lären Bewusstsein als ihre wesentlichste gilt, – der
<lb n="4"/>Glaube an die Strafe, der heute aus mehreren Gründen
<lb n="5"/>wackelt, findet gerade an ihr immer noch seine kräf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>tigste Stütze. Die Strafe soll den Werth haben, das
<lb n="7"/><hi rend="spaced">Gefühl der Schuld</hi> im Schuldigen aufzuwecken, man
<lb n="8"/>sucht <milestone unit="page" source="#Dm" n="a32r"/>in ihr das eigentliche instrumentum jener seeli<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>schen Reaktion, welche „schlechtes Gewissen“, „Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>wissensbiss“ genannt wird. Aber damit vergreift man
<lb n="11"/>sich selbst für heute noch an der Wirklichkeit und der
<lb n="12"/>Psychologie: und wie viel mehr für die längste Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>schichte des Menschen, seine Vorgeschichte! Der ächte
<lb n="14"/>Gewissensbiss ist gerade unter Verbrechern und Sträf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>lingen etwas äusserst Seltenes, die Gefängnisse, die
<lb n="16"/>Zuchthäuser sind <hi rend="spaced">nicht</hi> die Brutstätten, an denen diese
<lb n="17"/>Species von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht: – darin
<lb n="18"/>kommen alle gewissenhaften Beobachter überein, die
<lb n="19"/>in vielen Fällen ein derartiges Urtheil ungern genug
<lb n="20"/>und wider die eigensten Wünsche abgeben. In’s Grosse
<lb n="21"/>gerechnet, härtet und kältet die Strafe ab; sie concen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>trirt; sie verschärft das Gefühl der Entfremdung; sie
<lb n="23"/>stärkt die Widerstandskraft. Wenn es vorkommt, dass
<lb n="24"/>sie die Energie zerbricht und eine erbärmliche Prostra<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>tion und Selbsterniedrigung zu Wege bringt, so ist ein
<lb n="26"/>solches Ergebniss sicherlich noch weniger erquicklich
<lb n="27"/>als die durchschnittliche Wirkung der Strafe: als welche
<lb n="28"/>sich durch einen trocknen düsteren Ernst charakterisirt.
<lb n="29"/>Denken wir aber gar an jene Jahrtausende <hi rend="spaced">vor</hi> der
<lb n="30"/>Geschichte des Menschen, so darf man unbedenklich
<lb n="31"/>urtheilen, dass gerade durch die Strafe die Entwicklung
<lb n="32"/>des Schuldgefühls am kräftigsten <hi rend="spaced">aufgehalten</hi> wor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>den ist, – wenigstens in Hinsicht auf die Opfer, an
<pb n="74" facs="#E40_0095" xml:id="Ed_74_id"/>
<lb n="1"/>denen sich die strafende Gewalt ausliess. Unterschätzen
<lb n="2"/>wir nämlich nicht, inwiefern der Verbrecher gerade
<lb n="3"/>durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden
<lb n="4"/>Prozeduren selbst verhindert wird, seine That, die Art
<lb n="5"/>seiner Handlung, <hi rend="spaced">an sich</hi> als verwerflich zu empfinden:
<lb n="6"/>denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im
<lb n="7"/>Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gut geheissen,
<lb n="8"/>mit gutem Gewissen verübt: also Spionage, Überlistung,
<lb n="9"/>Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffliche und
<lb n="10"/>durchtriebne Polizisten- und Anklägerkunst, sodann das
<lb n="11"/>grundsätzliche, selbst nicht durch den Affekt entschul<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>digte Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>nehmen, Foltern, Morden, wie es in den verschiednen
<lb n="14"/>Arten der Strafe sich ausprägt, – Alles somit von sei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>nen Richtern keineswegs <hi rend="spaced">an sich</hi> verworfene und ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>urtheilte Handlungen, sondern nur in einer gewissen
<lb n="17"/>Hinsicht und Nutzanwendung. Das „schlechte Gewissen“,
<lb n="18"/>diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unsrer
<lb n="19"/>irdischen Vegetation, ist <hi rend="spaced">nicht</hi> auf diesem Boden ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>wachsen, – in der That drückte sich im Bewusstsein
<lb n="21"/>der Richtenden, der Strafenden selbst die längste Zeit
<lb n="22"/>hindurch <hi rend="spaced">Nichts</hi> davon aus, dass man mit einem
<lb n="23"/>„Schuldigen“ zu thun habe. Sondern mit einem Scha<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>den-Anstifter, mit einem unverantwortlichen Stück Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>hängniss. Und Der selber, über den nachher die Strafe,
<lb n="26"/>wiederum wie ein Stück Verhängniss, herfiel, hatte dabei
<lb n="27"/>keine andre „innere Pein“, als wie beim plötzlichen Ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>treten von etwas Unberechnetem, eines schrecklichen
<lb n="29"/>Naturereignisses, eines herabstürzenden, zermalmenden
<lb n="30"/>Felsblockes, gegen den es keinen Kampf mehr giebt.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0215">
<head>
<lb n="31"/>15.</head>
<p>
<lb n="32" rend="indent"/>Dies kam einmal auf eine verfängliche Weise Spi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>noza zum Bewusstsein (zum Verdruss seiner Ausleger,
<pb n="75" facs="#E40_0096" xml:id="Ed_75_id"/>
<lb n="1"/>welche sich ordentlich darum <hi rend="spaced">bemühen</hi>, ihn an dieser
<lb n="2"/>Stelle misszuverstehn, zum Beispiel Kuno Fischer),
<lb n="3"/>als er eines Nachmittags, wer weiss, an was für einer
<lb n="4"/>Erinnerung sich reibend, der Frage nachhieng, was
<lb n="5"/>eigentlich für ihn selbst von dem berühmten <hi rend="spaced">morsus
<lb n="6"/>conscientiae</hi> übrig geblieben sei – er, der Gut und
<lb n="7"/>Böse unter die menschlichen Einbildungen verwiesen
<lb n="8"/>und mit Ingrimm die Ehre seines „freien“ Gottes gegen
<lb n="9"/>jene Lästerer vertheidigt hatte, deren Behauptung
<lb n="10"/>dahin gieng, Gott wirke Alles sub ratione boni („das
<lb n="11"/>aber hiesse Gott dem Schicksale unterwerfen und wäre
<lb n="12"/>fürwahr die grösste aller Ungereimtheiten“ –). Die
<lb n="13"/>Welt war für Spinoza wieder in jene Unschuld zurück<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>getreten, in der sie vor der Erfindung des schlechten
<lb n="15"/>Gewissens dalag: was war damit aus dem morsus con<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>scientiae geworden? „Der Gegensatz des gaudium, sagte
<lb n="17"/>er sich endlich, – eine Traurigkeit, begleitet von der
<lb n="18"/>Vorstellung einer vergangnen Sache, die gegen alles
<lb n="19"/>Erwarten ausgefallen ist.“ Eth. III propos. XVIII schol.
<lb n="20"/>I. II. <hi rend="spaced">Nicht anders als Spinoza</hi> haben die von der
<lb n="21"/>Strafe ereilten Übel-Anstifter Jahrtausende lang in Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>treff ihres „Vergehens“ empfunden: „hier ist Etwas un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>vermuthet schief gegangen“, <hi rend="spaced">nicht</hi>: „das hätte ich
<lb n="24"/>nicht thun sollen“ –, sie unterwarfen sich der Strafe,
<lb n="25"/>wie man sich einer Krankheit <milestone unit="page" source="#Dm" n="a33r"/>oder einem Unglücke
<lb n="26"/>oder dem Tode unterwirft, mit jenem beherzten Fata<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>lismus ohne Revolte, durch den zum Beispiel heute
<lb n="28"/>noch die Russen in der Handhabung des Lebens gegen
<lb n="29"/>uns Westländer im Vortheil sind. Wenn es damals eine
<lb n="30"/>Kritik der That gab, so war es die Klugheit, die an
<lb n="31"/>der That Kritik übte: ohne Frage müssen wir die eigent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>liche <hi rend="spaced">Wirkung</hi> der Strafe vor Allem in einer Verschär<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>fung der Klugheit suchen, in einer Verlängerung des
<pb n="76" facs="#E40_0097" xml:id="Ed_76_id"/>
<lb n="1"/>Gedächtnisses, in einem Willen, fürderhin vorsichtiger,
<lb n="2"/>misstrauischer, heimlicher zu Werke zu gehn, in der
<lb n="3"/>Einsicht, dass man für Vieles ein-für-alle-Mal zu schwach
<lb n="4"/>sei, in einer Art Verbesserung der Selbstbeurtheilung.
<lb n="5"/>Das, was durch die Strafe im Grossen erreicht werden
<lb n="6"/>kann, bei Mensch und Thier, ist die Vermehrung der
<lb n="7"/>Furcht, die Verschärfung der Klugheit, die Bemeiste<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>rung der Begierden: damit <hi rend="spaced">zähmt</hi> die Strafe den Men<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>schen, aber sie macht ihn nicht „besser“, – man dürfte
<lb n="10"/>mit mehr Recht noch das Gegentheil behaupten. („Scha<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>den macht klug“, sagt das Volk: soweit er klug macht,
<lb n="12"/>macht er auch schlecht. Glücklicher Weise macht er
<lb n="13"/>oft genug dumm.)</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0216">
<head>
<lb n="14"/>16.</head>
<p>
<lb n="15" rend="indent"/>An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn,
<lb n="16"/>meiner eignen Hypothese über den Ursprung des
<lb n="17"/>„schlechten Gewissens“ zu einem ersten vorläufigen
<lb n="18"/>Ausdrucke zu verhelfen: sie ist nicht leicht zu Gehör
<lb n="19"/>zu bringen und will lange bedacht, bewacht und be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>schlafen sein. Ich nehme das schlechte Gewissen als
<lb n="21"/>die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem
<lb n="22"/>Druck jener gründlichsten aller Veränderungen ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>fallen musste, die er überhaupt erlebt hat, – jener Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>änderung, als er sich endgültig in den Bann der Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>sellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. Nicht
<lb n="26"/>anders als es den Wasserthieren ergangen sein <choice><orig>muss</orig><corr source="#KGW #KSA">muss,</corr></choice>
<lb n="27"/>als sie gezwungen wurden, entweder Landthiere zu
<lb n="28"/>werden oder zu Grunde zu gehn, so gieng es diesen
<lb n="29"/>der Wildniss, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem
<lb n="30"/>Abenteuer glücklich angepassten Halbthieren, – mit
<lb n="31"/>Einem Male waren alle ihre Instinkte entwerthet und
<lb n="32"/>„ausgehängt“. Sie sollten nunmehr auf den Füssen
<lb n="33"/>gehn und „sich selber tragen“, wo sie bisher vom
<pb n="77" facs="#E40_0098" xml:id="Ed_77_id"/>
<lb n="1"/>Wasser getragen wurden: eine entsetzliche Schwere lag
<lb n="2"/>auf ihnen. Zu den einfachsten Verrichtungen fühlten
<lb n="3"/>sie sich ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte
<lb n="4"/>Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulirenden
<lb n="5"/>unbewusst-sicherführenden Triebe, – sie waren auf
<lb n="6"/>Denken, Schliessen, Berechnen, Combiniren von Ur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>sachen und Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen,
<lb n="8"/>auf ihr „Bewusstsein“, auf ihr ärmlichstes und fehl<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>greifendstes Organ! Ich glaube, dass niemals auf Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>den ein solches Elends-Gefühl, ein solches bleiernes Miss<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>behagen dagewesen ist, – und dabei hatten jene alten
<lb n="12"/>Instinkte nicht mit Einem Male aufgehört, ihre Forde<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>rungen zu stellen! Nur war es schwer und selten mög<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>lich, ihnen zu Willen zu sein: in der Hauptsache muss<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>ten sie sich neue und gleichsam unterirdische Befrie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>digungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nicht nach
<lb n="17"/>Aussen entladen, <hi rend="spaced">wenden sich nach Innen</hi> – dies
<lb n="18"/>ist das, was ich die <hi rend="spaced">Verinnerlichung</hi> des Menschen
<lb n="19"/>nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran,
<lb n="20"/>was man später seine „Seele“ nennt. Die ganze innere
<lb n="21"/>Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>gespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>gangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>ladung des Menschen nach Aussen <hi rend="spaced">gehemmt</hi> worden
<lb n="25"/>ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die
<lb n="26"/>staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der
<lb n="27"/>Freiheit schützte – die Strafen gehören vor Allem zu
<lb n="28"/>diesen Bollwerken – brachten zu Wege, dass alle jene
<lb n="29"/>Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich
<lb n="30"/>rückwärts, sich <hi rend="spaced">gegen den Menschen selbst</hi> wand<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>ten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an
<lb n="32"/>der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>störung – Alles das gegen die Inhaber solcher In<pc force="weak">-</pc>
<pb n="78" facs="#E40_0099" xml:id="Ed_78_id"/>
<lb n="1"/>stinkte sich wendend: <hi rend="spaced">das</hi> ist der Ursprung des „schlech<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>ten Gewissens“. Der Mensch, der sich, aus Mangel an
<lb n="3"/>äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in
<lb n="4"/>eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte,
<lb n="5"/>ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte,
<lb n="6"/>misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs
<lb n="7"/>sich wund stossende Thier, das man „zähmen“ will,
<lb n="8"/>dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>zehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>stätte, eine unsichere und gefährliche Wildniss schaffen
<lb n="11"/>musste – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>zweifelte Gefangne wurde der Erfinder des „schlechten
<lb n="13"/>Gewissens“. Mit ihm aber war die grösste und un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>heimlichste Erkrankung eingeleitet, <milestone unit="page" source="#Dm" n="a34r"/>von welcher die
<lb n="15"/>Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des
<lb n="16"/>Menschen <hi rend="spaced">am Menschen</hi>, an <hi rend="spaced">sich</hi>: als die Folge einer
<lb n="17"/>gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergan<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>genheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue
<lb n="19"/>Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklärung
<lb n="20"/>gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine
<lb n="21"/>Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte. Fügen wir so<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>fort hinzu, dass andrerseits mit der Thatsache einer
<lb n="23"/>gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei
<lb n="24"/>nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>fes, Unerhörtes, Räthselhaftes, Widerspruchsvolles <hi rend="spaced">und
<lb n="26"/>Zukunftsvolles</hi> gegeben war, dass der Aspekt der
<lb n="27"/>Erde sich damit wesentlich veränderte. In der That,
<lb n="28"/>es brauchte göttlicher Zuschauer, um das Schauspiel
<lb n="29"/>zu würdigen, das damit anfieng und dessen Ende durch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>aus noch nicht abzusehen ist, – ein Schauspiel zu fein,
<lb n="31"/>zu wundervoll, zu paradox, als dass es sich sinnlos-
<lb n="32"/>unvermerkt auf irgend einem lächerlichen Gestirn ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>spielen dürfte! Der Mensch zählt seitdem <hi rend="spaced">mit</hi> unter
<pb n="79" facs="#E40_0100" xml:id="Ed_79_id"/>
<lb n="1"/>den unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen,
<lb n="2"/>die das „grosse Kind“ des Heraklit, heisse es Zeus
<lb n="3"/>oder Zufall, spielt, – er erweckt für sich ein Interesse,
<lb n="4"/>eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewiss<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>heit, als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>bereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein
<lb n="7"/>Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>sprechen sei…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM02017">
<head>
<lb n="9"/>17.</head>
<p>
<lb n="10" rend="indent"/>Zur Voraussetzung dieser Hypothese über den Ur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>sprung des schlechten Gewissens gehört erstens, dass
<lb n="12"/>jene Veränderung keine allmähliche, keine freiwillige
<lb n="13"/>war und sich nicht als ein organisches Hineinwachsen
<lb n="14"/>in neue Bedingungen darstellte, sondern als ein Bruch,
<lb n="15"/>ein Sprung, ein Zwang, ein unabweisbares Verhäng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>niss, gegen das es keinen Kampf und nicht einmal ein
<lb n="17"/>Ressentiment gab. Zweitens aber, dass die Einfügung
<lb n="18"/>einer bisher ungehemmten und ungestalteten Bevölke<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>rung in eine feste Form, wie sie mit einem Gewaltakt
<lb n="20"/>ihren Anfang nahm, nur mit lauter Gewaltakten zu
<lb n="21"/>Ende geführt wurde, – dass der älteste „Staat“ dem<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>gemäss als eine furchtbare Tyrannei, als eine zer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>drückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und
<lb n="24"/>fortarbeitete, bis ein solcher Rohstoff von Volk und
<lb n="25"/>Halbthier endlich nicht nur durchgeknetet und gefügig,
<lb n="26"/>sondern auch <hi rend="spaced">geformt</hi> war. Ich gebrauchte das Wort
<lb n="27"/>„Staat“: es versteht sich von selbst, wer damit gemeint
<lb n="28"/>ist – irgend ein Rudel blonder Raubthiere, eine Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>oberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>sirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich
<lb n="31"/>ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>leicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose,
<lb n="33"/>noch schweifende Bevölkerung legt. Dergestalt beginnt
<pb n="80" facs="#E40_0101" xml:id="Ed_80_id"/>
<lb n="1"/>ja der „Staat“ auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei
<lb n="2"/>ist abgethan, welche ihn mit einem „Vertrage“ beginnen
<lb n="3"/>liess. Wer befehlen kann, wer von Natur „Herr“ ist,
<lb n="4"/>wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was
<lb n="5"/>hat der mit Verträgen zu schaffen! Mit solchen Wesen
<lb n="6"/>rechnet man nicht, sie kommen wie das Schicksal, ohne
<lb n="7"/>Grund, Vernunft, Rücksicht, Vorwand, sie sind da wie
<lb n="8"/>der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich, zu über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>zeugend, zu „anders“, um selbst auch nur gehasst zu
<lb n="10"/>werden. Ihr Werk ist ein instinktives Formen-schaffen,
<lb n="11"/>Formen-aufdrücken, es sind die unfreiwilligsten, unbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>wusstesten Künstler, die es giebt: – in Kürze steht etwas
<lb n="13"/>Neues da, wo sie erscheinen, ein Herrschafts-Gebilde,
<lb n="14"/>das <hi rend="spaced">lebt</hi>, in dem Theile und Funktionen abgegrenzt
<lb n="15"/>und bezüglich gemacht sind, in dem Nichts überhaupt
<lb n="16"/>Platz findet, dem nicht erst ein „Sinn“ in Hinsicht auf
<lb n="17"/>das Ganze eingelegt ist. Sie wissen nicht, was Schuld,
<lb n="18"/>was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist, diese gebo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>renen Organisatoren; in ihnen waltet jener furchtbare
<lb n="20"/>Künstler-Egoismus, der wie Erz blickt und sich im
<lb n="21"/>„Werke“, wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle Ewig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>keit voraus gerechtfertigt weiss. <hi rend="spaced">Sie</hi> sind es nicht,
<lb n="23"/>bei denen das „schlechte Gewissen“ gewachsen ist, das
<lb n="24"/>versteht sich von vornherein, – aber es würde nicht
<lb n="25"/><hi rend="spaced">ohne sie</hi> gewachsen sein, dieses hässliche Gewächs,
<lb n="26"/>es würde fehlen, wenn nicht unter dem Druck ihrer
<lb n="27"/>Hammerschläge, ihrer Künstler-Gewaltsamkeit ein un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>geheures Quantum Freiheit aus der Welt, mindestens
<lb n="29"/>aus der Sichtbarkeit geschafft und gleichsam <hi rend="spaced">latent</hi>
<lb n="30"/>gemacht worden wäre. Dieser gewaltsam latent ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>machte <hi rend="spaced">Instinkt der Freiheit</hi> – wir begriffen es
<lb n="32"/>schon – dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in’s
<lb n="33"/>Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst
<anchor xml:id="Bogen5End"/>
<milestone xml:id="Bogen6" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen6End"/>
<pb n="81" facs="#E40_0102" xml:id="Ed_81_id"/>
<lb n="1"/>noch sich entladende und auslassende Instinkt der
<lb n="2"/>Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das
<lb n="3"/><hi rend="spaced">schlechte Gewissen</hi>.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0218">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a35r"/>
<head>
<lb n="4"/>18.</head>
<p>
<lb n="5" rend="indent"/>Man hüte sich, von diesem ganzen Phänomen des<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>halb schon gering zu denken, weil es von vornherein
<lb n="7"/>hässlich und schmerzhaft ist. Im Grunde ist es ja die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>selbe aktive Kraft, die in jenen Gewalt-Künstlern und
<lb n="9"/>Organisatoren grossartiger am Werke ist und Staaten
<lb n="10"/>baut, welche hier, innerlich, kleiner, kleinlicher, in der
<lb n="11"/>Richtung nach rückwärts, im „Labyrinth der Brust“,
<lb n="12"/>um mit Goethe zu reden, sich das schlechte Gewissen
<lb n="13"/>schafft und negative Ideale baut, eben jener <hi rend="spaced">Instinkt
<lb n="14"/>der Freiheit</hi> (in meiner Sprache geredet: der Wille
<lb n="15"/>zur Macht): nur dass der Stoff, an dem sich die form<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>bildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>lässt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes thieri<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>sches altes Selbst ist – und <hi rend="spaced">nicht</hi>, wie in jenem
<lb n="19"/>grösseren und augenfälligeren Phänomen, der <hi rend="spaced">andre</hi>
<lb n="20"/>Mensch, die <hi rend="spaced">andren</hi> Menschen. Diese heimliche Selbst-
<lb n="21"/>Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit, diese Lust,
<lb n="22"/>sich selbst als einem schweren widerstrebenden leiden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>den Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kri<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>tik, einen Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>zubrennen, diese unheimliche und entsetzlich-lustvolle
<lb n="26"/>Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele,
<lb n="27"/>welche sich leiden macht, aus Lust am Leidenmachen,
<lb n="28"/>dieses ganze <hi rend="spaced">aktivische</hi> „schlechte Gewissen“ hat
<lb n="29"/>zuletzt – man erräth es schon – als der eigentliche
<lb n="30"/>Mutterschooss idealer und imaginativer Ereignisse auch
<lb n="31"/>eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>jahung an’s Licht gebracht und vielleicht überhaupt
<pb n="82" facs="#E40_0103" xml:id="Ed_82_id"/>
<lb n="1"/>erst <hi rend="spaced">die</hi> Schönheit… Was wäre denn „schön“, wenn
<lb n="2"/>nicht erst der Widerspruch sich selbst zum Bewusst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>sein gekommen wäre, wenn nicht erst das Hässliche zu
<lb n="4"/>sich selbst gesagt hätte: „ich bin hässlich“?… Zum
<lb n="5"/>Mindesten wird nach diesem Winke das Räthsel we<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>niger räthselhaft sein, in wiefern in widersprüchlichen
<lb n="7"/>Begriffen, wie <hi rend="spaced">Selbstlosigkeit</hi>,<hi rend="spaced"> Selbstverleug<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>nung</hi>,<hi rend="spaced"> Selbstopferung</hi> ein Ideal, eine Schönheit
<lb n="9"/>angedeutet sein kann; und Eins weiss man hinfort, ich
<lb n="10"/>zweifle nicht daran –, welcher Art nämlich von An<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>fang an die <hi rend="spaced">Lust</hi> ist, die der Selbstlose, der Sich-
<lb n="12"/>selbst-Verleugnende, Sich-selber-Opfernde empfindet:
<lb n="13"/>diese Lust gehört zur Grausamkeit. – Soviel vorläufig
<lb n="14"/>zur Herkunft des „Unegoistischen“ als eines <hi rend="spaced">morali<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>schen</hi> Werthes und zur Absteckung des Bodens, aus
<lb n="16"/>dem dieser Werth gewachsen ist: erst das schlechte Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>wissen, erst der Wille zur Selbstmisshandlung giebt die
<lb n="18"/>Voraussetzung ab für den <hi rend="spaced">Werth</hi> des Unegoistischen. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0219">
<head>
<lb n="19"/>19.</head>
<p>
<lb n="20" rend="indent"/>Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das
<lb n="21"/>unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie
<lb n="22"/>die Schwangerschaft eine Krankheit ist. Suchen wir
<lb n="23"/>die Bedingungen auf, unter denen diese Krankheit auf
<lb n="24"/>ihren furchtbarsten und sublimsten Gipfel gekommen
<lb n="25"/>ist: – wir werden sehn, was damit eigentlich erst
<lb n="26"/>seinen Eintritt in die Welt gemacht hat. Dazu aber be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>darf es eines langen Athems, – und zunächst müssen
<lb n="28"/>wir noch einmal zu einem früheren Gesichtspunkte zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>rück. Das privatrechtliche Verhältniss des Schuldners
<lb n="30"/>zu seinem Gläubiger, von dem des längeren schon die
<lb n="31"/>Rede war, ist noch einmal, und zwar in einer historisch
<lb n="32"/>überaus merkwürdigen und bedenklichen Weise in ein
<pb n="83" facs="#E40_0104" xml:id="Ed_83_id"/>
<lb n="1"/>Verhältniss hineininterpretirt worden, worin es uns
<lb n="2"/>modernen Menschen vielleicht am unverständlichsten ist:
<lb n="3"/>nämlich in das Verhältniss der <hi rend="spaced">Gegenwärtigen</hi> zu
<lb n="4"/>ihren <hi rend="spaced">Vorfahren</hi>. Innerhalb der ursprünglichen Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>schlechtsgenossenschaft – wir reden von Urzeiten –
<lb n="6"/>erkennt jedes Mal die lebende Generation gegen die
<lb n="7"/>frühere und in Sonderheit gegen die früheste, geschlecht-
<lb n="8"/>begründende eine juristische Verpflichtung an (und kei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>neswegs eine blosse Gefühls-Verbindlichkeit: man dürfte
<lb n="10"/>diese letztere sogar nicht ohne Grund für die längste
<lb n="11"/>Dauer des menschlichen Geschlechts überhaupt in Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>rede stellen). Hier herrscht die Überzeugung, dass das
<lb n="13"/>Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistun<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>gen der Vorfahren <hi rend="spaced">besteht</hi>, – und dass man ihnen
<lb n="15"/>diese durch Opfer und Leistungen <hi rend="spaced">zurückzuzahlen</hi>
<lb n="16"/>hat: man erkennt somit eine <hi rend="spaced">Schuld</hi> an, die dadurch
<lb n="17"/>noch beständig anwächst, dass diese Ahnen in ihrer
<lb n="18"/>Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem
<lb n="19"/>Geschlechte neue Vortheile und Vorschüsse seitens ihrer
<lb n="20"/>Kraft zu gewähren. Umsonst etwa? Aber es giebt
<lb n="21"/>kein „Umsonst“ für jene rohen und „seelenarmen“ Zeit<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>alter. Was kann man ihnen zurückgeben? Opfer (an<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>fänglich zur Nahrung, im gröblichsten Verstande), Feste,
<lb n="24"/>Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor Allem Gehorsam –
<lb n="25"/>denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch
<lb n="26"/>deren Satzungen und Befehle –: giebt man ihnen je
<lb n="27"/>genug? Dieser Verdacht bleibt übrig und wächst: von
<lb n="28"/>Zeit zu Zeit erzwingt er eine grosse Ablösung in Bausch
<lb n="29"/>und Bogen, irgend etwas Ungeheures von Gegenzah<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>lung an den „Gläubiger“ (das berüchtigte Erstlings<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>opfer <milestone unit="page" source="#Dm" n="a36r"/>zum Beispiel, Blut, Menschenblut in jedem Falle).
<lb n="32"/>Die <hi rend="spaced">Furcht</hi> vor dem Ahnherrn und seiner Macht, das
<lb n="33"/>Bewusstsein von Schulden gegen ihn nimmt nach die<pc force="weak">-</pc>
<pb n="84" facs="#E40_0105" xml:id="Ed_84_id"/>
<lb n="1"/>ser Art von Logik nothwendig genau in dem Maasse zu,
<lb n="2"/>in dem die Macht des Geschlechts selbst zunimmt, in dem
<lb n="3"/>das Geschlecht selbst immer siegreicher, unabhängiger,
<lb n="4"/>geehrter, gefürchteter dasteht. Nicht etwa umgekehrt!
<lb n="5"/>Jeder Schritt zur Verkümmerung des Geschlechts, alle
<lb n="6"/>elenden Zufälle, alle Anzeichen von Entartung, von
<lb n="7"/>heraufkommender Auflösung <hi rend="spaced">vermindern</hi> vielmehr
<lb n="8"/>immer auch die Furcht vor dem Geiste seines Begrün<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>ders und geben eine immer geringere Vorstellung von
<lb n="10"/>seiner Klugheit, Vorsorglichkeit und Macht-Gegenwart.
<lb n="11"/>Denkt man sich diese rohe Art Logik bis an ihr Ende
<lb n="12"/>gelangt: so müssen schliesslich die Ahnherrn der <hi rend="spaced">mäch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>tigsten</hi> Geschlechter durch die Phantasie der wach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>senden Furcht selbst in’s Ungeheure gewachsen und
<lb n="15"/>in das Dunkel einer göttlichen Unheimlichkeit und Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>vorstellbarkeit zurückgeschoben worden sein: – der
<lb n="17"/>Ahnherr wird zuletzt nothwendig in einen <hi rend="spaced">Gott</hi> trans<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>figurirt. Vielleicht ist hier selbst der Ursprung der
<lb n="19"/>Götter, ein Ursprung also aus der <hi rend="spaced">Furcht</hi>!… Und
<lb n="20"/>wem es nöthig scheinen sollte hinzuzufügen: „aber auch
<lb n="21"/>aus der Pietät!“ dürfte schwerlich damit für jene längste
<lb n="22"/>Zeit des Menschengeschlechts Recht behalten, für seine
<lb n="23"/>Urzeit. Um so mehr freilich für die <hi rend="spaced">mittlere</hi> Zeit, in
<lb n="24"/>der die vornehmen Geschlechter sich herausbilden: –
<lb n="25"/>als welche in der That ihren Urhebern, den Ahnherren
<lb n="26"/>(Heroen, Göttern) alle die Eigenschaften mit Zins zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>rückgegeben haben, die inzwischen in ihnen selbst offen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>bar geworden sind, die <hi rend="spaced">vornehmen</hi> Eigenschaften.
<lb n="29"/>Wir werden auf die Veradligung und Veredelung der
<lb n="30"/>Götter (die freilich durchaus nicht deren „Heiligung“
<lb n="31"/>ist) später noch einen Blick werfen: führen wir jetzt
<lb n="32"/>nur den Gang dieser ganzen Schuldbewusstseins-Ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>wicklung vorläufig zu Ende.</p></div2>
<div2 xml:id="GM0220">
<pb n="85" facs="#E40_0106" xml:id="Ed_85_id"/>
<head>
<lb n="1"/>20.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>Das Bewusstsein, Schulden gegen die Gottheit zu
<lb n="3"/>haben, ist, wie die Geschichte lehrt, auch nach dem
<lb n="4"/>Niedergang der blutverwandtschaftlichen Organisations<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>form der „Gemeinschaft“ keineswegs zum Abschluss
<lb n="6"/>gekommen; die Menschheit hat, in gleicher Weise, wie
<lb n="7"/>sie die Begriffe „gut und schlecht“ von dem Geschlechts-
<lb n="8"/>Adel (sammt dessen psychologischem Grundhange,
<lb n="9"/>Rangordnungen anzusetzen) geerbt hat, mit der Erb<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>schaft der Geschlechts- und Stammgottheiten auch die
<lb n="11"/>des Drucks von noch unbezahlten Schulden und des
<lb n="12"/>Verlangens nach Ablösung derselben hinzubekommen.
<lb n="13"/>(Den Übergang machen jene breiten Sklaven- und
<lb n="14"/>Hörigen-Bevölkerungen, welche sich an den Götter-
<lb n="15"/>Cultus ihrer Herren, sei es durch Zwang, sei es durch
<lb n="16"/>Unterwürfigkeit und mimicry, angepasst haben: von
<lb n="17"/>ihnen aus fliesst dann diese Erbschaft nach allen Seiten
<lb n="18"/>über.) Das Schuldgefühl gegen die Gottheit hat meh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>rere Jahrtausende nicht aufgehört zu wachsen, und zwar
<lb n="20"/>immer fort im gleichen Verhältnisse, wie der Gottes<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>begriff und das Gottesgefühl auf Erden gewachsen und
<lb n="22"/>in die Höhe getragen worden ist. (Die ganze Geschichte
<lb n="23"/>des ethnischen Kämpfens, Siegens, Sich-versöhnens,
<lb n="24"/>Sich-verschmelzens, Alles was der endgültigen Rang<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>ordnung aller Volks-Elemente in jeder grossen Rassen-
<lb n="26"/>Synthesis vorangeht, spiegelt sich in dem Genealogien-
<lb n="27"/>Wirrwarr ihrer Götter, in den Sagen von deren Käm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>pfen, Siegen und Versöhnungen ab; der Fortgang
<lb n="29"/>zu Universal-Reichen ist immer auch der Fortgang
<lb n="30"/>zu Universal-Gottheiten, der Despotismus mit seiner
<lb n="31"/>Überwältigung des unabhängigen Adels bahnt immer
<lb n="32"/>auch irgend welchem Monotheismus den Weg.) Die
<lb n="33"/>Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-
<pb n="86" facs="#E40_0107" xml:id="Ed_86_id"/>
<lb n="1"/>Gottes, der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch
<lb n="2"/>das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>scheinung gebracht. Angenommen, dass wir nachge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>rade in die <hi rend="spaced">umgekehrte</hi> Bewegung eingetreten sind,
<lb n="5"/>so dürfte man mit keiner kleinen Wahrscheinlichkeit
<lb n="6"/>aus dem unaufhaltsamen Niedergang des Glaubens an
<lb n="7"/>den christlichen Gott ableiten, dass es jetzt bereits auch
<lb n="8"/>schon einen erheblichen Niedergang des menschlichen
<lb n="9"/>Schuldbewusstseins gäbe; ja die Aussicht ist nicht ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>zuweisen, dass der vollkommne und endgültige Sieg
<lb n="11"/>des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>fühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima
<lb n="13"/>zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine Art <hi rend="spaced">zwei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>ter Unschuld</hi> gehören zu einander. –</p></div2>
<div2 xml:id="GM0221">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a37r"/>
<head>
<lb n="15"/>21.</head>
<p><lb n="16" rend="indent"/>Dies vorläufig im Kurzen und Groben über den Zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>sammenhang der Begriffe „Schuld“, „Pflicht“ mit religiö<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>sen Voraussetzungen: ich habe absichtlich die eigentliche
<lb n="19"/>Moralisirung dieser Begriffe (die Zurückschiebung der<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>selben in’s Gewissen, noch bestimmter, die Verwicklung
<lb n="21"/>des <hi rend="spaced">schlechten</hi> Gewissens mit dem Gottesbegriffe) bis<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>her bei Seite gelassen und am Schluss des vorigen Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>schnittes sogar geredet, wie als ob es diese Moralisi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>rung gar nicht gäbe, folglich, wie als ob es mit jenen
<lb n="25"/>Begriffen nunmehr nothwendig zu Ende gienge, nachdem
<lb n="26"/>deren Voraussetzung gefallen ist, der Glaube an unsern
<lb n="27"/>„Gläubiger“, an Gott. Der Thatbestand weicht davon in
<lb n="28"/>einer furchtbaren Weise ab. Mit der Moralisirung der
<lb n="29"/>Begriffe Schuld und Pflicht, mit ihrer Zurückschiebung
<lb n="30"/>in’s <hi rend="spaced">schlechte</hi> Gewissen ist ganz eigentlich der Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>such gegeben, die Richtung der eben beschriebenen
<lb n="32"/>Entwicklung <hi rend="spaced">umzukehren</hi>, mindestens ihre Bewegung
<lb n="33"/>stillzustellen: jetzt <hi rend="spaced">soll</hi> gerade die Aussicht auf eine
<pb n="87" facs="#E40_0108" xml:id="Ed_87_id"/>
<lb n="1"/>endgültige Ablösung ein-für-alle-Mal sich pessimistisch
<lb n="2"/>zuschliessen, jetzt <hi rend="spaced">soll</hi> der Blick trostlos vor einer
<lb n="3"/>ehernen Unmöglichkeit abprallen, zurückprallen, jetzt
<lb n="4"/><hi rend="spaced">sollen</hi> jene Begriffe „Schuld“ und „Pflicht“ sich rück<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>wärts wenden – gegen <hi rend="spaced">wen</hi> denn? Man kann nicht
<lb n="6"/>zweifeln: zunächst gegen den „Schuldner“, in dem nun<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>mehr das schlechte Gewissen sich dermaassen festsetzt,
<lb n="8"/>einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und
<lb n="9"/>Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der
<lb n="10"/>Schuld auch die Unlösbarkeit der Busse, der Gedanke
<lb n="11"/>ihrer Unabzahlbarkeit (der „<hi rend="spaced">ewigen</hi> Strafe“) concipirt
<lb n="12"/>ist –; endlich aber sogar gegen den „Gläubiger“, an
<lb n="13"/>die causa prima des Menschen, denke man dabei nun
<lb n="14"/>an den Anfang des menschlichen Geschlechts, an seinen
<lb n="15"/>Ahnherrn, der nunmehr mit einem Fluche behaftet
<lb n="16"/>wird („Adam“, „Erbsünde“, „Unfreiheit des Willens“)
<lb n="17"/>oder an die Natur, aus deren Schooss der Mensch ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>steht und in die nunmehr das böse Princip hineinge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>legt wird („Verteufelung der Natur“) oder an das Da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>sein überhaupt, das als <hi rend="spaced">unwerth an sich</hi> übrig
<lb n="21"/>bleibt (nihilistische Abkehr von ihm, Verlangen in’s
<lb n="22"/>Nichts oder Verlangen in seinen „Gegensatz“, in ein
<lb n="23"/>Anders-sein, Buddhismus und Verwandtes) – bis wir
<lb n="24"/>mit Einem Male vor dem paradoxen und entsetzlichen
<lb n="25"/>Auskunftsmittel stehn, an dem die gemarterte Mensch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>heit eine zeitweilige Erleichterung gefunden hat, jenem
<lb n="27"/>Geniestreich des <hi rend="spaced">Christenthums</hi>: Gott selbst sich für
<lb n="28"/>die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an
<lb n="29"/>sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der
<lb n="30"/>vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen
<lb n="31"/>selbst unablösbar geworden ist – der Gläubiger sich
<lb n="32"/>für seinen Schuldner opfernd, aus <hi rend="spaced">Liebe</hi> (sollte man’s
<lb n="33"/>glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner!…</p></div2>
<div2 xml:id="GM0222">
<pb n="88" facs="#E40_0109" xml:id="Ed_88_id"/>
<head>
<lb n="1"/>22.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>Man wird bereits errathen haben, <hi rend="spaced">was</hi> eigentlich
<lb n="3"/>mit dem Allen und <hi rend="spaced">unter</hi> dem Allen geschehen ist:
<lb n="4"/>jener Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene
<lb n="5"/>Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst
<lb n="6"/>zurückgescheuchten Thiermenschen, des zum Zweck der
<lb n="7"/>Zähmung in den „Staat“ Eingesperrten, der das schlechte
<lb n="8"/>Gewissen erfunden hat, um sich wehe zu thun, nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>dem der <hi rend="spaced">natürlichere</hi> Ausweg dieses Wehe-thun-
<lb n="10"/>wollens verstopft war, – dieser Mensch des schlechten
<lb n="11"/>Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzung be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>mächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>erlichsten Härte und Schärfe zu treiben. Eine Schuld
<lb n="14"/>gegen <hi rend="spaced">Gott</hi>: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>zeug. Er ergreift in „Gott“ die letzten Gegensätze,
<lb n="16"/>die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen Thier-
<lb n="17"/>Instinkten zu finden vermag, er deutet diese Thier-In<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>stinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft,
<lb n="19"/>Auflehnung, Aufruhr gegen den „Herrn“, den „Vater“,
<lb n="20"/>den Urahn und Anfang der <choice><orig>Welt,</orig><corr source="#KGW #KSA">Welt),</corr></choice> er spannt sich in den
<lb n="21"/>Widerspruch „Gott“ und „Teufel“, er wirft alles Nein,
<lb n="22"/>das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Thatsäch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>lichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja,
<lb n="24"/>als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit
<lb n="25"/>Gottes, als Richterthum Gottes, als Henkerthum Gottes,
<lb n="26"/>als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als
<lb n="27"/>Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld.
<lb n="28"/>Dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen
<lb n="29"/>Grausamkeit, der schlechterdings nicht seines Gleichen
<lb n="30"/>hat: der <hi rend="spaced">Wille</hi> des Menschen, sich schuldig und ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>werflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein <hi rend="spaced">Wille</hi>,
<lb n="32"/>sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der
<lb n="33"/>Schuld äquivalent werden könne, sein <hi rend="spaced">Wille</hi>, den unter<pc force="weak">-</pc>
<pb n="89" facs="#E40_0110" xml:id="Ed_89_id"/>
<lb n="1"/>sten Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe
<lb n="2"/>und Schuld zu inficiren und giftig zu machen, um
<lb n="3"/>sich aus diesem Labyrinth von „fixen Ideen“ ein für
<lb n="4"/>alle Mal den Ausweg abzuschneiden, sein <hi rend="spaced">Wille</hi>, ein
<lb n="5"/>Ideal aufzurichten – das des „heiligen Gottes“ –, um
<lb n="6"/>Angesichts desselben seiner absoluten Unwürdigkeit
<lb n="7"/>handgreiflich gewiss zu sein. Oh über diese wahn<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>sinnige traurige Bestie Mensch! Welche Einfälle kommen
<lb n="9"/>ihr, welche Widernatur, welche Paroxysmen des Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>sinns, welche <milestone unit="page" source="#Dm" n="a38r"/><hi rend="spaced">Bestialität der Idee</hi> bricht sofort her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>aus, wenn sie nur ein wenig verhindert wird, <hi rend="spaced">Bestie
<lb n="12"/>der That</hi> zu sein!… Dies Alles ist interessant bis
<lb n="13"/>zum Übermaass, aber auch von einer schwarzen düste<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>ren entnervenden Traurigkeit, dass man es sich gewalt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>sam verbieten muss, zu lange in diese Abgründe zu
<lb n="16"/>blicken. Hier ist <hi rend="spaced">Krankheit</hi>, es ist kein Zweifel, die
<lb n="17"/>furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>wüthet hat: – und wer es noch zu hören vermag (aber
<lb n="19"/>man hat heute nicht mehr die Ohren dafür! –) wie in
<lb n="20"/>dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei
<lb n="21"/><hi rend="spaced">Liebe</hi>, der Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der
<lb n="22"/>Erlösung in der <hi rend="spaced">Liebe</hi> geklungen hat, der wendet sich
<lb n="23"/>ab, von einem unbesieglichen Grausen erfasst… Im
<lb n="24"/>Menschen ist so viel Entsetzliches!… Die Erde war
<lb n="25"/>zu lange schon ein Irrenhaus!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0223">
<head>
<lb n="26"/>23.</head>
<p>
<lb n="27" rend="indent"/>Dies genüge ein für alle Mal über die Herkunft
<lb n="28"/>des „heiligen Gottes“. – Dass <hi rend="spaced">an sich</hi> die Conception
<lb n="29"/>von Göttern nicht nothwendig zu dieser Verschlechte<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>rung der Phantasie führen muss, deren Vergegenwär<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>tigung wir uns für einen Augenblick nicht erlassen
<lb n="32"/>durften, dass es <hi rend="spaced">vornehmere</hi> Arten giebt, sich der
<pb n="90" facs="#E40_0111" xml:id="Ed_90_id"/>
<lb n="1"/>Erdichtung von Göttern zu bedienen, als zu dieser
<lb n="2"/>Selbstkreuzigung und Selbstschändung des Menschen,
<lb n="3"/>in der die letzten Jahrtausende Europa’s ihre Meister<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>schaft gehabt haben, – das lässt sich zum Glück aus
<lb n="5"/>jedem Blick noch abnehmen, den man auf die <hi rend="spaced">grie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>chischen Götter</hi> wirft, diese Wiederspiegelungen vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>nehmer und selbstherrlicher Menschen, in denen das
<lb n="8"/><hi rend="spaced">Thier</hi> im Menschen sich vergöttlicht fühlte und <hi rend="spaced">nicht</hi>
<lb n="9"/>sich selbst zerriss, <hi rend="spaced">nicht</hi> gegen sich selber wüthete!
<lb n="10"/>Diese Griechen haben sich die längste Zeit ihrer Götter
<lb n="11"/>bedient, gerade um sich das „schlechte Gewissen“ vom
<lb n="12"/>Leibe zu halten, um ihrer Freiheit der Seele froh blei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>ben zu dürfen: also in einem umgekehrten Verstande
<lb n="14"/>als das Christenthum Gebrauch von seinem Gotte ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>macht hat. Sie giengen darin <hi rend="spaced">sehr weit</hi>, diese pracht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>vollen und löwenmüthigen Kindsköpfe; und keine ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>ringere Autorität als die des homerischen Zeus selbst
<lb n="18"/>giebt es ihnen hier und da zu verstehn, dass sie es
<lb n="19"/>sich zu leicht machen. „Wunder! sagt er einmal – es
<lb n="20"/>handelt sich um den Fall des Ägisthos, um einen <hi rend="spaced">sehr</hi>
<lb n="21"/>schlimmen Fall –
<lb n="22" rend="indent"/>„Wunder, wie sehr doch klagen die Sterblichen
<lb n="23" rend="indent"/>wider die Götter!
<lb n="24" rend="indent"/>„<hi rend="spaced">Nur von uns sei Böses</hi>, vermeinen sie; aber
<lb n="25" rend="indent"/>sie selber
<lb n="26" rend="indent"/>„Schaffen durch Unverstand, auch gegen Geschick,
<lb n="27" rend="indent"/>sich das Elend.“
<lb n="28"/>Doch hört und sieht man hier zugleich, auch dieser
<lb n="29"/>olympische Zuschauer und Richter ist ferne davon, ihnen
<lb n="30"/>deshalb gram zu sein und böse von ihnen zu denken:
<lb n="31"/>„was sie <hi rend="spaced">thöricht</hi> sind!“ so denkt er bei den Unthaten
<lb n="32"/>der Sterblichen, – und „Thorheit“, „Unverstand“, ein
<lb n="33"/>wenig „Störung im Kopfe“, so viel haben auch die
<pb n="91" facs="#E40_0112" xml:id="Ed_91_id"/>
<lb n="1"/>Griechen der stärksten, tapfersten Zeit selbst bei sich
<lb n="2"/><hi rend="spaced">zugelassen</hi> als Grund von vielem Schlimmen und Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>hängnissvollen: – Thorheit, <hi rend="spaced">nicht</hi> Sünde! versteht ihr
<lb n="4"/>das?… Selbst aber diese Störung im Kopfe war ein
<lb n="5"/>Problem – „ja, wie ist sie auch nur möglich? woher mag
<lb n="6"/>sie eigentlich gekommen sein, bei Köpfen, wie <hi rend="spaced">wir</hi> sie
<lb n="7"/>haben, wir Menschen der edlen Abkunft, des Glücks, der
<lb n="8"/>Wohlgerathenheit, der besten Gesellschaft, der Vornehm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>heit, der Tugend?“ – so fragte sich Jahrhunderte lang
<lb n="10"/>der vornehme Grieche Angesichts jedes ihm unverständ<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>lichen Greuels und Frevels, mit dem sich Einer von
<lb n="12"/>seines Gleichen befleckt hatte. „Es muss ihn wohl ein
<lb n="13"/><hi rend="spaced">Gott</hi> bethört haben“, sagte er sich endlich, den Kopf
<lb n="14"/>schüttelnd… Dieser Ausweg ist <hi rend="spaced">typisch</hi> für Grie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>chen… Dergestalt dienten damals die Götter dazu,
<lb n="16"/>den Menschen bis zu einem gewissen Grade auch im
<lb n="17"/>Schlimmen zu rechtfertigen, sie dienten als Ursachen
<lb n="18"/>des Bösen – damals nahmen sie nicht die Strafe auf
<lb n="19"/>sich, sondern, wie es <hi rend="spaced">vornehmer</hi> ist, die Schuld…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0224">
<head>
<lb n="20"/>24.</head>
<p>
<lb n="21" rend="indent"/>– Ich schliesse mit drei Fragezeichen, man sieht
<lb n="22"/>es wohl. „Wird hier eigentlich ein Ideal aufgerichtet
<lb n="23"/>oder eines abgebrochen?“ so fragt man mich vielleicht…
<lb n="24"/>Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie theuer
<lb n="25"/>sich auf Erden die Aufrichtung <hi rend="spaced">jedes</hi> Ideals bezahlt
<lb n="26"/>gemacht hat? Wie viel Wirklichkeit immer dazu ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>leumdet und verkannt, wie viel Lüge geheiligt, wie viel
<lb n="28"/>Gewissen verstört, wie viel „Gott“ jedes Mal geopfert <milestone unit="page" source="#Dm" n="a39r"/>
<lb n="29"/>werden musste? Damit ein Heiligthum aufgerichtet
<lb n="30"/>werden kann, <hi rend="spaced">muss ein Heiligthum zerbrochen
<lb n="31"/>werden</hi>: das ist das Gesetz – man zeige mir den
<lb n="32"/>Fall, wo es nicht erfüllt ist!… Wir modernen Men<pc force="weak">-</pc>
<pb n="92" facs="#E40_0113" xml:id="Ed_92_id"/>
<lb n="1"/>schen, wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und
<lb n="2"/>Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden: darin haben
<lb n="3"/>wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht,
<lb n="4"/>in jedem Fall unser Raffinement, unsre Geschmacks-
<lb n="5"/>Verwöhnung. Der Mensch hat allzulange seine natür<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>lichen Hänge mit „bösem Blick“ betrachtet, so dass sie
<lb n="7"/>sich in ihm schliesslich mit dem „schlechten Gewissen“
<lb n="8"/>verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre
<lb n="9"/><hi rend="spaced">an sich</hi> möglich – aber wer ist stark genug dazu? –
<lb n="10"/>nämlich die <hi rend="spaced">unnatürlichen</hi> Hänge, alle jene Aspira<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>tionen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen,
<lb n="12"/>Naturwidrigen, Thierwidrigen, kurz die bisherigen
<lb n="13"/>Ideale, die allesammt lebensfeindliche Ideale, Weltver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>leumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu
<lb n="15"/>verschwistern. An wen sich heute mit <hi rend="spaced">solchen</hi> Hoff<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>nungen und Ansprüchen wenden?… Gerade die <hi rend="spaced">guten</hi>
<lb n="17"/>Menschen hätte man damit gegen sich; dazu, wie billig,
<lb n="18"/>die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwär<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>merischen, die müden… Was beleidigt tiefer, was
<lb n="20"/>trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und
<lb n="21"/>Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>handelt? Und wiederum – wie entgegenkommend,
<lb n="23"/>wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, so bald
<lb n="24"/>wir es machen wie alle Welt und uns „gehen lassen“
<lb n="25"/>wie alle Welt!… Es bedürfte zu jenem Ziele einer
<lb n="26"/><hi rend="spaced">andren</hi> Art Geister, als gerade in diesem Zeitalter
<lb n="27"/>wahrscheinlich sind: Geister, durch Kriege und Siege
<lb n="28"/>gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die
<lb n="29"/>Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfniss geworden
<lb n="30"/>ist; es bedürfte dazu der Gewöhnung an scharfe hohe
<lb n="31"/>Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge
<lb n="32"/>in jedem Sinne, es bedürfte dazu einer Art sublimer
<lb n="33"/>Bosheit selbst, eines letzten selbstgewissesten Muth<pc force="weak">-</pc>
<pb n="93" facs="#E40_0114" xml:id="Ed_93_id"/>
<lb n="1"/>willens der Erkenntniss, welcher zur grossen Gesundheit
<lb n="2"/>gehört, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>ser <hi rend="spaced">grossen Gesundheit</hi>!… Ist diese gerade heute
<lb n="4"/>auch nur möglich?… Aber irgendwann, in einer stär<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>keren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>genwart ist, muss er uns doch kommen, der <hi rend="spaced">erlösende</hi>
<lb n="7"/>Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpfe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>rische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>seits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>samkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie
<lb n="11"/>eine Flucht <hi rend="spaced">vor</hi> der Wirklichkeit sei –: während sie
<lb n="12"/>nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung <hi rend="spaced">in</hi> die
<lb n="13"/>Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>der an’s Licht kommt, die <hi rend="spaced">Erlösung</hi> dieser Wirklich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>keit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den
<lb n="16"/>das bisherige <milestone unit="page" source="#Dm" n="a40v"/>Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch
<lb n="17"/>der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>lösen wird, als von dem, <hi rend="spaced">was aus ihm wachsen
<lb n="19"/>musste</hi>, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts,
<lb n="20"/>vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und
<lb n="21"/>der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei
<lb n="22"/>macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine
<lb n="23"/>Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>list, dieser Besieger Gottes und des Nichts – <hi rend="spaced">er muss
<lb n="25"/>einst kommen</hi>…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0225">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a41r"/>
<head>
<lb n="26"/>25.</head>
<p>
<lb n="27" rend="indent"/>– Aber was rede ich da? Genug! Genug! An
<lb n="28"/>dieser Stelle geziemt mir nur Eins, zu schweigen: ich
<lb n="29"/>vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein
<lb n="30"/>freisteht, einem „Zukünftigeren“, einem Stärkeren, als
<lb n="31"/>ich bin, – was allein <hi rend="spaced">Zarathustra</hi> freisteht, <hi rend="spaced">Zara<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>thustra dem Gottlosen</hi>…</p>
</div2>
<pb n="[94]" facs="#E40_0115" xml:id="Ed_94_id"/><note type="editorial">vakat</note>
</div1>
<div1 xml:id="GM03">
<pb n="[95]" facs="#E40_0116" xml:id="Ed_95_id"/>
<head>
<lb n="1"/>Dritte Abhandlung:
<lb n="2"/>was bedeuten asketische Ideale?</head>
<epigraph>
<ab>
<lb n="3" rend="indent"/>Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig
<lb n="4"/>– so will <hi rend="spaced">uns</hi> die Weisheit: sie ist
<lb n="5"/>ein Weib, sie liebt immer nur einen
<lb n="6"/>Kriegsmann.
<lb n="7" rend="indent"/><hi rend="spaced">Also sprach Zarathustra.</hi></ab>
</epigraph>
<pb n="[96]" facs="#E40_0117" xml:id="Ed_96_id"/><note type="editorial">vakat</note>
<anchor xml:id="Bogen6End"/><milestone xml:id="Bogen7" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen7End"/>
<pb n="[97]" facs="#E40_0118" xml:id="Ed_97_id"/>
<div2 xml:id="GM0301"><milestone unit="page" source="#Dm" n="b1r"/>
<head>
<lb n="1"/>1.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>Was bedeuten asketische Ideale? – Bei Künstlern
<lb n="3"/>Nichts oder zu Vielerlei; bei Philosophen und Gelehrten
<lb n="4"/>Etwas wie Witterung und Instinkt für die günstigsten
<lb n="5"/>Vorbedingungen hoher Geistigkeit; bei Frauen, besten
<lb n="6"/>Falls, eine Liebenswürdigkeit der Verführung <hi rend="spaced">mehr</hi>, ein
<lb n="7"/>wenig morbidezza auf schönem Fleische, die Engelhaf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>tigkeit eines hübschen fetten Thiers; bei physiologisch
<lb n="9"/>Verunglückten und Verstimmten (bei der <hi rend="spaced">Mehrzahl</hi>
<lb n="10"/>der Sterblichen) einen Versuch, sich „zu gut“ für diese
<lb n="11"/>Welt vorzukommen, eine heilige Form der Ausschwei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>fung, ihr Hauptmittel im Kampf mit dem langsamen
<lb n="13"/>Schmerz und der Langenweile; bei Priestern den eigent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>lichen Priesterglauben, ihr bestes Werkzeug der Macht,
<lb n="15"/>auch die „allerhöchste“ Erlaubniss zur Macht; bei Hei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>ligen endlich einen Vorwand zum Winterschlaf, ihre
<lb n="17"/>novissima gloriae cupido, ihre Ruhe im Nichts („Gott“),
<lb n="18"/>ihre Form des Irrsinns. <hi rend="spaced">Dass</hi> aber überhaupt das
<lb n="19"/>asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat,
<lb n="20"/>darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen
<lb n="21"/>Willens aus, sein horror vacui: <hi rend="spaced">er braucht ein Ziel</hi>,
<lb n="22"/>– und eher will er noch <hi rend="spaced">das Nichts</hi> wollen, als <hi rend="spaced">nicht</hi>
<lb n="23"/>wollen. – Versteht man mich?… Hat man mich ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>standen?… „<hi rend="spaced">Schlechterdings nicht! mein Herr</hi>!“
<lb n="25"/>– Fangen wir also von vorne an. </p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0302">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="b2r"/>
<head>
<lb n="26"/>2.</head>
<p>
<lb n="27" rend="indent"/>Was bedeuten asketische Ideale? – Oder, dass ich
<lb n="28"/>einen einzelnen Fall nehme, in Betreff dessen ich oft
<pb n="98" facs="#E40_0119" xml:id="Ed_98_id"/>
<lb n="1"/>genug um Rath gefragt worden bin, was bedeutet es
<lb n="2"/>zum Beispiel, wenn ein Künstler wie Richard Wagner
<lb n="3"/>in seinen alten Tagen der Keuschheit eine Huldigung
<lb n="4"/>darbringt? In einem gewissen Sinne freilich hat er dies
<lb n="5"/>immer gethan; aber erst zu allerletzt in einem asketi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>schen Sinne. Was bedeutet diese „Sinnes“-Änderung,
<lb n="7"/>dieser radikale Sinnes-Umschlag? – denn ein solcher
<lb n="8"/>war es, Wagner sprang damit geradewegs in seinen
<lb n="9"/>Gegensatz um. Was bedeutet es, wenn ein Künstler in
<lb n="10"/>seinen Gegensatz umspringt?… Hier kommt uns, ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>setzt, dass wir bei dieser Frage ein wenig Halt machen
<lb n="12"/>wollen, alsbald die Erinnerung an die beste, stärkste,
<lb n="13"/>frohmüthigste, <hi rend="spaced">muthigste</hi> Zeit, welche es vielleicht im
<lb n="14"/>Leben Wagner’s gegeben hat: das war damals, als ihn
<lb n="15"/>innerlich und tief der Gedanke der Hochzeit Luther’s
<lb n="16"/>beschäftigte. Wer weiss, an welchen Zufällen es eigent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>lich gehangen hat, dass wir heute an Stelle dieser Hoch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>zeits-Musik die Meistersinger besitzen? Und wie viel
<lb n="19"/>in diesen vielleicht noch von jener fortklingt? Aber
<lb n="20"/>keinem Zweifel unterliegt es, dass es sich auch bei die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>ser „Hochzeit Luther’s“ um ein Lob der Keuschheit
<lb n="22"/>gehandelt haben würde. Allerdings auch um ein Lob
<lb n="23"/>der Sinnlichkeit: – und gerade so schiene es mir in
<lb n="24"/>Ordnung, gerade so wäre es auch „Wagnerisch“ ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>wesen. Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit
<lb n="26"/>giebt es keinen nothwendigen Gegensatz; jede gute Ehe,
<lb n="27"/>jede eigentliche Herzensliebschaft ist über diesen Gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>satz hinaus. Wagner hätte, wie mir scheint, wohlgethan,
<lb n="29"/>diese <hi rend="spaced">angenehme</hi> Thatsächlichkeit seinen Deutschen
<lb n="30"/>mit Hülfe einer holden und tapferen Luther-Komödie
<lb n="31"/>wieder einmal zu Gemüthe zu führen, denn es giebt
<lb n="32"/>und gab unter den Deutschen immer viele Verleumder
<lb n="33"/>der Sinnlichkeit; und Luther’s Verdienst ist viel<milestone unit="page" source="#Dm" n="b3r"/>leicht
<pb n="99" facs="#E40_0120" xml:id="Ed_99_id"/>
<lb n="1"/>in Nichts grösser als gerade darin, den Muth zu seiner
<lb n="2"/><hi rend="spaced">Sinnlichkeit</hi> gehabt zu haben (– man hiess sie da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>mals, zart genug, die „evangelische Freiheit“…) Selbst
<lb n="4"/>aber in jenem Falle, wo es wirklich jenen Gegensatz
<lb n="5"/>zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt, braucht es
<lb n="6"/>glücklicher Weise noch lange kein tragischer Gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>satz zu sein. Dies dürfte wenigstens für alle wohlge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>ratheneren, wohlgemutheren Sterblichen gelten, welche
<lb n="9"/>ferne davon sind, ihr labiles Gleichgewicht zwischen
<lb n="10"/>„Thier und Engel“ ohne Weiteres zu den Gegengründen
<lb n="11"/>des Daseins zu rechnen, – die Feinsten und Hellsten,
<lb n="12"/>gleich Goethen, gleich Hafis, haben darin sogar einen
<lb n="13"/>Lebensreiz <hi rend="spaced">mehr</hi> gesehn. Solche „Widersprüche“ ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>rade verführen zum Dasein… Andrerseits versteht es
<lb n="15"/>sich nur zu gut, dass wenn einmal die verunglückten
<lb n="16"/>Schweine dazu gebracht werden, die Keuschheit anzu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>beten – und es giebt solche Schweine! – sie in ihr
<lb n="18"/>nur ihren Gegensatz, den Gegensatz zum verunglückten
<lb n="19"/>Schweine sehn und anbeten werden – oh mit was für
<lb n="20"/>einem tragischen Gegrunz und Eifer! man kann es sich
<lb n="21"/>denken – jenen peinlichen und überflüssigen Gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>satz, den Richard Wagner unbestreitbar am Ende seines
<lb n="23"/>Lebens noch hat in Musik setzen und auf die Bühne
<lb n="24"/>stellen wollen. <hi rend="spaced">Wozu doch?</hi> wie man billig fragen
<lb n="25"/>darf. Denn was giengen ihn, was gehen uns die
<lb n="26"/>Schweine an? –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0303">
<head>
<lb n="27"/>3.</head>
<p>
<lb n="28" rend="indent"/>Dabei ist freilich jene andre Frage nicht zu um<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>gehn, was ihn eigentlich jene männliche (ach, so un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>männliche) „Einfalt vom Lande“ angieng, jener arme
<lb n="31"/>Teufel und Naturbursch Parsifal, der von ihm mit so
<lb n="32"/>verfänglichen Mitteln schliesslich katholisch gemacht
<lb n="33"/>wird – wie? war dieser Parsifal überhaupt <hi rend="spaced">ernst</hi> <choice><orig>ge<pc force="weak">-</pc></orig><corr source="#KGW #KSA"><note type="editorial">Druckfehler Ed 99,33-100,1: „ge-/gemeint“</note></corr></choice>
<pb n="100" facs="#E40_0121" xml:id="Ed_100_id"/>
<lb n="1"/>gemeint? Man könnte nämlich versucht sein, das Um<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>gekehrte zu muthmaassen, selbst zu wünschen, – dass
<lb n="3"/>der Wagner’sche Parsifal heiter gemeint sei, gleichsam
<lb n="4"/>als Schlussstück und Satyrdrama, mit dem der Tragiker
<lb n="5"/>Wagner auf eine gerade ihm gebührende und würdige
<lb n="6"/>Weise von <milestone unit="page" source="#Dm" n="b4r"/>uns, auch von sich, vor Allem <hi rend="spaced">von der
<lb n="7"/>Tragödie</hi> habe Abschied nehmen wollen, nämlich mit
<lb n="8"/>einem Excess höchster und muthwilligster Parodie auf
<lb n="9"/>das Tragische selbst, auf den ganzen schauerlichen
<lb n="10"/>Erden-Ernst und Erden-Jammer von Ehedem, auf die
<lb n="11"/>endlich überwundene <hi rend="spaced">gröbste Form</hi> in der Widernatur
<lb n="12"/>des asketischen Ideals. So wäre es, wie gesagt, eines
<lb n="13"/>grossen Tragikers gerade würdig gewesen: als welcher,
<lb n="14"/>wie jeder Künstler, erst dann auf den letzten Gipfel
<lb n="15"/>seiner Grösse kommt, wenn er sich und seine Kunst
<lb n="16"/><hi rend="spaced">unter</hi> sich zu sehen weiss, – wenn er über sich zu
<lb n="17"/><hi rend="spaced">lachen</hi> weiss. Ist der „Parsifal“ Wagner’s sein heim<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>liches Überlegenheits-Lachen über sich selbst, der
<lb n="19"/>Triumph seiner errungenen letzten höchsten Künstler-
<lb n="20"/>Freiheit, Künstler-Jenseitigkeit? Man möchte es, wie
<lb n="21"/>gesagt, wünschen: denn was würde der <hi rend="spaced">ernstgemeinte</hi>
<lb n="22"/>Parsifal sein? Hat man wirklich nöthig, in ihm (wie
<lb n="23"/>man sich gegen mich ausgedrückt hat) „die Ausgeburt
<lb n="24"/>eines tollgewordenen Hasses auf Erkenntniss, Geist und
<lb n="25"/>Sinnlichkeit“ zu sehn? Einen Fluch auf Sinne und
<lb n="26"/>Geist in Einem Hass und Athem? Eine Apostasie und
<lb n="27"/>Umkehr zu christlich-krankhaften und obskurantistischen
<lb n="28"/>Idealen? Und zuletzt gar ein Sich-selbst-Verneinen,
<lb n="29"/>Sich-selbst-Durchstreichen von Seiten eines Künstlers,
<lb n="30"/>der bis dahin mit aller Macht seines Willens auf das
<lb n="31"/>Umgekehrte, nämlich auf <hi rend="spaced">höchste Vergeistigung
<lb n="32"/>und Versinnlichung</hi> seiner Kunst aus gewesen war?
<lb n="33"/>Und nicht nur seiner Kunst: auch seines Lebens. Man
<pb n="101" facs="#E40_0122" xml:id="Ed_101_id"/>
<lb n="1"/>erinnere sich, wie begeistert seiner Zeit Wagner in den
<lb n="2"/>Fusstapfen des Philosophen Feuerbach gegangen ist:
<lb n="3"/>Feuerbach’s Wort von der „gesunden Sinnlichkeit“ –
<lb n="4"/>das klang in den dreissiger und vierziger Jahren Wag<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>ner’n gleich vielen Deutschen (– sie nannten sich die
<lb n="6"/>„<hi rend="spaced">jungen</hi> Deutschen“) wie das Wort der Erlösung. Hat
<lb n="6"/>er schliesslich darüber <hi rend="spaced">umgelernt</hi>? Da es zum Min<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>desten scheint, dass er zuletzt den Willen hatte, darüber
<lb n="9"/><hi rend="spaced">umzulehren</hi>… Und nicht nur mit den Parsifal-
<lb n="10"/>Posaunen von der Bühne herab: – in der trüben,
<lb n="11"/>ebenso unfreien als rathlosen Schriftstellerei seiner letz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>ten Jahre <milestone unit="page" source="#Dm" n="b5r"/>giebt es hundert Stellen, in denen sich ein
<lb n="13"/>heimlicher Wunsch und Wille, ein verzagter, unsicherer,
<lb n="14"/>uneingeständlicher Wille verräth, ganz eigentlich Um<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>kehr, Bekehrung, Verneinung, Christenthum, Mittel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>alter zu predigen und seinen Jüngern zu sagen „es ist
<lb n="17"/>Nichts! Sucht das Heil wo anders!“ Sogar das „Blut
<lb n="18"/>des Erlösers“ wird einmal angerufen…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0304">
<head>
<lb n="19"/>4.</head>
<p>
<lb n="20" rend="indent"/>Dass ich in einem solchen Falle, der vieles Pein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>liche hat, meine Meinung sage – und es ist ein <hi rend="spaced">typi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>scher</hi> Fall –: man thut gewiss am besten, einen Künst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>ler in so weit von seinem Werke zu trennen, dass man
<lb n="24"/>ihn selbst nicht gleich ernst nimmt wie sein Werk. Er
<lb n="25"/>ist zuletzt nur die Vorausbedingung seines Werks, der
<lb n="26"/>Mutterschooss, der Boden, unter Umständen der Dünger
<lb n="27"/>und Mist, auf dem, aus dem es wächst, – und somit,
<lb n="28"/>in den meisten Fällen, Etwas, das man vergessen muss,
<lb n="29"/>wenn man sich des Werks selbst erfreuen will. Die
<lb n="30"/>Einsicht in die <hi rend="spaced">Herkunft</hi> eines Werks geht die Phy<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>siologen und Vivisektoren des Geistes an: nie und
<lb n="32"/>nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten!
<pb n="102" facs="#E40_0123" xml:id="Ed_102_id"/>
<lb n="1"/>Dem Dichter und Ausgestalter des Parsifal blieb ein
<lb n="2"/>tiefes, gründliches, selbst schreckliches Hineinleben und
<lb n="3"/>Hinabsteigen in mittelalterliche Seelen-Contraste, ein
<lb n="4"/>feindseliges Abseits von aller Höhe, Strenge und Zucht
<lb n="5"/>des Geistes, eine Art intellektueller <hi rend="spaced">Perversität</hi>
<lb n="6"/>(wenn man mir das Wort nachsehen will) ebensowenig
<lb n="7"/>erspart als einem schwangeren Weibe die Widerlich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>keiten und Wunderlichkeiten der Schwangerschaft: als
<lb n="9"/>welche man, wie gesagt, <hi rend="spaced">vergessen</hi> muss, um sich
<lb n="10"/>des Kindes zu erfreuen. Man soll sich vor der Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>wechselung hüten, in welche ein Künstler nur zu leicht
<lb n="12"/>selbst geräth, aus psychologischer contiguity, mit den
<lb n="13"/>Engländern zu reden: wie als ob er selber das <hi rend="spaced">wäre</hi>,
<lb n="14"/>was er darstellen, ausdenken, ausdrücken kann. That<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>sächlich steht es so, dass, <hi rend="spaced">wenn</hi> er eben das wäre, er
<lb n="16"/>es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b6r"/>aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>drücken würde; ein Homer hätte keinen Achill, ein
<lb n="18"/>Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill
<lb n="19"/>und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre. Ein voll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>kommner und ganzer Künstler ist in alle Ewigkeit von
<lb n="21"/>dem „Realen“, dem Wirklichen abgetrennt; andrerseits
<lb n="22"/>versteht man es, wie er an dieser ewigen „Unrealität“
<lb n="23"/>und Falschheit seines innersten Daseins mitunter bis
<lb n="24"/>zur Verzweiflung müde werden kann, – und dass er
<lb n="25"/>dann wohl den Versuch macht, einmal in das gerade
<lb n="26"/>ihm Verbotenste, in’s Wirkliche überzugreifen, wirklich
<lb n="27"/>zu <hi rend="spaced">sein</hi>. Mit welchem Erfolge? Man wird es errathen…
<lb n="28"/>Es ist das <hi rend="spaced">die typische Velleität</hi> des Künstlers:
<lb n="29"/>dieselbe Velleität, welcher auch der altgewordne Wag<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>ner verfiel und die er so theuer, so verhängnissvoll hat
<lb n="31"/>büssen müssen (– er verlor durch sie den werthvollen
<lb n="32"/>Theil seiner Freunde). Zuletzt aber, noch ganz abge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>sehn von dieser Velleität, wer möchte nicht überhaupt
<pb n="103" facs="#E40_0124" xml:id="Ed_103_id"/>
<lb n="1"/>wünschen, um Wagner’s selber willen, dass er <hi rend="spaced">anders</hi>
<lb n="2"/>von uns und seiner Kunst Abschied genommen hätte,
<lb n="3"/>nicht mit einem Parsifal, sondern siegreicher, selbst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>gewisser, Wagnerischer, – weniger irreführend, weniger
<lb n="5"/>zweideutig in Bezug auf sein ganzes Wollen, weniger
<lb n="6"/>Schopenhauerisch, weniger nihilistisch?… </p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0305">
<head>
<lb n="7"/>5.</head>
<p>
<lb n="8" rend="indent"/>– Was bedeuten also asketische Ideale? Im Falle
<lb n="9"/>eines Künstlers, wir begreifen es nachgerade: <hi rend="spaced">gar
<lb n="10"/>Nichts</hi>!… Oder so Vielerlei, dass es so gut ist wie
<lb n="11"/>gar Nichts!… Eliminiren wir zunächst die Künstler:
<lb n="12"/>dieselben stehen lange nicht unabhängig genug in der
<lb n="13"/>Welt und <hi rend="spaced">gegen</hi> die Welt, als dass ihre Werth<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>schätzungen und deren Wandel <hi rend="spaced">an sich</hi> Theilnahme
<lb n="15"/>verdiente! Sie waren zu allen Zeiten Kammerdiener
<lb n="16"/>einer Moral oder Philosophie oder Religion; ganz ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>gesehn noch davon, dass sie leider oft genug die all<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>zugeschmeidigen Höflinge ihrer Anhänger- und Gön<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>nerschaft und spürnasige Schmeichler vor alten oder
<lb n="20"/>eben neu heraufkommenden Gewalten gewesen sind.
<lb n="21"/>Zum Mindesten brauchen sie immer eine <milestone unit="page" source="#Dm" n="b7r"/>Schutzwehr,
<lb n="22"/>einen Rückhalt, eine bereits begründete Autorität: die
<lb n="23"/>Künstler stehen nie für sich, das Alleinstehn geht wider
<lb n="24"/>ihre tiefsten Instinkte. So nahm zum Beispiel Richard
<lb n="25"/>Wagner den Philosophen Schopenhauer, als „die Zeit
<lb n="26"/>gekommen war“, zu seinem Vordermann, zu seiner
<lb n="27"/>Schutzwehr: – wer möchte es auch nur für denkbar
<lb n="28"/>halten, dass er den <hi rend="spaced">Muth</hi> zu einem asketischen Ideal
<lb n="29"/>gehabt hätte, ohne den Rückhalt, den ihm die Philo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>sophie Schopenhauer’s bot, ohne die in den siebziger
<lb n="31"/>Jahren in Europa <hi rend="spaced">zum Übergewicht</hi> gelangende
<lb n="32"/>Autorität Schopenhauer’s? (dabei noch nicht in An<pc force="weak">-</pc>
<pb n="104" facs="#E40_0125" xml:id="Ed_104_id"/>
<lb n="1"/>schlag gebracht, ob im <hi rend="spaced">neuen</hi> Deutschland ein Künst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>ler ohne die Milch frommer, reichsfrommer Denkungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>art überhaupt möglich gewesen wäre). – Und damit
<lb n="4"/>sind wir bei der ernsthafteren Frage angelangt: was be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>deutet es, wenn ein wirklicher <hi rend="spaced">Philosoph</hi> dem aske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>tischen Ideale huldigt, ein wirklich auf sich gestellter
<lb n="7"/>Geist wie Schopenhauer, ein Mann und Ritter mit erze<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>nem Blick, der den Muth zu sich selber hat, der allein
<lb n="9"/>zu stehn weiss und nicht erst auf Vordermänner und
<lb n="10"/>höhere Winke wartet? – Erwägen wir hier sofort die
<lb n="11"/>merkwürdige und für manche Art Mensch selbst fasci<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>nirende Stellung Schopenhauer’s zur <hi rend="spaced">Kunst</hi>: denn sie
<lb n="13"/>ist es ersichtlich gewesen, um derentwillen <hi rend="spaced">zunächst</hi>
<lb n="14"/>Richard Wagner zu Schopenhauern übertrat (überredet
<lb n="15"/>dazu durch einen Dichter, wie man weiss, durch Her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>wegh), und dies bis zu dem Maasse, dass sich damit ein
<lb n="17"/>vollkommner theoretischer Widerspruch zwischen seinem
<lb n="18"/>früheren und seinem späteren ästhetischen Glauben auf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>riss, – ersterer zum Beispiel in „Oper und Drama“ aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>gedrückt, letzterer in den Schriften, die er von 1870 an
<lb n="21"/>herausgab. In Sonderheit änderte Wagner, was vielleicht
<lb n="22"/>am meisten befremdet, von da an rücksichtslos sein Ur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>theil über Werth und Stellung der <hi rend="spaced">Musik</hi> selbst: was
<lb n="24"/>lag ihm daran, dass er bisher aus ihr ein Mittel, ein
<lb n="25"/>Medium, ein „Weib“ gemacht hatte, das schlechterdings
<lb n="26"/>eines Zweckes, eines Manns bedürfe um zu gedeihn –
<lb n="27"/>nämlich des Drama’s! Er begriff mit Einem Male,
<lb n="28"/>dass mit der Schopenhauer’schen Theorie und Neuerung
<lb n="29"/><hi rend="spaced">mehr</hi> zu machen sei in majorem musicae gloriam, –
<lb n="30"/>nämlich mit der <hi rend="spaced">Souverainetät</hi> der Musik, so wie
<lb n="31"/>sie Schopenhauer begriff: die Musik abseits gestellt
<lb n="32"/>gegen alle übrigen Künste, die unabhängige Kunst an
<lb n="33"/>sich, <hi rend="spaced">nicht</hi>, wie diese, Abbilder der Phänomenalität
<pb n="105" facs="#E40_0126" xml:id="Ed_105_id"/>
<lb n="1"/>bietend, vielmehr die <milestone unit="page" source="#Dm" n="b8r"/>Sprache <hi rend="spaced">des</hi> Willens selbst redend,
<lb n="2"/>unmittelbar aus dem „Abgrunde“ heraus, als dessen
<lb n="3"/>eigenste, ursprünglichste, unabgeleitetste Offenbarung.
<lb n="4"/>Mit dieser ausserordentlichen Werthsteigerung der Mu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>sik, wie sie aus der Schopenhauer’schen Philosophie
<lb n="6"/>zu erwachsen schien, stieg mit Einem Male auch <hi rend="spaced">der
<lb n="7"/>Musiker</hi> selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr
<lb n="8"/>ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine
<lb n="9"/>Art Mundstück des „An-sich“ der Dinge, ein Telephon
<lb n="10"/>des Jenseits, – er redete fürderhin nicht nur Musik,
<lb n="11"/>dieser Bauchredner Gottes, – er redete Metaphysik:
<lb n="12"/>was Wunder, dass er endlich eines Tags <hi rend="spaced">asketische
<lb n="13"/>Ideale</hi> redete?… </p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0306">
<head>
<lb n="14"/>6.</head>
<p>
<lb n="15" rend="indent"/>Schopenhauer hat sich die Kantische Fassung des
<lb n="16"/>ästhetischen Problems zu Nutze gemacht, – obwohl er
<lb n="17"/>es ganz gewiss nicht mit Kantischen Augen angeschaut
<lb n="18"/>hat. Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen,
<lb n="19"/>als er unter den Prädikaten des Schönen diejenigen be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>vorzugte und in den Vordergrund stellte, welche die
<lb n="21"/>Ehre der Erkenntniss ausmachen: Unpersönlichkeit und
<lb n="22"/>Allgemeingültigkeit. Ob dies nicht in der Hauptsache
<lb n="23"/>ein Fehlgriff war, ist hier nicht am Orte zu verhandeln;
<lb n="24"/>was ich allein unterstreichen will, ist, dass Kant, gleich
<lb n="25"/>allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>lers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu
<lb n="27"/>visiren, allein vom „Zuschauer“ aus über die Kunst und
<lb n="28"/>das Schöne nachgedacht und dabei unvermerkt den
<lb n="29"/>„Zuschauer“ selber in den Begriff „schön“ hinein be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>kommen hat. Wäre aber wenigstens nur dieser „Zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>schauer“ den Philosophen des Schönen ausreichend
<lb n="32"/>bekannt gewesen! – nämlich als eine grosse <hi rend="spaced">persön<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>liche</hi> Thatsache und Erfahrung, als eine Fülle eigen<pc force="weak">-</pc>
<pb n="106" facs="#E40_0127" xml:id="Ed_106_id"/>
<lb n="1"/>ster starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen,
<lb n="2"/>Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen! Aber
<lb n="3"/>das Gegentheil war, wie ich fürchte, immer der Fall:
<lb n="4"/>und so bekommen wir denn von ihnen gleich von An<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>fang an Definitionen, in denen, wie in jener berühmten
<lb n="6"/>Definition, die Kant vom Schönen giebt, der Mangel
<lb n="7"/>an feinerer Selbst-Erfahrung in Gestalt eines dicken
<lb n="8"/>Wurms von Grundirrthum sitzt. „Schön ist, hat Kant
<lb n="9"/>gesagt, was <hi rend="spaced">ohne Interesse</hi> gefällt.“ Ohne Interesse!
<lb n="10"/>Man vergleiche mit <milestone unit="page" source="#Dm" n="b9r"/>dieser Definition jene andre, die ein
<lb n="11"/>wirklicher „Zuschauer“ und Artist gemacht hat –
<lb n="12"/>Stendhal, der das Schöne einmal une promesse de bon<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>heur nennt. Hier ist jedenfalls gerade Das <hi rend="spaced">abgelehnt</hi>
<lb n="14"/>und ausgestrichen, was Kant allein am ästhetischen
<lb n="15"/>Zustande hervorhebt: le désinteressement. Wer hat
<lb n="16"/>Recht, Kant oder Stendhal? – Wenn freilich unsre
<lb n="17"/>Aesthetiker nicht müde werden, zu Gunsten Kant’s in
<lb n="18"/>die Wagschale zu werfen, dass man unter dem Zauber
<lb n="19"/>der Schönheit <hi rend="spaced">sogar</hi> gewandlose weibliche Statuen
<lb n="20"/>„ohne Interesse“ anschauen könne, so darf man wohl
<lb n="21"/>ein wenig auf ihre Unkosten lachen: – die Erfahrungen
<lb n="22"/>der <hi rend="spaced">Künstler</hi> sind in Bezug auf diesen heiklen Punkt
<lb n="23"/>„interessanter“, und Pygmalion war jedenfalls <hi rend="spaced">nicht</hi>
<lb n="24"/>nothwendig ein „unästhetischer Mensch“. Denken wir
<lb n="25"/>um so besser von der Unschuld unsrer Aesthetiker,
<lb n="26"/>welche sich in solchen Argumenten spiegelt, rechnen
<lb n="27"/>wir es zum Beispiel Kanten zu Ehren an, was er über
<lb n="28"/>das Eigenthümliche des Tastsinns mit landpfarrermässi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>ger Naivetät zu lehren weiss! – Und hier kommen wir
<lb n="30"/>auf Schopenhauer zurück, der in ganz andrem Maasse
<lb n="31"/>als Kant den Künsten nahestand und doch nicht aus
<lb n="32"/>dem Bann der Kantischen Definition herausgekommen
<lb n="33"/>ist: wie kam das? Der Umstand ist wunderlich genug:
<pb n="107" facs="#E40_0128" xml:id="Ed_107_id"/>
<lb n="1"/>das Wort „ohne Interesse“ interpretirte er sich in der
<lb n="2"/>allerpersönlichsten Weise, aus einer Erfahrung her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>aus, die bei ihm zu den regelmässigsten gehört haben
<lb n="4"/>muss. Über wenig Dinge redet Schopenhauer so sicher
<lb n="5"/>wie über die Wirkung der ästhetischen Contemplation:
<lb n="6"/>er sagt ihr nach, dass sie gerade der <hi rend="spaced">geschlecht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>lichen</hi> „Interessirtheit“ entgegenwirke, ähnlich also
<lb n="8"/>wie Lupulin und Kampher, er ist nie müde geworden,
<lb n="9"/><hi rend="spaced">dieses</hi> Loskommen vom „Willen“ als den grossen Vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>zug und Nutzen des ästhetischen Zustandes zu verherr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>lichen. Ja man möchte versucht sein zu fragen, ob
<lb n="12"/>nicht seine Grundconception von „Willen und Vorstel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>lung“, der Gedanke, dass es eine Erlösung vom „Willen“
<lb n="14"/>einzig durch die „Vorstellung“ geben könne, aus einer
<lb n="15"/>Verallgemeinerung jener Sexual-Erfahrung ihren <milestone unit="page" source="#Dm" n="b10r"/>Ur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>sprung genommen habe. (Bei allen Fragen in Betreff
<lb n="17"/>der Schopenhauer’schen Philosophie ist, anbei bemerkt,
<lb n="18"/>niemals ausser Acht zu lassen, dass sie die Conception
<lb n="19"/>eines sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist; so dass
<lb n="20"/>sie nicht nur an dem Spezifischen Schopenhauer’s, son<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>dern auch an dem Spezifischen jener Jahreszeit des Le<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>bens Antheil hat.) Hören wir zum Beispiel eine der
<lb n="23"/>ausdrücklichsten Stellen unter den zahllosen, die er zu
<lb n="24"/>Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat (Welt
<lb n="25"/>als Wille und Vorstellung I 231), hören wir den Ton
<lb n="26"/>heraus, das Leiden, das Glück, die Dankbarkeit, mit
<lb n="27"/>der solche Worte gesprochen worden sind. „Das ist der
<lb n="28"/>schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste
<lb n="29"/>Gut und als den Zustand der Götter pries; wir sind,
<lb n="30"/>für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>ledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des
<lb n="32"/>Wollens, das Rad des Ixion steht still“… Welche
<lb n="33"/>Vehemenz der Worte! Welche Bilder der Qual und
<pb n="108" facs="#E40_0129" xml:id="Ed_108_id"/>
<lb n="1"/>des langen Überdrusses! Welche fast pathologische
<lb n="2"/>Zeit-Gegenüberstellung „jenes Augenblicks“ und des
<lb n="3"/>sonstigen „Rads des <choice><orig>Ixion</orig><sic source="#KGW #KSA">Ixions<note type="editorial">Erratum</note></sic></choice>“, der „Zuchthausarbeit des
<lb n="4"/>Wollens“, des „schnöden Willensdrangs“! – Aber ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>setzt, dass Schopenhauer hundert Mal für seine Person
<lb n="6"/>Recht hätte, was wäre damit für die Einsicht in’s We<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>sen des Schönen gethan? Schopenhauer hat Eine Wir<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>kung des Schönen beschrieben, die willen-calmirende, –
<lb n="9"/>ist sie auch nur eine regelmässige? Stendhal, wie ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>sagt, eine nicht weniger sinnliche, aber glücklicher ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>rathene Natur als Schopenhauer, hebt eine andre Wir<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>kung des Schönen hervor: „das Schöne <hi rend="spaced">verspricht</hi>
<lb n="13"/>Glück“, ihm scheint gerade die <hi rend="spaced">Erregung des Wil<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>lens</hi> (des „Interesses“) durch das Schöne der That<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>bestand. Und könnte man nicht zuletzt Schopenhauern
<lb n="16"/>selber einwenden, dass er sehr mit Unrecht sich hierin
<lb n="17"/>Kantianer dünke, dass er ganz und gar nicht die
<lb n="18"/>Kantische Definition des Schönen Kantisch verstanden
<lb n="19"/>habe, – dass auch ihm das Schöne aus einem „Inter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>esse“ gefalle, sogar aus dem allerstärksten, allerpersön<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>lichsten Interesse: dem des Torturirten, der von seiner
<lb n="22"/>Tortur loskommt?… Und, um auf unsre erste Frage
<lb n="23"/>zurückzukommen „was <hi rend="spaced">bedeutet</hi> es, wenn ein Philo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>soph dem asketischen Ideale <choice><orig>huldigt?“</orig><corr source="#KGW #KSA">huldigt?“,</corr></choice> so bekommen wir
<lb n="25"/>hier wenigstens einen ersten Wink: er will <hi rend="spaced">von einer
<lb n="26"/>Tortur loskommen</hi>. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0307"><milestone unit="page" source="#Dm" n="b11r"/>
<head>
<lb n="27"/>7.</head>
<p>
<lb n="28" rend="indent"/>Hüten wir uns, bei dem Wort „Tortur“ gleich
<lb n="29"/>düstere Gesichter zu machen: es bleibt gerade in die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>sem Falle genug dagegen zu rechnen, genug abzuziehn,
<lb n="31"/>– es bleibt selbst etwas zu lachen. Unterschätzen wir
<lb n="32"/>es namentlich nicht, dass Schopenhauer, der die Ge<pc force="weak">-</pc>
<pb n="109" facs="#E40_0130" xml:id="Ed_109_id"/>
<lb n="1"/>schlechtlichkeit in der That als persönlichen Feind be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>handelt hat (einbegriffen deren Werkzeug, das Weib,
<lb n="3"/>dieses „instrumentum diaboli“), Feinde <hi rend="spaced">nöthig</hi> hatte,
<lb n="4"/>um guter Dinge zu bleiben; dass er die grimmigen
<lb n="5"/>galligen schwarzgrünen Worte liebte; dass er zürnte,
<lb n="6"/>um zu zürnen, aus Passion; dass er krank geworden
<lb n="7"/>wäre, <hi rend="spaced">Pessimist</hi> geworden wäre (– denn er war es
<lb n="8"/>nicht, so sehr er es auch wünschte) ohne seine Feinde,
<lb n="9"/>ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit und den ganzen
<lb n="10"/>Willen zum Dasein, Dableiben. Schopenhauer wäre
<lb n="11"/>sonst <hi rend="spaced">nicht</hi> dageblieben, darauf darf man wetten, er
<lb n="12"/>wäre davongelaufen: seine Feinde aber hielten ihn fest,
<lb n="13"/>seine Feinde verführten ihn immer wieder zum Dasein,
<lb n="14"/>sein Zorn war, ganz wie bei den antiken Cynikern, sein
<lb n="15"/>Labsal, seine Erholung, sein Entgelt, sein remedium
<lb n="16"/>gegen den Ekel, sein <hi rend="spaced">Glück</hi>. So viel in Hinsicht auf
<lb n="17"/>das Persönlichste am Fall Schopenhauer’s; andrerseits
<lb n="18"/>ist an ihm noch etwas Typisches, – und hier erst
<lb n="19"/>kommen wir wieder auf unser Problem. Es besteht
<lb n="20"/>unbestreitbar, so lange es Philosophen auf Erden giebt
<lb n="21"/>und überall, wo es Philosophen gegeben hat (von In<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>dien bis England, um die entgegengesetzten Pole der
<lb n="23"/>Begabung für Philosophie zu nehmen) eine eigentliche
<lb n="24"/>Philosophen-Gereiztheit und -Rancune gegen die Sinn<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>lichkeit – Schopenhauer ist nur deren beredtester und,
<lb n="26"/>wenn man das Ohr dafür hat, auch hinreissendster und
<lb n="27"/>entzückendster Ausbruch –; es besteht insgleichen eine
<lb n="28"/>eigentliche Philosophen-Voreingenommenheit und -Herz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>lichkeit in Bezug auf das ganze asketische Ideal, darüber
<lb n="30"/>und dagegen soll man sich nichts vormachen. Beides
<lb n="31"/>gehört, wie gesagt, zum Typus; fehlt Beides an einem
<lb n="32"/>Philosophen, so ist er – dessen sei man sicher –
<lb n="33"/>immer nur ein „sogenannter“. Was <hi rend="spaced">bedeutet</hi> das?
<pb n="110" facs="#E40_0131" xml:id="Ed_110_id"/>
<milestone unit="page" source="#Dm" n="b12r"/>
<lb n="1"/>Denn man muss diesen Thatbestand erst interpretiren:
<lb n="2"/><hi rend="spaced">an sich</hi> steht er da dumm in alle Ewigkeit, wie jedes
<lb n="3"/>„Ding an sich“. Jedes Thier, somit auch la bête phi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>losophe, strebt instinktiv nach einem Optimum von
<lb n="5"/>günstigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft
<lb n="6"/>ganz herauslassen kann und sein Maximum im Macht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>gefühl erreicht; jedes Thier perhorreszirt ebenso in<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>stinktiv und mit einer Feinheit der Witterung, die
<lb n="9"/>„höher ist als alle Vernunft“, alle Art Störenfriede und
<lb n="10"/>Hindernisse, die sich ihm über diesen Weg zum Opti<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>mum legen oder legen könnten (– es ist <hi rend="spaced">nicht</hi> sein
<lb n="12"/>Weg zum „Glück“, von dem ich rede, sondern sein
<lb n="13"/>Weg zur Macht, zur That, zum mächtigsten Thun, und in
<lb n="14"/>den meisten Fällen thatsächlich sein Weg zum Unglück).
<lb n="15"/>Dergestalt perhorreszirt der Philosoph die <hi rend="spaced">Ehe</hi> sammt
<lb n="16"/>dem, was zu ihr überreden möchte, – die Ehe als Hin<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>derniss und Verhängniss auf seinem Wege zum Opti<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>mum. Welcher grosse Philosoph war bisher verheirathet?
<lb n="19"/>Heraklit, Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant,
<lb n="20"/>Schopenhauer – sie waren es nicht; mehr noch, man
<lb n="21"/>kann sie sich nicht einmal <hi rend="spaced">denken</hi> als verheirathet.
<lb n="22"/>Ein verheiratheter Philosoph gehört <hi rend="spaced">in die Komödie</hi>,
<lb n="23"/>das ist mein Satz: und jene Ausnahme Sokrates, der
<lb n="24"/>boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verhei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>rathet, eigens um gerade <hi rend="spaced">diesen</hi> Satz zu demonstriren.
<lb n="26"/>Jeder Philosoph würde sprechen, wie einst Buddha
<lb n="27"/>sprach, als ihm die Geburt eines Sohnes gemeldet
<lb n="28"/>wurde: „Râhula ist mir geboren, eine Fessel ist mir
<lb n="29"/>geschmiedet“ (Râhula bedeutet hier „ein kleiner Dä<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>mon“); jedem „freien Geiste“ müsste eine nachdenk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>liche Stunde kommen, gesetzt, dass er vorher eine ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>dankenlose gehabt hat, wie sie einst demselben Buddha
<lb n="33"/>kam – „eng bedrängt, dachte er bei sich, ist das Le<pc force="weak">-</pc>
<pb n="111" facs="#E40_0132" xml:id="Ed_111_id"/>
<lb n="1"/>ben im Hause, eine Stätte der Unreinheit; Freiheit ist
<lb n="2"/>ein Verlassen des Hauses“: „dieweil er also dachte,
<lb n="3"/>verliess er das Haus“. Es sind im asketischen Ideale
<lb n="4"/>so viele Brücken zur <hi rend="spaced">Unabhängigkeit</hi> angezeigt,
<lb n="5"/>dass ein Philosoph nicht ohne ein innerliches Froh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>locken und Händeklatschen die Geschichte aller jener
<lb n="7"/>Entschlossnen zu hören vermag, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b13r"/>welche eines Tages
<lb n="8"/>Nein sagten zu aller Unfreiheit und in irgend eine
<lb n="9"/><hi rend="spaced">Wüste</hi> giengen: gesetzt selbst, dass es bloss starke Esel
<lb n="10"/>waren und ganz und gar das Gegenstück eines starken
<lb n="11"/>Geistes. Was bedeutet demnach das asketische Ideal bei
<lb n="12"/>einem Philosophen? Meine Antwort ist – man wird
<lb n="13"/>es längst errathen haben: der Philosoph lächelt bei
<lb n="14"/>seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>ster und kühnster Geistigkeit zu, – er verneint <hi rend="spaced">nicht</hi>
<lb n="16"/>damit „das Dasein“, er bejaht darin vielmehr <hi rend="spaced">sein</hi> Da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>sein und <hi rend="spaced">nur</hi> sein Dasein, und dies vielleicht bis zu
<lb n="18"/>dem Grade, dass ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern
<lb n="19"/>bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat philoso<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>phus, <hi rend="spaced">fiam</hi>!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0308">
<head>
<lb n="21"/>8.</head>
<p>
<lb n="22" rend="indent"/>Man sieht, das sind keine unbestochnen Zeugen
<lb n="23"/>und Richter über den <hi rend="spaced">Werth</hi> des asketischen Ideals,
<lb n="24"/>diese Philosophen! Sie denken an <hi rend="spaced">sich</hi>, – was geht
<lb n="25"/>sie „der Heilige“ an! Sie denken an Das dabei, was
<lb n="26"/><hi rend="spaced">ihnen</hi> gerade das Unentbehrlichste ist: Freiheit von
<lb n="27"/>Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften, Pflichten, Sor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>gen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der
<lb n="29"/>Gedanken; eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken,
<lb n="30"/>wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animali<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>sche Sein geistiger wird und Flügel bekommt; Ruhe
<lb n="32"/>in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette
<lb n="33"/>gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Ran<pc force="weak">-</pc>
<pb n="112" facs="#E40_0133" xml:id="Ed_112_id"/>
<lb n="1"/>cune; keine Nagewürmer verletzten Ehrgeizes; beschei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>dene und unterthänige Eingeweide, fleissig wie Mühl<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>werke, aber fern; das Herz fremd, jenseits, zukünftig,
<lb n="4"/>posthum, – sie denken, Alles in Allem, bei dem aske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>tischen Ideal an den heiteren Ascetismus eines ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>göttlichten und flügge gewordnen Thiers, das über dem
<lb n="7"/>Leben mehr schweift als ruht. Man weiss, was die
<lb n="8"/>drei grossen Prunkworte des asketischen Ideals sind:
<lb n="9"/>Armuth, Demuth, Keuschheit: und nun sehe man sich
<lb n="10"/>einmal das Leben aller grossen fruchtbaren erfinderi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>schen Geister aus der Nähe an, – man wird darin alle
<lb n="12"/>drei bis zu einem gewissen Grade immer wiederfinden.
<lb n="13"/>Durchaus <hi rend="spaced">nicht</hi>, wie sich von selbst versteht, als ob
<lb n="14"/>es etwa deren „Tugenden“ <milestone unit="page" source="#Dm" n="b14r"/>wären – was hat diese Art
<lb n="15"/>Mensch mit Tugenden zu schaffen! – sondern als die
<lb n="16"/>eigentlichsten und natürlichsten Bedingungen ihres
<lb n="17"/><hi rend="spaced">besten</hi> Daseins, ihrer <hi rend="spaced">schönsten</hi> Fruchtbarkeit. Dabei
<lb n="18"/>ist es ganz wohl möglich, dass ihre dominirende Geistig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>keit vorerst einem unbändigen und reizbaren Stolze oder
<lb n="20"/>einer muthwilligen Sinnlichkeit Zügel anzulegen hatte
<lb n="21"/>oder dass sie ihren Willen zur „Wüste“ vielleicht gegen
<lb n="22"/>einen Hang zum Luxus und zum Ausgesuchtesten, ins<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>gleichen gegen eine verschwenderische Liberalität mit
<lb n="24"/>Herz und Hand schwer genug aufrecht erhielt. Aber
<lb n="25"/>sie that es, eben als der <hi rend="spaced">dominirende</hi> Instinkt, der
<lb n="26"/>seine Forderungen bei allen andren Instinkten durch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>setzte – sie thut es noch; thäte sie’s nicht, so domi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>nirte sie eben nicht. Daran ist also nichts von „Tu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>gend“. Die <hi rend="spaced">Wüste</hi> übrigens, von welcher ich eben
<lb n="30"/>sprach, in die sich die starken, unabhängig gearteten
<lb n="31"/>Geister zurückziehn und vereinsamen – oh wie anders
<lb n="32"/>sieht sie aus, als die Gebildeten sich eine Wüste träu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>men! – unter Umständen sind sie es nämlich selbst, <anchor xml:id="Bogen7End"/><milestone xml:id="Bogen8" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen8End"/>
<pb n="113" facs="#E40_0134" xml:id="Ed_113_id"/>
<lb n="1"/>diese Gebildeten. Und gewiss ist es, dass alle Schau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>spieler des Geistes es schlechterdings nicht in ihr aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>hielten, – für sie ist sie lange nicht romantisch und
<lb n="4"/>syrisch genug, lange nicht Theater-Wüste genug! Es
<lb n="5"/>fehlt allerdings auch in ihr nicht an Kameelen: darauf
<lb n="6"/>aber beschränkt sich die ganze Ähnlichkeit. Eine will<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>kürliche Obskurität vielleicht; ein Aus-dem-Wege-
<lb n="8"/>Gehn vor sich selber; eine Scheu vor Lärm, Verehrung,
<lb n="9"/>Zeitung, Einfluss; ein kleines Amt, ein Alltag, Etwas,
<lb n="10"/>das mehr verbirgt als an’s Licht stellt; ein Umgang ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>legentlich mit harmlosem heitren Gethier und Geflügel,
<lb n="12"/>dessen Anblick erholt; ein Gebirge zur Gesellschaft,
<lb n="13"/>aber kein todtes, eins mit <hi rend="spaced">Augen</hi> (das heisst mit
<lb n="14"/>Seen); unter Umständen selbst ein Zimmer in einem
<lb n="15"/>vollen Allerwelts-Gasthof, wo man sicher ist, verwechselt
<lb n="16"/>zu werden, und ungestraft mit Jedermann reden kann, –
<lb n="17"/>das ist hier „Wüste“: oh sie ist einsam genug, glaubt
<lb n="18"/>es mir! Wenn Heraklit sich in die Freihöfe und Säu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>lengänge des ungeheuren Artemis-Tempels zurückzog,
<lb n="20"/>so war diese „Wüste“ würdiger, ich gebe es zu: wes<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>halb <hi rend="spaced">fehlen</hi> uns solche Tempel? (– sie fehlen uns viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>leicht <hi rend="spaced">nicht</hi>: eben gedenke ich meines schönsten Stu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>dirzimmers, der Piazza di San Marco, Frühling voraus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>gesetzt, insgleichen Vormittag, die Zeit zwischen 10
<lb n="25"/>und 12.) Das aber, dem Heraklit auswich, ist das
<lb n="26"/>Gleiche noch, dem <hi rend="spaced">wir</hi> jetzt aus dem Wege gehn: der
<lb n="27"/>Lärm und das Demokraten-Geschwätz der Ephesier,
<lb n="28"/>ihre Politik, ihre Neuigkeiten vom „Reich“ (Persien,
<lb n="29"/>man versteht mich), ihr Markt-Kram von „Heute“, –
<lb n="30"/>denn wir Philosophen brauchen zu allererst vor Einem
<lb n="31"/>Ruhe: vor allem „Heute“. Wir verehren <milestone unit="page" source="#Dm" n="b15r"/>das Stille,
<lb n="32"/>das Kalte, das Vornehme, das Ferne, das Vergangne,
<lb n="33"/>Jegliches überhaupt, bei dessen Aspekt die Seele sich
<pb n="114" facs="#E40_0135" xml:id="Ed_114_id"/>
<lb n="1"/>nicht zu vertheidigen und zuzuschnüren hat, – Etwas,
<lb n="2"/>mit dem man reden kann, ohne <hi rend="spaced">laut</hi> zu reden. Man
<lb n="3"/>höre doch nur auf den Klang, den ein Geist hat, wenn
<lb n="4"/>er redet: jeder Geist hat seinen Klang, liebt seinen
<lb n="5"/>Klang. Das dort zum Beispiel muss wohl ein Agitator
<lb n="6"/>sein, will sagen ein Hohlkopf, Hohltopf: was auch nur
<lb n="7"/>in ihn hineingeht, jeglich Ding kommt dumpf und dick
<lb n="8"/>aus ihm zurück, beschwert mit dem Echo der grossen
<lb n="9"/>Leere. Jener dort spricht selten anders als heiser:
<lb n="10"/>hat er sich vielleicht heiser <hi rend="spaced">gedacht</hi>? Das wäre mög<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>lich – man frage die Physiologen –, aber wer in
<lb n="12"/><hi rend="spaced">Worten</hi> denkt, denkt als Redner und nicht als Den<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>ker (es verräth, dass er im Grunde nicht Sachen, nicht
<lb n="14"/>sachlich denkt, sondern nur in Hinsicht auf Sachen,
<lb n="15"/>dass er eigentlich <hi rend="spaced">sich</hi> und seine Zuhörer denkt). Die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>ser Dritte da redet aufdringlich, er tritt zu nahe uns
<lb n="17"/>an den Leib, sein Athem haucht uns an, – unwillkür<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>lich schliessen wir den Mund, obwohl es ein Buch ist,
<lb n="19"/>durch das er zu uns spricht: der Klang seines Stils
<lb n="20"/>sagt den Grund davon, – dass er keine Zeit hat, dass er
<lb n="21"/>schlecht an sich selber glaubt, dass er heute oder nie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>mals mehr zu Worte kommt. Ein Geist aber, der seiner
<lb n="23"/>selbst gewiss ist, redet leise; er sucht die Verborgen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>heit, er lässt auf sich warten. Man erkennt einen Phi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>losophen daran, dass er drei glänzenden und lauten
<lb n="26"/>Dingen aus dem Wege geht, dem Ruhme, den Fürsten
<lb n="27"/>und den Frauen: womit nicht gesagt ist, dass sie nicht
<lb n="28"/>zu ihm kämen. Er scheut allzuhelles Licht: deshalb
<lb n="29"/>scheut er seine Zeit und deren „Tag“. Darin ist er
<lb n="30"/>wie ein Schatten: je mehr ihm die Sonne sinkt, um so
<lb n="31"/>grösser wird er. Was seine „Demuth“ angeht, so ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>trägt er, wie er das Dunkel verträgt, auch eine ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>wisse Abhängigkeit und Verdunkelung: mehr noch, er
<pb n="115" facs="#E40_0136" xml:id="Ed_115_id"/>
<lb n="1"/>fürchtet sich vor der Störung durch Blitze, er schreckt
<lb n="2"/>vor der Ungeschütztheit eines allzu isolirten und preis<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>gegebenen Baums zurück, an dem jedes schlechte
<lb n="4"/>Wetter seine Laune, jede Laune ihr schlechtes Wetter
<lb n="5"/>auslässt. Sein „mütterlicher“ Instinkt, die geheime
<lb n="6"/>Liebe zu dem, was in ihm wächst, weist ihn auf Lagen
<lb n="7"/>hin, wo man es <milestone unit="page" source="#Dm" n="b16r"/>ihm abnimmt, <hi rend="spaced">an sich</hi> zu denken; in
<lb n="8"/>gleichem Sinne, wie der Instinkt der <hi rend="spaced">Mutter</hi> im Weibe
<lb n="9"/>die abhängige Lage des Weibes überhaupt bisher fest<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>gehalten hat. Sie verlangen zuletzt wenig genug, diese
<lb n="11"/>Philosophen, ihr Wahlspruch ist „wer besitzt, wird be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>sessen“ –: <hi rend="spaced">nicht</hi>, wie ich wieder und wieder sagen
<lb n="13"/>muss, aus einer Tugend, aus einem verdienstlichen
<lb n="14"/>Willen zur Genügsamkeit und Einfalt, sondern weil es
<lb n="15"/>ihr oberster Herr <hi rend="spaced">so</hi> von ihnen verlangt, klug und un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>erbittlich verlangt: als welcher nur für Eins Sinn hat
<lb n="17"/>und Alles, Zeit, Kraft, Liebe, Interesse nur dafür samm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>let, nur dafür aufspart. Diese Art Mensch liebt es
<lb n="19"/>nicht, durch Feindschaften gestört zu werden, auch
<lb n="20"/>durch Freundschaften nicht: sie vergisst oder verachtet
<lb n="21"/>leicht. Es dünkt ihr ein schlechter Geschmack, den
<lb n="22"/>Märtyrer zu machen; „für die Wahrheit zu <hi rend="spaced">leiden</hi>“ –
<lb n="23"/>das überlässt sie den Ehrgeizigen und Bühnenhelden
<lb n="24"/>des Geistes und wer sonst Zeit genug dazu hat (– sie
<lb n="25"/>selbst, die Philosophen, haben Etwas für die Wahrheit
<lb n="26"/>zu <hi rend="spaced">thun</hi>). Sie machen einen sparsamen Verbrauch von
<lb n="27"/>grossen Worten; man sagt, dass ihnen selbst das Wort
<lb n="28"/>„Wahrheit“ widerstehe: es klinge grossthuerisch…
<lb n="29"/>Was endlich die „Keuschheit“ der Philosophen anbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>langt, so hat diese Art Geist ihre Fruchtbarkeit er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>sichtlich wo anders als in Kindern; vielleicht wo anders
<lb n="32"/>auch das Fortleben ihres Namens, ihre kleine Unsterb<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>lichkeit (noch unbescheidener drückte man sich im alten
<pb n="116" facs="#E40_0137" xml:id="Ed_116_id"/>
<lb n="1"/>Indien unter Philosophen aus „wozu Nachkommenschaft
<lb n="2"/>Dem, dessen Seele die Welt ist?“). Darin ist Nichts von
<lb n="3"/>Keuschheit aus irgend einem asketischen Skrupel und
<lb n="4"/>Sinnenhass, so wenig es Keuschheit ist, wenn ein Ath<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>let oder Jockey sich der Weiber enthält: so will es
<lb n="6"/>vielmehr, zum Mindesten für die Zeiten der grossen
<lb n="7"/>Schwangerschaft, ihr dominirender Instinkt. Jeder Ar<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>tist weiss, wie schädlich in Zuständen grosser geistiger
<lb n="9"/>Spannung und Vorbereitung der Beischlaf wirkt; für
<lb n="10"/>die mächtigsten und instinktsichersten unter ihnen ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>hört dazu nicht erst die Erfahrung, die schlimme Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>fahrung, – sondern eben ihr „mütterlicher“ Instinkt
<lb n="13"/>ist es, der hier zum Vortheil des werdenden Werkes
<lb n="14"/>rücksichtslos über alle sonstigen Vorräthe und Zuschüsse
<lb n="15"/>von Kraft, von vigor des animalen Lebens verfügt:
<lb n="16"/>die grössere Kraft <milestone unit="page" source="#Dm" n="b17r"/><hi rend="spaced">verbraucht</hi> dann die kleinere. –
<lb n="17"/>Man lege sich übrigens den oben besprochenen Fall
<lb n="18"/>Schopenhauer’s nach dieser Interpretation zurecht: der
<lb n="19"/>Anblick des Schönen wirkte offenbar bei ihm als aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>lösender Reiz auf die <hi rend="spaced">Hauptkraft</hi> seiner Natur (die
<lb n="21"/>Kraft der Besinnung und des vertieften Blicks); so dass
<lb n="22"/>diese dann explodirte und mit Einem Male Herr des
<lb n="23"/>Bewusstseins wurde. Damit soll durchaus die Möglich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>keit nicht ausgeschlossen sein, dass jene eigenthümliche
<lb n="25"/>Süssigkeit und Fülle, die dem ästhetischen Zustande
<lb n="26"/>eigen ist, gerade von der Ingredienz „Sinnlichkeit“
<lb n="27"/>ihre Herkunft nehmen könnte, (wie aus derselben
<lb n="28"/>Quelle jener „Idealismus“ stammt, der mannbaren Mäd<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>chen eignet) – dass somit die Sinnlichkeit beim Ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>tritt des ästhetischen Zustandes nicht aufgehoben ist,
<lb n="31"/>wie Schopenhauer glaubte, sondern sich nur transfigu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>rirt und nicht als Geschlechtsreiz mehr in’s Bewusst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>sein tritt. (Auf diesen Gesichtspunkt werde ich ein
<pb n="117" facs="#E40_0138" xml:id="Ed_117_id"/>
<lb n="1"/>andres Mal zurückkommen, im Zusammenhang mit
<lb n="2"/>noch delikateren Problemen der bisher so unberührten,
<lb n="3"/>so unaufgeschlossenen <hi rend="spaced">Physiologie der Ästhetik</hi>.)</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0309">
<head>
<lb n="4"/>9.</head>
<p>
<lb n="5" rend="indent"/>Ein gewisser Ascetismus, wir sahen es, eine harte
<lb n="6"/>und heitere Entsagsamkeit besten Willens gehört zu
<lb n="7"/>den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, ins<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>gleichen auch zu deren natürlichsten Folgen: so wird
<lb n="9"/>es von vornherein nicht Wunder nehmen, wenn das
<lb n="10"/>asketische Ideal gerade von den Philosophen nie ohne
<lb n="11"/>einige Voreingenommenheit behandelt worden ist. Bei
<lb n="12"/>einer ernsthaften historischen Nachrechnung erweist
<lb n="13"/>sich sogar das Band zwischen asketischem Ideal und
<lb n="14"/>Philosophie als noch viel enger und strenger. Man
<lb n="15"/>könnte sagen, dass erst am <hi rend="spaced">Gängelbande</hi> dieses
<lb n="16"/>Ideals die Philosophie überhaupt gelernt habe, ihre
<lb n="17"/>ersten Schritte und Schrittchen auf Erden zu machen –
<lb n="18"/>ach, noch so ungeschickt, ach, mit noch so verdross<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>nen Mienen, ach, so bereit, umzufallen und auf dem
<lb n="20"/>Bauch zu liegen, dieser kleine schüchterne Tapps und
<lb n="21"/>Zärtling mit krummen <milestone unit="page" source="#Dm" n="b18r"/>Beinen! Es ist der Philosophie
<lb n="22"/>anfangs ergangen wie allen guten Dingen, – sie hatten
<lb n="23"/>lange keinen Muth zu sich selber, sie sahen sich immer
<lb n="24"/>um, ob ihnen Niemand zu Hülfe kommen wolle, mehr
<lb n="25"/>noch, sie fürchteten sich vor Allen, die ihnen zusahn.
<lb n="26"/>Man rechne sich die einzelnen Triebe und Tugenden
<lb n="27"/>des Philosophen der Reihe nach vor – seinen anzwei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>felnden Trieb, seinen verneinenden Trieb, seinen ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>wartenden („ephektischen“) Trieb, seinen analytischen
<lb n="30"/>Trieb, seinen forschenden, suchenden, wagenden Trieb,
<lb n="31"/>seinen vergleichenden, ausgleichenden Trieb, seinen
<lb n="32"/>Willen zu Neutralität und Objektivität, seinen Willen
<pb n="118" facs="#E40_0139" xml:id="Ed_118_id"/>
<lb n="1"/>zu jedem „<hi rend="spaced">sine</hi> ira et studio“ –: hat man wohl schon
<lb n="2"/>begriffen, dass sie allesammt die längste Zeit den
<lb n="3"/>ersten Forderungen der Moral und des Gewissens ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>gegen giengen? (gar nicht zu reden von der <hi rend="spaced">Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>nunft</hi> überhaupt, welche noch Luther Fraw Klüglin
<lb n="6"/>die kluge Hur zu nennen liebte.) Dass ein Philosoph,
<lb n="7"/>falls er sich zum Bewusstsein gekommen <hi rend="spaced">wäre</hi>, sich
<lb n="8"/>geradezu als das leibhafte „nitimur in <hi rend="spaced">vetitum</hi>“ hätte
<lb n="9"/>fühlen müssen – und sich folglich <hi rend="spaced">hütete</hi>, „sich zu
<lb n="10"/>fühlen“, sich zum Bewusstsein zu kommen?… Es
<lb n="11"/>steht, wie gesagt, nicht anders mit allen guten Dingen,
<lb n="12"/>auf die wir heute stolz sind; selbst noch mit dem
<lb n="13"/>Maasse der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser
<lb n="14"/>ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, son<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>dern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hy<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>bris und Gottlosigkeit aus: denn gerade die umgekehr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>ten Dinge, als die sind, welche wir heute verehren,
<lb n="18"/>haben die längste Zeit das Gewissen auf ihrer Seite
<lb n="19"/>und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute
<lb n="20"/>unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Verge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>waltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>denklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit;
<lb n="23"/>Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend
<lb n="24"/>einer angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hin<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>ter dem grossen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit
<lb n="26"/>– wir dürften wie Karl der Kühne im Kampfe mit
<lb n="27"/>Ludwig dem Elften sagen „je combats l’universelle
<lb n="28"/>araignée“ –; Hybris ist unsre Stellung zu <hi rend="spaced">uns</hi>, –
<lb n="29"/>denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit
<lb n="30"/>keinem Thiere erlauben <choice><orig>würden</orig><corr source="#KGW #KSA">würden,</corr></choice> und schlitzen uns
<lb n="31"/>vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem <milestone unit="page" source="#Dm" n="b20r"/>Leibe
<lb n="32"/>auf: was liegt uns noch am „Heil“ der Seele! Hinter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>drein heilen wir uns selber: Kranksein ist lehrreich,
<pb n="119" facs="#E40_0140" xml:id="Ed_119_id"/>
<lb n="1"/>wir zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesund<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>sein, – die <hi rend="spaced">Krankmacher</hi> scheinen uns heute nöthi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>ger selbst als irgend welche Medizinmänner und „Hei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>lande“. <milestone unit="page" source="#Dm" n="b19r"/>Wir vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein
<lb n="5"/>Zweifel, wir Nussknacker der Seele, wir Fragenden und
<lb n="6"/>Fragwürdigen, wie als ob Leben nichts Anderes sei,
<lb n="7"/>als Nüsseknacken; ebendamit müssen wir nothwendig
<lb n="8"/>täglich immer noch fragwürdiger, <hi rend="spaced">würdiger</hi> zu fra<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>gen werden, ebendamit vielleicht auch würdiger – zu
<lb n="10"/>leben?… <milestone unit="page" source="#Dm" n="b20r"/>Alle guten Dinge waren ehemals schlimme
<lb n="11"/>Dinge; aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden.
<lb n="12"/>Die Ehe zum Beispiel schien lange eine Versündigung
<lb n="13"/>am Rechte der Gemeinde; man hat einst Busse dafür ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>zahlt, so unbescheiden zu sein und sich ein Weib für
<lb n="15"/>sich anzumaassen (dahin gehört zum Beispiel das jus
<lb n="16"/>primae noctis, heute noch in Cambodja das Vorrecht der
<lb n="17"/>Priester, dieser Bewahrer „alter guter Sitten“). Die sanf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>ten, wohlwollenden, nachgiebigen, mitleidigen Gefühle
<lb n="19"/>– nachgerade so hoch im Werthe, dass sie fast „die
<lb n="20"/>Werthe an sich“ sind – hatten die längste Zeit gerade
<lb n="21"/>die Selbstverachtung gegen sich: man schämte sich der
<lb n="22"/>Milde, wie man sich heute der Härte schämt (vergl.
<lb n="23"/>„Jenseits von Gut und Böse“ S. 232). Die Unterwer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>fung unter das <hi rend="spaced">Recht</hi>: – oh mit was für Gewissens-
<lb n="25"/>Widerstande haben die vornehmen Geschlechter überall
<lb n="26"/>auf Erden ihrerseits Verzicht auf Vendetta geleistet und
<lb n="27"/>dem Recht über sich Gewalt eingeräumt! Das „Recht“
<lb n="28"/>war lange ein vetitum, ein Frevel, eine Neuerung, es
<lb n="29"/>trat mit Gewalt auf, <hi rend="spaced">als</hi> Gewalt, der man sich nur mit
<lb n="30"/>Scham vor sich selber fügte. Jeder kleinste Schritt
<lb n="31"/>auf der Erde ist ehedem mit geistigen und körper<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>lichen Martern erstritten worden: dieser ganze Gesichts<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>punkt, „dass nicht nur das Vorwärtsschreiten, nein!
<pb n="120" facs="#E40_0141" xml:id="Ed_120_id"/>
<lb n="1"/>das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung ihre
<lb n="2"/>unzähligen Märtyrer nöthig gehabt hat“, klingt gerade
<lb n="3"/>heute uns so fremd, – ich habe ihn in der „Morgen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>röthe“ S. 17 ff. an’s Licht gestellt. „Nichts ist theurer
<lb n="5"/>erkauft, heisst es daselbst S. 19, als das Wenige von
<lb n="6"/>menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit,
<lb n="7"/>was jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist
<lb n="8"/>es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit
<lb n="9"/>jenen ungeheuren Zeitstrecken der „Sittlichkeit der
<lb n="10"/>Sitte“ <milestone unit="page" source="#Dm" n="b21r"/>zu empfinden, welche der „Weltgeschichte“ vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>ausliegen, als die wirkliche und entscheidende Haupt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>geschichte, welche den Charakter der Menschheit fest<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>gestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausam<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>keit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache
<lb n="15"/>als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend,
<lb n="16"/>dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wissbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>gierde als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden
<lb n="18"/>als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Ar<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>beit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die
<lb n="20"/><hi rend="spaced">Veränderung</hi> als das Unsittliche und Verderben<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>schwangere an sich überall in Geltung war!“ –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0310">
<head>
<lb n="22"/>10.</head>
<p>
<lb n="23" rend="indent"/>In demselben Buche S. 39 ist auseinandergesetzt,
<lb n="24"/>in welcher Schätzung, unter welchem <hi rend="spaced">Druck</hi> von
<lb n="25"/>Schätzung das älteste Geschlecht contemplativer Men<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>schen zu leben hatte, – genau so weit verachtet als es
<lb n="27"/>nicht gefürchtet wurde! Die Contemplation ist in ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>mummter Gestalt, in einem zweideutigen Ansehn, mit
<lb n="29"/>einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten
<lb n="30"/>Kopfe zuerst auf der Erde erschienen: daran ist kein
<lb n="31"/>Zweifel. Das Inaktive, Brütende, Unkriegerische in
<lb n="32"/>den Instinkten contemplativer Menschen legte lange
<pb n="121" facs="#E40_0142" xml:id="Ed_121_id"/>
<lb n="1"/>ein tiefes Misstrauen um sie herum: dagegen gab es
<lb n="2"/>kein anderes Mittel als entschieden <hi rend="spaced">Furcht</hi> vor sich
<lb n="3"/>erwecken. Und darauf haben sich zum Beispiel die
<lb n="4"/>alten Brahmanen verstanden! Die ältesten Philosophen
<lb n="5"/>wussten ihrem Dasein und Erscheinen einen Sinn, einen
<lb n="6"/>Halt und Hintergrund zu geben, auf den hin man sie
<lb n="7"/><hi rend="spaced">fürchten</hi> lernte: genauer erwogen, aus einem noch
<lb n="8"/>fundamentaleren Bedürfnisse heraus, nämlich um vor
<lb n="9"/>sich selbst Furcht und Ehrfurcht zu gewinnen. Denn
<lb n="10"/>sie fanden in sich alle Werthurtheile <hi rend="spaced">gegen</hi> sich ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>kehrt, sie hatten gegen „den Philosophen in sich“ jede
<lb n="12"/>Art Verdacht und Widerstand niederzukämpfen. Dies
<lb n="13"/>thaten sie, als Menschen furchtbarer Zeitalter, mit
<lb n="14"/>furchtbaren Mitteln: die Grausamkeit gegen sich, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b22r"/>die
<lb n="15"/>erfinderische Selbstkasteiung – das war das Haupt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>mittel dieser machtdurstigen Einsiedler und Gedanken-
<lb n="17"/>Neuerer, welche es nöthig hatten, in sich selbst erst
<lb n="18"/>die Götter und das Herkömmliche zu vergewaltigen,
<lb n="19"/>um selbst an ihre Neuerung <hi rend="spaced">glauben</hi> zu können. Ich
<lb n="20"/>erinnere an die berühmte Geschichte des Königs
<lb n="21"/>Viçvamitra, der aus tausendjährigen Selbstmarterungen
<lb n="22"/>ein solches Machtgefühl und Zutrauen zu sich gewann,
<lb n="23"/>dass er es unternahm, einen <hi rend="spaced">neuen Himmel</hi> zu bauen:
<lb n="24"/>das unheimliche Symbol der ältesten und jüngsten Phi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>losophen-Geschichte auf Erden, – Jeder, der irgend<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>wann einmal einen „neuen Himmel“ gebaut hat, fand
<lb n="27"/>die Macht dazu erst in der <hi rend="spaced">eignen Hölle</hi>… Drücken
<lb n="28"/>wir den ganzen Thatbestand in kurze Formeln zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>sammen: der philosophische Geist hat sich zunächst
<lb n="30"/>immer in die <hi rend="spaced">früher festgestellten</hi> Typen des con<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>templativen Menschen verkleiden und verpuppen müssen,
<lb n="32"/>als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als religiö<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>ser Mensch, um in irgend einem Maasse auch nur
<pb n="122" facs="#E40_0143" xml:id="Ed_122_id"/>
<lb n="1"/><hi rend="spaced">möglich zu sein: das asketische Ideal</hi> hat lange
<lb n="2"/>Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Exi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>stenz-Voraussetzung gedient, – er musste es <hi rend="spaced">dar<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>stellen</hi>, um Philosoph sein zu können, er musste an
<lb n="5"/>dasselbe <hi rend="spaced">glauben</hi>, um es darstellen zu können. Die
<lb n="6"/>eigenthümlich weltverneinende, lebensfeindliche, sinnen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>ungläubige, entsinnlichte Abseits-Haltung der Phi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>losophen, welche bis auf die neueste Zeit festgehalten
<lb n="9"/>worden ist und damit beinahe als <hi rend="spaced">Philosophen-
<lb n="10"/>Attitüde an sich</hi> Geltung gewonnen hat, – sie ist
<lb n="11"/>vor Allem eine Folge des Nothstandes von Bedingun<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>gen, unter denen Philosophie überhaupt entstand und
<lb n="13"/>bestand: insofern nämlich die längste Zeit Philosophie
<lb n="14"/>auf Erden <hi rend="spaced">gar nicht möglich</hi> gewesen wäre ohne
<lb n="15"/>eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein
<lb n="16"/>asketisches Selbst-Missverständniss. Anschaulich und
<lb n="17"/>augenscheinlich ausgedrückt: der <hi rend="spaced">asketische Prie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>ster</hi> hat bis auf die neueste Zeit die widrige und
<lb n="19"/>düstere Raupenform abgegeben, unter der allein die
<lb n="20"/>Philosophie leben durfte und herumschlich… Hat
<lb n="21"/>sich das wirklich <hi rend="spaced">verändert</hi>? Ist das bunte und ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>fährliche Flügelthier, jener „Geist“, den diese Raupe
<lb n="23"/>in sich barg, wirklich, Dank einer sonnigeren, wärmeren,
<lb n="24"/>aufgehellteren Welt, zuletzt doch noch entkuttet und
<lb n="25"/><milestone unit="page" source="#Dm" n="b23r"/>in’s Licht hinausgelassen worden? Ist heute schon
<lb n="26"/>genug Stolz, Wagniss, Tapferkeit, Selbstgewissheit,
<lb n="27"/>Wille des Geistes, Wille zur Verantwortlichkeit, <hi rend="spaced">Frei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>heit des Willens</hi> vorhanden, dass wirklich nunmehr
<lb n="29"/>auf Erden „der Philosoph“ – <hi rend="spaced">möglich</hi> ist?… </p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0311">
<head>
<lb n="30"/>11.</head>
<p>
<lb n="31" rend="indent"/>Jetzt erst, nachdem wir den <hi rend="spaced">asketischen Prie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>ster</hi> in Sicht bekommen haben, rücken wir unsrem
<pb n="123" facs="#E40_0144" xml:id="Ed_123_id"/>
<lb n="1"/>Probleme: was bedeutet das asketische Ideal? ernsthaft
<lb n="2"/>auf den Leib, – jetzt erst wird es „Ernst“: wir haben
<lb n="3"/>nunmehr den eigentlichen <hi rend="spaced">Repräsentanten des Ern<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>stes</hi> überhaupt uns gegenüber. „Was bedeutet aller
<lb n="5"/>Ernst?“ – diese noch grundsätzlichere Frage legt sich
<lb n="6"/>vielleicht hier schon auf unsre Lippen: eine Frage für
<lb n="7"/>Physiologen, wie billig, an der wir aber einstweilen
<lb n="8"/>noch vorüberschlüpfen. Der asketische Priester hat in
<lb n="9"/>jenem Ideale nicht nur seinen Glauben, sondern auch
<lb n="10"/>seinen Willen, seine Macht, sein Interesse. Sein <hi rend="spaced">Recht</hi>
<lb n="11"/>zum Dasein steht und fällt mit jenem Ideale: was Wun<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>der, dass wir hier auf einen furchtbaren Gegner stossen,
<lb n="13"/>gesetzt nämlich, dass wir die Gegner jenes Ideales wä<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>ren? <choice><orig>eines</orig><corr source="#KGW #KSA">einen</corr></choice> solchen, der um seine Existenz gegen die
<lb n="15"/>Leugner jenes Ideales kämpft?… Andrerseits ist es
<lb n="16"/>von vornherein nicht wahrscheinlich, dass eine derge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>stalt interessirte Stellung zu unsrem Probleme diesem
<lb n="18"/>sonderlich zu Nutze kommen wird; der asketische Prie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>ster wird schwerlich selbst nur den glücklichsten Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>theidiger seines Ideals abgeben, aus dem gleichen
<lb n="21"/>Grunde, aus dem es einem Weibe zu misslingen pflegt,
<lb n="22"/>wenn es „das Weib an sich“ vertheidigen will, – ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>schweige denn den objektivsten Beurtheiler und Richter
<lb n="24"/>der hier aufgeregten Controverse. Eher also werden
<lb n="25"/>wir ihm noch zu helfen haben – so viel liegt jetzt
<lb n="26"/>schon auf der Hand – sich gut gegen uns zu verthei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>digen als dass wir zu fürchten hätten, zu gut von ihm
<lb n="28"/>widerlegt zu werden… Der Gedanke, um den hier ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>kämpft wird, ist die <hi rend="spaced">Werthung</hi> unsres Lebens seitens
<lb n="30"/>der asketischen Priester: dasselbe wird (sammt dem,
<lb n="31"/>wozu es gehört, „Natur“, „Welt“, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b24r"/>die gesammte Sphäre
<lb n="32"/>des Werdens und der Vergänglichkeit) von ihnen in Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>ziehung gesetzt zu einem ganz andersartigen Dasein,
<pb n="124" facs="#E40_0145" xml:id="Ed_124_id"/>
<lb n="1"/>zu dem es sich gegensätzlich und ausschliessend ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>hält, <hi rend="spaced">es sei denn</hi>, dass es sich etwa gegen sich selber
<lb n="3"/>wende, <hi rend="spaced">sich selbst verneine</hi>: in diesem Falle, dem
<lb n="4"/>Falle eines asketischen Lebens, gilt das Leben als eine
<lb n="5"/>Brücke für jenes andre Dasein. Der Asket behandelt
<lb n="6"/>das Leben wie einen Irrweg, den man endlich rück<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>wärts gehn müsse, bis dorthin, wo er anfängt; oder
<lb n="8"/>wie einen Irrthum, den man durch die That widerlege –
<lb n="9"/>widerlegen <hi rend="spaced">solle</hi>: denn er <hi rend="spaced">fordert</hi>, dass man mit ihm
<lb n="10"/>gehe, er erzwingt, wo er kann, <hi rend="spaced">seine</hi> Werthung des
<lb n="11"/>Daseins. Was bedeutet das? Eine solche ungeheuer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>liche Werthungsweise steht nicht als Ausnahmefall und
<lb n="13"/>Curiosum in die Geschichte des Menschen eingeschrie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>ben: sie ist eine der breitesten und längsten That<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>sachen, die es giebt. Von einem fernen Gestirn aus
<lb n="16"/>gelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres
<lb n="17"/>Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei
<lb n="18"/>der eigentlich <hi rend="spaced">asketische Stern</hi>, ein Winkel miss<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>vergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe, die
<lb n="20"/>einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem
<lb n="21"/>Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel
<lb n="22"/>Wehe thäten als möglich, aus Vergnügen am Wehe-
<lb n="23"/>thun: – wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen.
<lb n="24"/>Erwägen wir doch, wie regelmässig, wie allgemein,
<lb n="25"/>wie fast zu allen Zeiten der asketische Priester in die
<lb n="26"/>Erscheinung tritt; er gehört keiner einzelnen Rasse an;
<lb n="27"/>er gedeiht überall; er wächst aus allen Ständen her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>aus. Nicht dass er etwa seine Werthungsweise durch
<lb n="29"/>Vererbung züchtete und weiterpflanzte: das Gegentheil
<lb n="30"/>ist der Fall, – ein tiefer Instinkt verbietet ihm viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>mehr, in’s Grosse gerechnet, die Fortpflanzung. Es
<lb n="32"/>muss eine Necessität ersten Rangs sein, welche diese
<lb n="33"/><hi rend="spaced">lebensfeindliche</hi> Species immer wieder wachsen und
<pb n="125" facs="#E40_0146" xml:id="Ed_125_id"/>
<lb n="1"/>gedeihen macht, – es muss wohl ein <hi rend="spaced">Interesse des
<lb n="2"/>Lebens selbst</hi> sein, dass ein solcher Typus des
<lb n="3"/>Selbstwiderspruchs nicht ausstirbt. Denn ein asketisches
<lb n="4"/>Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein
<lb n="5"/>Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten
<lb n="6"/>Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte,
<lb n="7"/>nicht über Etwas am Leben, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b25r"/>sondern über das Leben
<lb n="8"/>selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingun<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>gen; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>brauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen;
<lb n="11"/>hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen
<lb n="12"/>das physiologische Gedeihen selbst, in Sonderheit
<lb n="13"/>gegen deren Ausdruck, die Schönheit, die Freude; wäh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>rend am Missrathen, Verkümmern, am Schmerz, am
<lb n="15"/>Unfall, am Hässlichen, an der willkürlichen Einbusse,
<lb n="16"/>an der Entselbstung, Selbstgeisselung, Selbstopferung
<lb n="17"/>ein Wohlgefallen empfunden und <hi rend="spaced">gesucht</hi> wird. Dies
<lb n="18"/>ist Alles im höchsten Grade paradox: wir stehen hier
<lb n="19"/>vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig
<lb n="20"/><hi rend="spaced">will</hi>, welche sich selbst in diesem Leiden <hi rend="spaced">geniesst</hi>
<lb n="21"/>und in dem Maasse sogar immer selbstgewisser und
<lb n="22"/>triumphirender wird, als ihre eigne Voraussetzung,
<lb n="23"/>die physiologische Lebensfähigkeit, <hi rend="spaced">abnimmt</hi>. „Der
<lb n="24"/>Triumph gerade in der letzten Agonie“: unter diesem
<lb n="25"/>superlativischen Zeichen kämpfte von jeher das aske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>tische Ideal; in diesem Räthsel von Verführung, in
<lb n="27"/>diesem Bilde von Entzücken und Qual erkannte es sein
<lb n="28"/>hellstes Licht, sein Heil, seinen endlichen Sieg. Crux,
<lb n="29"/>nux, lux – das gehört bei ihm in Eins. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0312">
<head>
<lb n="30"/>12.</head>
<p>
<lb n="31" rend="indent"/>Gesetzt, dass ein solcher leibhafter Wille zur Con<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>tradiction und Widernatur dazu gebracht wird, zu <hi rend="spaced">phi<pc force="weak">-</pc>
<pb n="126" facs="#E40_0147" xml:id="Ed_126_id"/>
<lb n="1"/>losophiren</hi>: woran wird er seine innerlichste Will<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>kür auslassen? An dem, was am allersichersten als
<lb n="3"/>wahr, als real empfunden wird: er wird den <hi rend="spaced">Irrthum</hi>
<lb n="4"/>gerade dort suchen, wo der eigentliche Lebens-Instinkt
<lb n="5"/>die Wahrheit am unbedingtesten ansetzt. Er wird zum
<lb n="6"/>Beispiel, wie es die Asketen der Vedânta-Philosophie
<lb n="7"/>thaten, die Leiblichkeit zur Illusion herabsetzen, den
<lb n="8"/>Schmerz insgleichen, die Vielheit, den ganzen Begriffs-
<lb n="9"/>Gegensatz „Subjekt“ und „Objekt“ – Irrthümer, Nichts
<lb n="10"/>als Irrthümer! Seinem Ich den Glauben versagen, sich
<lb n="11"/>selber seine „Realität“ verneinen – welcher Triumph!
<lb n="12"/>– schon nicht mehr bloss über die Sinne, über den
<lb n="13"/>Augenschein, eine viel höhere Art Triumph, eine Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>gewaltigung und Grausamkeit an der <hi rend="spaced">Vernunft</hi>: als
<lb n="15"/>welche Wollust damit auf den Gipfel kommt, dass die
<lb n="16"/>asketische Selbstverachtung, Selbstverhöhnung der Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>nunft dekretirt: „es <hi rend="spaced">giebt</hi> ein Reich der Wahrheit und
<lb n="18"/>des Seins, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b26r"/>aber gerade die Vernunft ist davon <hi rend="spaced">ausge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>schlossen</hi>!“… (Anbei gesagt: selbst noch in dem
<lb n="20"/>Kantischen Begriff „intelligibler Charakter der Dinge“
<lb n="21"/>ist Etwas von dieser lüsternen Asketen-Zwiespältigkeit
<lb n="22"/>rückständig, welche Vernunft gegen Vernunft zu kehren
<lb n="23"/>liebt: „intelligibler Charakter“ bedeutet nämlich bei
<lb n="24"/>Kant eine Art Beschaffenheit der Dinge, von der der
<lb n="25"/>Intellekt gerade soviel begreift, dass sie für den In<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>tellekt – <hi rend="spaced">ganz und gar unbegreiflich</hi> ist.) – Seien
<lb n="27"/>wir zuletzt, gerade als Erkennende, nicht undankbar
<lb n="28"/>gegen solche resolute Umkehrungen der gewohnten
<lb n="29"/>Perspektiven und Werthungen, mit denen der Geist all<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>zulange scheinbar freventlich und nutzlos gegen sich
<lb n="31"/>selbst gewüthet hat: dergestalt einmal anders sehn,
<lb n="32"/>anders-sehn-<hi rend="spaced">wollen</hi> ist keine kleine Zucht und Vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>bereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen „Ob<pc force="weak">-</pc>
<pb n="127" facs="#E40_0148" xml:id="Ed_127_id"/>
<lb n="1"/>jektivität“, – letztere nicht als „interesselose Anschau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>ung“ verstanden (als welche ein Unbegriff und Wider<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>sinn ist), sondern als das Vermögen, sein Für und Wi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>der <hi rend="spaced">in der Gewalt zu haben</hi> und aus- und einzu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>hängen: so dass man sich gerade die <hi rend="spaced">Verschieden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>heit</hi> der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen
<lb n="7"/>für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss. Hüten
<lb n="8"/>wir uns nämlich, meine Herrn Philosophen, von nun
<lb n="9"/>an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei,
<lb n="10"/>welche ein „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses
<lb n="11"/>Subjekt der Erkenntniss“ angesetzt hat, hüten wir uns
<lb n="12"/>vor den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe
<lb n="13"/>wie „reine Vernunft“, „absolute Geistigkeit“, „Erkennt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>niss an sich“: – hier wird immer ein Auge zu denken
<lb n="15"/>verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge,
<lb n="16"/>das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die
<lb n="17"/>aktiven und interpretirenden Kräfte unterbunden sein
<lb n="18"/>sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-
<lb n="19"/>Sehen wird, hier wird also immer ein Widersinn und Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>begriff von Auge verlangt. Es giebt <hi rend="spaced">nur</hi> ein perspek<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>tivisches Sehen, <hi rend="spaced">nur</hi> ein perspektivisches „Erkennen“;
<lb n="22"/>und <hi rend="spaced">je mehr</hi> Affekte wir über eine Sache zu Worte
<lb n="23"/>kommen lassen, <hi rend="spaced">je mehr</hi> Augen, verschiedne Augen
<lb n="24"/>wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so
<lb n="25"/>vollständiger wird unser „Begriff“ dieser Sache, unsre
<lb n="26"/>„Objektivität“ sein. Den Willen aber <milestone unit="page" source="#Dm" n="b27r"/>überhaupt elimi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>niren, die Affekte sammt und sonders aushängen, ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>setzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht
<lb n="29"/>den Intellekt <hi rend="spaced">castriren</hi>?…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0313">
<head>
<lb n="30"/>13.</head>
<p>
<lb n="31" rend="indent"/>Aber kehren wir zurück. Ein solcher Selbstwider<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>spruch, wie er sich im Asketen darzustellen scheint,
<pb n="128" facs="#E40_0149" xml:id="Ed_128_id"/>
<lb n="1"/>„Leben <hi rend="spaced">gegen</hi> Leben“ ist – so viel liegt zunächst auf
<lb n="2"/>der Hand – physiologisch und nicht mehr psycholo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>gisch nachgerechnet, einfach Unsinn. Er kann nur
<lb n="4"/><hi rend="spaced">scheinbar</hi> sein; er muss eine Art vorläufigen Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>drucks, eine Auslegung, Formel, Zurechtmachung, ein
<lb n="6"/>psychologisches Missverständniss von Etwas sein, dessen
<lb n="7"/>eigentliche Natur lange nicht verstanden, lange nicht
<lb n="8"/><hi rend="spaced">an sich</hi> bezeichnet werden konnte, – ein blosses
<lb n="9"/>Wort, eingeklemmt in eine alte <hi rend="spaced">Lücke</hi> der mensch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>lichen Erkenntniss. Und dass ich kurz den Thatbestand
<lb n="11"/>dagegen stelle: <hi rend="spaced">das asketische Ideal entspringt
<lb n="12"/>dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degene<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>rirenden Lebens</hi>, welches sich mit allen Mitteln zu
<lb n="14"/>halten sucht und um sein Dasein kämpft; es deutet auf
<lb n="15"/>eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung
<lb n="16"/>hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen In<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>stinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und
<lb n="18"/>Erfindungen ankämpfen. Das asketische Ideal ist ein
<lb n="19"/>solches Mittel: es steht also gerade umgekehrt als es
<lb n="20"/>die Verehrer dieses Ideals meinen, – das Leben ringt
<lb n="21"/>in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und <hi rend="spaced">gegen</hi>
<lb n="22"/>den Tod, das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der
<lb n="23"/><hi rend="spaced">Erhaltung</hi> des Lebens. Dass dasselbe in dem Maasse,
<lb n="24"/>wie die Geschichte es lehrt, über den Menschen walten
<lb n="25"/>und mächtig werden konnte, in Sonderheit überall
<lb n="26"/>dort, wo die Civilisation und Zähmung des Menschen
<lb n="27"/>durchgesetzt wurde, darin drückt sich eine grosse That<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>sache aus, die <hi rend="spaced">Krankhaftigkeit</hi> im bisherigen Ty<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>pus des Menschen, zum Mindesten des zahm gemachten
<lb n="30"/>Menschen, das physiologische Ringen des Menschen
<lb n="31"/>mit dem Tode (genauer: mit dem Überdrusse am Le<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>ben, mit der Ermüdung, mit dem Wunsche nach
<lb n="33"/>dem „Ende“). Der asketische Priester <milestone unit="page" source="#Dm" n="b28r"/>ist der fleisch<pc force="weak">-</pc><anchor xml:id="Bogen8End"/><milestone xml:id="Bogen9" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen9End"/>
<pb n="129" facs="#E40_0150" xml:id="Ed_129_id"/>
<lb n="1"/>gewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anderswo-
<lb n="2"/>sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, dessen
<lb n="3"/>eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben die
<lb n="4"/><hi rend="spaced">Macht</hi> seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier
<lb n="5"/>anbindet, eben damit wird er zum Werkzeug, das daran
<lb n="6"/>arbeiten muss, günstigere Bedingungen für das Hier-
<lb n="7"/>sein und Mensch-sein zu schaffen, – eben mit dieser
<lb n="8"/><hi rend="spaced">Macht</hi> hält er die ganze Heerde der Missrathnen,
<lb n="9"/>Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten,
<lb n="10"/>An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er
<lb n="11"/>ihnen instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich
<lb n="12"/>bereits: dieser asketische Priester, dieser anscheinende
<lb n="13"/>Feind des Lebens, dieser <hi rend="spaced">Verneinende</hi>, – er gerade
<lb n="14"/>gehört zu den ganz grossen <hi rend="spaced">conservirenden</hi> und Ja-
<lb n="15"/><hi rend="spaced">schaffenden</hi> Gewalten des Lebens… Woran sie
<lb n="16"/>hängt, jene Krankhaftigkeit? Denn der Mensch ist
<lb n="17"/>kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als
<lb n="18"/>irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, – er ist
<lb n="19"/><hi rend="spaced">das</hi> kranke Thier: woher kommt das? Sicherlich hat
<lb n="20"/>er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal
<lb n="21"/>herausgefordert als alle übrigen Thiere zusammen ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>nommen: er, der grosse Experimentator mit sich, der
<lb n="23"/>Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>schaft mit Thier, Natur und Göttern ringt, – er, der
<lb n="25"/>immer noch Unbezwungne, der ewig-Zukünftige, der
<lb n="26"/>vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr
<lb n="27"/>findet, so dass ihm seine Zukunft unerbittlich wie
<lb n="28"/>ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt: – wie
<lb n="29"/>sollte ein solches muthiges und reiches Thier nicht
<lb n="30"/>auch das am meisten gefährdete, das am Längsten und
<lb n="31"/>Tiefsten kranke unter allen kranken Thieren sein?…
<lb n="32"/>Der Mensch hat es satt, oft genug, es giebt ganze
<lb n="33"/>Epidemien dieses Satthabens (– so um 1348 herum,
<pb n="130" facs="#E40_0151" xml:id="Ed_130_id"/>
<lb n="1"/>zur Zeit des Todtentanzes): aber selbst noch dieser Ekel,
<lb n="2"/>diese Müdigkeit, dieser Verdruss an sich selbst – Alles
<lb n="3"/>tritt an ihm so mächtig heraus, dass es sofort wieder
<lb n="4"/>zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum
<lb n="5"/>Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine
<lb n="6"/>Fülle zarterer Ja’s an’s Licht; ja wenn er sich <hi rend="spaced">ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>wundet</hi>, dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstö<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>rung, – hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn
<lb n="9"/>zwingt, <hi rend="spaced">zu leben</hi>…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0314"><milestone unit="page" source="#Dm" n="b29r"/>
<head>
<lb n="10"/>14. </head>
<p>
<lb n="11" rend="indent"/>Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist
<lb n="12"/>– und wir können diese Normalität nicht in Abrede
<lb n="13"/>stellen –, um so höher sollte man die seltnen Fälle der
<lb n="14"/>seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die <hi rend="spaced">Glücksfälle</hi> des
<lb n="15"/>Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohl<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>gerathenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft
<lb n="17"/>behüten. Thut man das?… Die Kranken sind die grösste
<lb n="18"/>Gefahr für die Gesunden; <hi rend="spaced">nicht</hi> von den Stärksten
<lb n="19"/>kommt das Unheil für die Starken, sondern von den
<lb n="20"/>Schwächsten. Weiss man das?… In’s Grosse gerechnet,
<lb n="21"/>ist es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren
<lb n="22"/>Verminderung man wünschen dürfte: denn diese Furcht
<lb n="23"/>zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furcht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>bar zu sein, – sie hält den wohlgerathenen Typus
<lb n="25"/>Mensch <hi rend="spaced">aufrecht</hi>. Was zu fürchten ist, was verhäng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>nissvoll wirkt wie kein andres Verhängniss, das wäre
<lb n="27"/>nicht die grosse Furcht, sondern der grosse <hi rend="spaced">Ekel</hi> vor
<lb n="28"/>dem Menschen; insgleichen das grosse <hi rend="spaced">Mitleid</hi> mit
<lb n="29"/>dem Menschen. Gesetzt, dass diese beiden eines Tages
<lb n="30"/>sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas
<lb n="31"/>vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der „letzte
<lb n="32"/>Wille“ des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>lismus. Und in der That: hierzu ist Viel vorbereitet.
<pb n="131" facs="#E40_0152" xml:id="Ed_131_id"/>
<lb n="1"/>Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern
<lb n="2"/>auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall,
<lb n="3"/>wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-,
<lb n="4"/>wie Krankenhaus-Luft, – ich rede, wie billig, von den
<lb n="5"/>Culturgebieten des Menschen, von jeder Art „Europa“,
<lb n="6"/>das es nachgerade auf Erden giebt. Die <hi rend="spaced">Krankhaf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>ten</hi> sind des Menschen grosse Gefahr: <hi rend="spaced">nicht</hi> die Bö<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>sen, <hi rend="spaced">nicht</hi> die „Raubthiere“. Die von vornherein Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>unglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochnen – sie sind
<lb n="10"/>es, die <hi rend="spaced">Schwächsten</hi> sind es, welche am Meisten das
<lb n="11"/>Leben unter Menschen unterminiren, welche unser Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>trauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefähr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>lichsten vergiften und in Frage stellen. Wo entgienge
<lb n="14"/>man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine
<lb n="15"/>tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten
<lb n="16"/>Blick des Missgebornen von Anbeginn, der es verräth,
<lb n="17"/>wie ein solcher <milestone unit="page" source="#Dm" n="b30r"/>Mensch zu sich selber spricht, – jenem
<lb n="18"/>Blick, der ein Seufzer ist. „Möchte ich irgend Jemand
<lb n="19"/>Anderes sein! so seufzt dieser Blick: aber da ist keine
<lb n="20"/>Hoffnung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir
<lb n="21"/>selber los? Und doch – <hi rend="spaced">habe ich mich satt!</hi>“…
<lb n="22"/>Auf solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>lichen Sumpfboden, wächst jedes Unkraut, jedes Gift<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>gewächs, und alles so klein, so versteckt, so unehrlich,
<lb n="25"/>so süsslich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und
<lb n="26"/>Nachgefühle; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten
<lb n="27"/>und Uneingeständlichkeiten; hier spinnt sich beständig
<lb n="28"/>das Netz der bösartigsten Verschwörung, – der Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>schwörung der Leidenden gegen die Wohlgerathenen
<lb n="30"/>und Siegreichen, hier wird der Aspekt des Siegreichen
<lb n="31"/><hi rend="spaced">gehasst</hi>. Und welche Verlogenheit, um diesen Hass nicht
<lb n="32"/>als Hass einzugestehn! Welcher Aufwand an grossen
<lb n="33"/>Worten und Attitüden, welche Kunst der „rechtschaffnen“
<pb n="132" facs="#E40_0153" xml:id="Ed_132_id"/>
<lb n="1"/>Verleumdung! Diese Missrathenen: welche edle Bered<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>samkeit entströmt ihren Lippen! Wie viel zuckrige, schlei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>mige, demüthige Ergebung schwimmt in ihren Augen!
<lb n="4"/>Was wollen sie eigentlich? Die Gerechtigkeit, die Liebe,
<lb n="5"/>die Weisheit, die Überlegenheit wenigstens <hi rend="spaced">darstellen</hi>
<lb n="6"/>– das ist der Ehrgeiz dieser „Untersten“, dieser Kran<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>ken! Und wie geschickt macht ein solcher Ehrgeiz!
<lb n="8"/>Man bewundere namentlich die Falschmünzer-Geschick<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>lichkeit, mit der hier das Gepräge der Tugend, selbst
<lb n="10"/>der Klingklang, der Goldklang der Tugend nachge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>macht wird. Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar
<lb n="12"/>für sich in Pacht genommen, diese Schwachen und
<lb n="13"/>Heillos-Krankhaften, daran ist kein Zweifel: „wir allein
<lb n="14"/>sind die Guten, die Gerechten, so sprechen sie, wir
<lb n="15"/>allein sind die homines bonae voluntatis.“ Sie wandeln
<lb n="16"/>unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen
<lb n="17"/>an uns, – wie als ob Gesundheit, Wohlgerathenheit,
<lb n="18"/>Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte
<lb n="19"/>Dinge seien, für die man einst büssen, bitter büssen
<lb n="20"/>müsse: oh wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind,
<lb n="21"/>büssen zu <hi rend="spaced">machen</hi>, wie sie darnach dürsten, <hi rend="spaced">Henker</hi>
<lb n="22"/>zu sein! Unter ihnen giebt es in Fülle die zu Rich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>tern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das
<lb n="24"/>Wort „Gerechtigkeit“ wie einen <milestone unit="page" source="#Dm" n="b31r"/>giftigen Speichel im
<lb n="25"/>Munde tragen, immer gespitzten Mundes, immer be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>reit, Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und
<lb n="27"/>guten Muths seine Strasse zieht. Unter ihnen fehlt
<lb n="28"/>auch jene ekelhafteste Species der Eitlen nicht, die
<lb n="29"/>verlognen Missgeburten, die darauf aus sind, „schöne
<lb n="30"/>Seelen“ darzustellen und etwa ihre verhunzte Sinnlich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>keit, in Verse und andere Windeln gewickelt, als „Rein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>heit des Herzens“ auf den Markt bringen: die Species
<lb n="33"/>der moralischen Onanisten und „Selbstbefriediger“. Der
<pb n="133" facs="#E40_0154" xml:id="Ed_133_id"/>
<lb n="1"/>Wille der Kranken, <hi rend="spaced">irgend</hi> eine Form der Überlegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>heit darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege, die zu
<lb n="3"/>einer Tyrannei über die Gesunden führen, – wo fände
<lb n="4"/>er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur
<lb n="5"/>Macht! Das kranke Weib in Sonderheit: Niemand
<lb n="6"/>übertrifft es in Raffinements, zu herrschen, zu drücken,
<lb n="7"/>zu tyrannisiren. Das kranke Weib schont dazu nichts
<lb n="8"/>Lebendiges, nichts Todtes, es gräbt die begrabensten
<lb n="9"/>Dinge wieder auf (die Bogos sagen: „das Weib ist eine
<lb n="10"/>Hyäne“). Man blicke in die Hintergründe jeder Familie,
<lb n="11"/>jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall der
<lb n="12"/>Kampf der Kranken gegen die Gesunden, – ein stiller
<lb n="13"/>Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>stichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter
<lb n="15"/>aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der <hi rend="spaced">lauten</hi>
<lb n="16"/>Gebärde, der am liebsten „die edle Entrüstung“ spielt.
<lb n="17"/>Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein
<lb n="18"/>möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>gebell der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit
<lb n="20"/>und Wuth solcher „edlen“ Pharisäer (– ich erinnere Le<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>ser, die Ohren haben, nochmals an jenen Berliner Rache-
<lb n="22"/>Apostel Eugen Dühring, der im heutigen Deutschland
<lb n="23"/>den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom
<lb n="24"/>moralischen Bumbum macht: Dühring, das erste Moral-
<lb n="25"/>Grossmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seines
<lb n="26"/>Gleichen, den Antisemiten). Das sind alles Menschen
<lb n="27"/>des Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten
<lb n="28"/>und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>terirdischer Rache, unerschöpflich, unersättlich in Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>brüchen gegen die Glücklichen und ebenso in Maske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>raden der Rache, in Vorwänden zur Rache: wann
<lb n="32"/>würden sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sub<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>limsten Triumph der Rache kommen? Dann unzweifel<pc force="weak">-</pc>
<pb n="134" facs="#E40_0155" xml:id="Ed_134_id"/>
<lb n="1"/>haft, wenn es ihnen gelänge, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b32r"/>ihr eignes Elend, alles
<lb n="2"/>Elend überhaupt den Glücklichen <hi rend="spaced">in’s Gewissen zu
<lb n="3"/>schieben</hi>: so dass diese sich eines Tags ihres Glücks
<lb n="4"/>zu schämen begönnen und vielleicht unter einander
<lb n="5"/>sich sagten: „es ist eine Schande, glücklich zu sein! <hi rend="spaced">es
<lb n="6"/>giebt zu viel Elend!</hi>“… Aber es könnte gar kein
<lb n="7"/>grösseres und verhängnissvolleres Missverständniss ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>ben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die Wohlge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>rathenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfiengen,
<lb n="10"/>an ihrem <hi rend="spaced">Recht auf Glück</hi> zu zweifeln. Fort mit
<lb n="11"/>dieser „verkehrten Welt“! Fort mit dieser schändlichen
<lb n="12"/>Verweichlichung des Gefühls! Dass die Kranken <hi rend="spaced">nicht</hi>
<lb n="13"/>die Gesunden krank machen – und dies wäre eine
<lb n="14"/>solche Verweichlichung – das sollte doch der oberste
<lb n="15"/>Gesichtspunkt auf Erden sein: – dazu aber gehört vor
<lb n="16"/>allen Dingen, dass die Gesunden von den Kranken <hi rend="spaced">ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>getrennt</hi> bleiben, behütet selbst vor dem Anblick der
<lb n="18"/>Kranken, dass sie sich nicht mit den Kranken ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>wechseln. Oder wäre es etwa ihre Aufgabe, Kranken<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>wärter oder Ärzte zu sein?… Aber sie könnten <hi rend="spaced">ihre</hi>
<lb n="21"/>Aufgabe gar nicht schlimmer verkennen und verleug<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>nen, – das Höhere <hi rend="spaced">soll</hi> sich nicht zum Werkzeug des
<lb n="23"/>Niedrigeren herabwürdigen, das Pathos der Distanz
<lb n="24"/><hi rend="spaced">soll</hi> in alle Ewigkeit auch die Aufgaben aus einander
<lb n="25"/>halten! Ihr Recht, dazusein, das Vorrecht der Glocke
<lb n="26"/>mit vollem Klange vor der misstönigen, zersprungenen,
<lb n="27"/>ist ja ein tausendfach grösseres: sie allein sind die
<lb n="28"/><hi rend="spaced">Bürgen</hi> der Zukunft, sie allein sind <hi rend="spaced">verpflichtet</hi>
<lb n="29"/>für die Menschen-Zukunft. Was <hi rend="spaced">sie</hi> können, was <hi rend="spaced">sie</hi>
<lb n="30"/>sollen, das dürften niemals Kranke können und sollen:
<lb n="31"/>aber <hi rend="spaced">damit</hi> sie können, was nur <hi rend="spaced">sie</hi> sollen, wie stünde
<lb n="32"/>es ihnen noch frei, den Arzt, den Trostbringer, den
<lb n="33"/>„Heiland“ der Kranken zu machen?… Und darum
<pb n="135" facs="#E40_0156" xml:id="Ed_135_id"/>
<lb n="1"/>gute Luft! gute Luft! Und weg jedenfalls aus der Nähe
<lb n="2"/>von allen Irren- und Krankenhäusern der Cultur! Und
<lb n="3"/>darum gute Gesellschaft, <hi rend="spaced">unsre</hi> Gesellschaft! Oder
<lb n="4"/>Einsamkeit, wenn es sein muss! Aber weg jedenfalls
<lb n="5"/>von den üblen Dünsten der innewendigen Verderbniss
<lb n="6"/>und des heimlichen Kranken-Wurmfrasses!… Damit
<lb n="7"/>wir uns selbst nämlich, meine Freunde, wenigstens eine
<lb n="8"/>Weile noch gegen die zwei schlimmsten Seuchen ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>theidigen, die gerade für uns aufgespart sein mögen, –
<lb n="10"/>gegen den <hi rend="spaced">grossen Ekel am Menschen</hi>! gegen das
<lb n="11"/><hi rend="spaced">grosse Mitleid mit dem Menschen</hi>!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0315"><milestone unit="page" source="#Dm" n="b33r"/>
<head>
<lb n="12"/>15.</head>
<p>
<lb n="13" rend="indent"/>Hat man in aller Tiefe begriffen – und ich ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>lange, dass man hier gerade <hi rend="spaced">tief greift</hi>, tief begreift
<lb n="15"/>– inwiefern es schlechterdings <hi rend="spaced">nicht</hi> die Aufgabe der
<lb n="16"/>Gesunden sein kann, Kranke zu warten, Kranke ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>sund zu machen, so ist damit auch eine Nothwendig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>keit mehr begriffen, – die Nothwendigkeit von Ärzten
<lb n="19"/>und Krankenwärtern, <hi rend="spaced">die selber krank sind</hi>: und
<lb n="20"/>nunmehr haben und halten wir den Sinn des asketi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>schen Priesters mit beiden Händen. Der asketische
<lb n="22"/>Priester muss uns als der vorherbestimmte Heiland,
<lb n="23"/>Hirt und Anwalt der kranken Heerde gelten: damit erst
<lb n="24"/>verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die
<lb n="25"/><hi rend="spaced">Herrschaft über Leidende</hi> ist sein Reich, auf sie
<lb n="26"/>weist ihn sein Instinkt an, in ihr hat er seine eigenste
<lb n="27"/>Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von Glück. Er
<lb n="28"/>muss selber krank sein, er muss den Kranken und
<lb n="29"/>Schlechtweggekommenen von Grund aus verwandt sein,
<lb n="30"/>um sie zu verstehen, – um sich mit ihnen zu ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>stehen; aber er muss auch stark sein, mehr Herr
<lb n="32"/>noch über sich als über Andere, unversehrt namentlich
<pb n="136" facs="#E40_0157" xml:id="Ed_136_id"/>
<lb n="1"/>in seinem Willen zur Macht, damit er das Vertrauen
<lb n="2"/>und die Furcht der Kranken hat, damit er ihnen Halt,
<lb n="3"/>Widerstand, Stütze, Zwang, Zuchtmeister, Tyrann, Gott
<lb n="4"/>sein kann. Er hat sie zu vertheidigen, seine Heerde
<lb n="5"/>– gegen wen? Gegen die Gesunden, es ist kein Zwei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>fel, auch gegen den Neid auf die Gesunden; er muss
<lb n="7"/>der natürliche Widersacher <hi rend="spaced">und Verächter</hi> aller rohen,
<lb n="8"/>stürmischen, zügellosen, harten, gewaltthätig-raubthier<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>haften Gesundheit und Mächtigkeit sein. Der Priester
<lb n="10"/>ist die erste Form des <hi rend="spaced">delikateren</hi> Thiers, das leich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>ter noch verachtet als hasst. Es wird ihm nicht er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>spart bleiben, Krieg zu führen mit den Raubthieren,
<lb n="13"/>einen Krieg der List (des „Geistes“) mehr als der Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>walt, wie sich von selbst versteht, – er wird es dazu
<lb n="15"/>unter Umständen nöthig haben, beinahe einen neuen
<lb n="16"/>Raubthier-Typus an sich herauszubilden, mindestens
<lb n="17"/>zu <hi rend="spaced">bedeuten</hi>, – eine neue Thier-Furchtbarkeit, in
<lb n="18"/>welcher der Eisbär, die geschmeidige kalte abwartende
<lb n="19"/>Tigerkatze und nicht am wenigsten der Fuchs zu einer
<lb n="20"/>ebenso anziehenden als furchteinflössenden Einheit ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>bunden scheinen. Gesetzt, dass die Noth ihn zwingt, so
<lb n="22"/>tritt er dann wohl bärenhaft-ernst, ehrwürdig, klug, kalt,
<lb n="23"/>trügerisch-überlegen, als Herold und Mundstück geheim<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>nissvollerer Gewalten, mitten unter die andere Art Raub<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>thiere selbst, entschlossen, auf diesem Boden Leid, Zwie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>spalt, Selbstwiderspruch, wo er kann, auszusäen und,
<lb n="27"/>seiner Kunst nur zu gewiss, über <hi rend="spaced">Leidende</hi> <milestone unit="page" source="#Dm" n="b34r"/>jederzeit
<lb n="28"/>Herr zu werden. Er bringt Salben und Balsam mit,
<lb n="29"/>es ist kein Zweifel; aber erst hat er nöthig, zu verwun<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>den, um Arzt zu sein; indem er dann den Schmerz
<lb n="31"/>stillt, den die Wunde macht, <hi rend="spaced">vergiftet er zugleich
<lb n="32"/>die Wunde</hi> – darauf vor Allem nämlich versteht er
<lb n="33"/>sich, dieser Zauberer und Raubthier-Bändiger, in dessen
<pb n="137" facs="#E40_0158" xml:id="Ed_137_id"/>
<lb n="1"/>Umkreis alles Gesunde nothwendig krank und alles
<lb n="2"/>Kranke nothwendig zahm wird. Er vertheidigt in der
<lb n="3"/>That gut genug seine kranke Heerde, dieser seltsame
<lb n="4"/>Hirt, – er vertheidigt sie auch gegen sich, gegen die
<lb n="5"/>in der Heerde selbst glimmende Schlechtigkeit, Tücke,
<lb n="6"/>Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kran<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>ken unter einander zu eigen ist, er kämpft klug, hart
<lb n="8"/>und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>ginnenden Selbstauflösung innerhalb der Heerde, in
<lb n="10"/>welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff,
<lb n="11"/>das <hi rend="spaced">Ressentiment</hi>, sich beständig häuft und häuft.
<lb n="12"/>Diesen Sprengstoff so zu entladen, dass er nicht die
<lb n="13"/>Heerde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein
<lb n="14"/>eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit;
<lb n="15"/>wollte man den Werth der priesterlichen Existenz in
<lb n="16"/>die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu
<lb n="17"/>sagen: der Priester ist der <hi rend="spaced">Richtungs-Veränderer</hi>
<lb n="18"/>des Ressentiment. Jeder Leidende nämlich sucht in<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>stinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch,
<lb n="20"/>einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid empfäng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>lichen <hi rend="spaced">schuldigen</hi> Thäter, – kurz, irgend etwas Le<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>bendiges, an dem er seine Affekte thätlich oder in
<lb n="23"/>effigie auf irgend einen Vorwand hin entladen kann:
<lb n="24"/>denn die Affekt-Entladung ist der grösste Erleichte<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>rungs- nämlich <hi rend="spaced">Betäubungs</hi>-Versuch des Leidenden,
<lb n="26"/>sein unwillkürlich begehrtes Narcoticum gegen Qual
<lb n="27"/>irgend welcher Art. Hierin allein ist, meiner Vermu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>thung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit
<lb n="29"/>des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu
<lb n="30"/>finden, in einem Verlangen also nach <hi rend="spaced">Betäubung von
<lb n="31"/>Schmerz durch Affekt</hi>: – man sucht dieselbe ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>meinhin, sehr irrthümlich, wie mich dünkt, in dem De<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>fensiv-Gegenschlag, einer blossen Schutzmaassregel
<pb n="138" facs="#E40_0159" xml:id="Ed_138_id"/>
<lb n="1"/>der Reaktion, einer „Reflexbewegung“ im Falle irgend
<lb n="2"/>einer plötzlichen Schädigung und Gefährdung, von der
<lb n="3"/>Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um
<lb n="4"/>eine ätzende Säure loszuwerden. Aber die Verschieden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>heit ist fundamental: im Einen Falle will man weiteres
<lb n="6"/>Beschädigtwerden hindern, im anderen Falle will man
<lb n="7"/>einen quälenden, heimlichen, unerträglich-werdenden
<lb n="8"/>Schmerz durch eine heftigere Emotion irgend welcher
<lb n="9"/>Art <hi rend="spaced">betäuben</hi> und für den Augenblick wenigstens
<lb n="19"/>aus dem Bewusstsein schaffen, – dazu braucht man
<lb n="11"/>einen Affekt, einen möglichst wilden Affekt und, zu
<lb n="12"/>dessen Erregung, den ersten besten Vorwand. „Irgend
<lb n="13"/>Jemand muss schuld <milestone unit="page" source="#Dm" n="b35r"/>daran sein, dass ich mich schlecht
<lb n="14"/>befinde“ – diese Art zu schliessen ist allen Krankhaften
<lb n="15"/>eigen, und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres
<lb n="16"/>Sich-Schlecht-Befindens, die physiologische, verborgen
<lb n="17"/>bleibt (– sie kann etwa in einer Erkrankung des ner<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>vus sympathicus liegen oder in einer übermässigen
<lb n="19"/>Gallen-Absonderung, oder an einer Armuth des Blutes
<lb n="20"/>an schwefel- und phosphorsaurem Kali oder in Druck<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>zuständen des Unterleibes, welche den Blutumlauf
<lb n="22"/>stauen, oder in Entartung der Eierstöcke und derglei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>chen). Die Leidenden sind allesammt von einer ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>setzlichen Bereitwilligkeit und Erfindsamkeit in Vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>wänden zu schmerzhaften Affekten; sie geniessen ihren
<lb n="26"/>Argwohn schon, das Grübeln über Schlechtigkeiten
<lb n="27"/>und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen
<lb n="28"/>die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart
<lb n="29"/>nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen
<lb n="30"/>freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen
<lb n="31"/>und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen –
<lb n="32"/>sie reissen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich
<lb n="33"/>an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übelthäter
<pb n="139" facs="#E40_0160" xml:id="Ed_139_id"/>
<lb n="1"/>aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am
<lb n="2"/>nächsten steht. „Ich leide: daran muss irgend Jemand
<lb n="3"/>schuld sein“ – also denkt jedes krankhafte Schaf.
<lb n="4"/>Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm:
<lb n="5"/>„Recht so, mein Schaf! irgend wer muss daran schuld
<lb n="6"/>sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst
<lb n="7"/>bist daran allein schuld, – <hi rend="spaced">du selbst bist an dir
<lb n="8"/>allein schuld!</hi>“… Das ist kühn genug, falsch ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>nug: aber Eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist,
<lb n="10"/>wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – <hi rend="spaced">ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>ändert</hi>.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0316">
<head>
<lb n="12"/>16.</head>
<p>
<lb n="13" rend="indent"/>Man erräth nunmehr, was nach meiner Vorstellung
<lb n="14"/>der Heilkünstler-Instinkt des Lebens durch den aske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>tischen Priester zum Mindesten <hi rend="spaced">versucht</hi> hat und
<lb n="16"/>wozu ihm eine zeitweilige Tyrannei solcher paradoxer
<lb n="17"/>und paralogischer Begriffe wie „Schuld“, „Sünde“,
<lb n="18"/>„Sündhaftigkeit“, „Verderbniss“, „Verdammniss“ hat die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>nen müssen: die Kranken bis zu einem gewissen Grade
<lb n="20"/><hi rend="spaced">unschädlich</hi> zu machen, die Unheilbaren durch sich
<lb n="21"/>selbst zu zerstören, den Milder-Erkrankten streng die
<lb n="22"/>Richtung auf sich selbst, eine Rückwärtsrichtung ihres
<lb n="23"/>Ressentiments zu geben („Eins ist noth“ –) und die
<lb n="24"/>schlechten Instinkte aller Leidenden dergestalt zum
<lb n="25"/>Zweck der Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung,
<lb n="26"/>Selbstüberwindung <hi rend="spaced">auszunützen</hi>. Es kann sich, wie
<lb n="27"/>sich von selbst versteht, mit einer „Medikation“ dieser
<lb n="28"/>Art, einer blossen Affekt-Medikation, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b36r"/>schlechterdings
<lb n="29"/>nicht um eine wirkliche Kranken-<hi rend="spaced">Heilung</hi> im physio<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>logischen Verstande handeln; man dürfte selbst nicht
<lb n="31"/>einmal behaupten, dass der Instinkt des Lebens hier<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>bei irgendwie die Heilung in Aussicht und Absicht
<lb n="33"/>genommen habe. Eine Art Zusammendrängung und
<pb n="140" facs="#E40_0161" xml:id="Ed_140_id"/>
<lb n="1"/>Organisation der Kranken auf der einen Seite (– das
<lb n="2"/>Wort „Kirche“ ist dafür der populärste Name), eine Art
<lb n="3"/>vorläufiger Sicherstellung der Gesünder-Gerathenen, der
<lb n="4"/>Voller-Ausgegossenen auf der andern, die Aufreissung
<lb n="5"/>einer <hi rend="spaced">Kluft</hi> somit zwischen Gesund und Krank – das
<lb n="6"/>war für lange Alles! Und es war Viel! es war <hi rend="spaced">sehr
<lb n="7"/>Viel</hi>!… [Ich gehe in dieser Abhandlung, wie man sieht,
<lb n="8"/>von einer Voraussetzung aus, die ich in Hinsicht auf
<lb n="9"/>Leser, wie ich sie brauche, nicht erst zu begründen habe:
<lb n="10"/>dass „Sündhaftigkeit“ am Menschen kein Thatbestand
<lb n="11"/>ist, vielmehr nur die Interpretation eines Thatbestandes,
<lb n="12"/>nämlich einer physiologischen Verstimmung, – letztere
<lb n="13"/>unter einer moralisch-religiösen Perspektive gesehn,
<lb n="14"/>welche für uns nichts Verbindliches mehr hat. – Da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>mit, dass Jemand sich „schuldig“, „sündig“ <hi rend="spaced">fühlt</hi>, ist
<lb n="16"/>schlechterdings noch nicht bewiesen, dass er sich mit
<lb n="17"/>Recht so fühlt; so wenig Jemand gesund ist, bloss
<lb n="18"/>deshalb, weil er sich gesund fühlt. Man erinnere sich
<lb n="19"/>doch der berühmten Hexen-Prozesse: damals zweifelten
<lb n="20"/>die scharfsichtigsten und menschenfreundlichsten Rich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>ter nicht daran, dass hier eine Schuld vorliege; die
<lb n="22"/>„Hexen“ <hi rend="spaced">selbst zweifelten nicht daran</hi>, – und
<lb n="23"/>dennoch fehlte die Schuld. – Um jene Voraussetzung
<lb n="24"/>in erweiterter Form auszudrücken: der „seelische
<lb n="25"/>Schmerz“ selbst gilt mir überhaupt nicht als Thatbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>stand, sondern nur als eine Auslegung (Causal-Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>legung) von bisher nicht exakt zu formulirenden That<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>beständen: somit als Etwas, das vollkommen noch in
<lb n="29"/>der Luft schwebt und wissenschaftlich unverbindlich
<lb n="30"/>ist, – ein fettes Wort eigentlich nur an Stelle eines
<lb n="31"/>sogar spindeldürren Fragezeichens. Wenn Jemand mit
<lb n="32"/>einem „seelischen Schmerz“ nicht fertig wird, so liegt
<lb n="33"/>das, grob geredet, <hi rend="spaced">nicht</hi> an seiner „Seele“; wahrschein<pc force="weak">-</pc>
<pb n="141" facs="#E40_0162" xml:id="Ed_141_id"/>
<lb n="1"/>licher noch an seinem Bauche (grob geredet, wie ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>sagt: womit noch keineswegs der Wunsch ausgedrückt
<lb n="3"/>ist, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b37r"/>auch grob gehört, grob verstanden zu werden…)
<lb n="4"/>Ein starker und wohlgerathener Mensch verdaut seine
<lb n="5"/>Erlebnisse (Thaten, Unthaten eingerechnet) wie er seine
<lb n="6"/>Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>schlucken hat. Wird er mit einem Erlebnisse „nicht
<lb n="8"/>fertig“, so ist diese Art Indigestion so gut physiolo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>gisch wie jene andere – und vielfach in der That nur
<lb n="10"/>eine der Folgen jener anderen. – Mit einer solchen
<lb n="11"/>Auffassung kann man, unter uns gesagt, immer noch
<lb n="12"/>der strengste Gegner alles Materialismus sein…]</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0317">
<head>
<lb n="13"/>17.</head>
<p>
<lb n="14" rend="indent"/>Ist er aber eigentlich ein <hi rend="spaced">Arzt</hi>, dieser asketische
<lb n="15"/>Priester? – Wir begriffen schon, inwiefern es kaum
<lb n="16"/>erlaubt ist, ihn einen Arzt zu nennen, so gern er auch
<lb n="17"/>selbst sich als „Heiland“ fühlt, als „Heiland“ verehren
<lb n="18"/>lässt. Nur das Leiden selbst, die Unlust des Leiden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>den wird von ihm bekämpft, <hi rend="spaced">nicht</hi> deren Ursache,
<lb n="20"/><hi rend="spaced">nicht</hi> das eigentliche Kranksein, – das muss unsren
<lb n="21"/>grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Me<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>dikation abgeben. Stellt man sich aber erst einmal in
<lb n="23"/>die Perspektive, wie der Priester sie allein kennt und
<lb n="24"/>hat, so kommt man nicht leicht zu Ende in der Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>wunderung, <choice><orig>was er unter</orig><sic source="#KGW #KSA">was unter<note type="editorial">Erratum</note></sic></choice> ihr Alles gesehn, gesucht und
<lb n="26"/>gefunden hat. Die <hi rend="spaced">Milderung</hi> des Leidens, das
<lb n="27"/>„Trösten“ jeder Art, – das erweist sich als sein Genie
<lb n="28"/>selbst: wie erfinderisch hat er seine Tröster-Aufgabe
<lb n="29"/>verstanden, wie unbedenklich und kühn hat er zu ihr
<lb n="30"/>die Mittel gewählt! Das Christenthum in Sonderheit
<lb n="31"/>dürfte man eine grosse Schatzkammer geistreichster
<lb n="32"/>Trostmittel nennen, so viel Erquickliches, Milderndes,
<pb n="142" facs="#E40_0163" xml:id="Ed_142_id"/>
<lb n="1"/>Narkotisirendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährlich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>stes und Verwegenstes zu diesem Zweck gewagt, so
<lb n="3"/>fein, so raffinirt, so südländisch-raffinirt ist von ihm
<lb n="4"/>insbesondere errathen worden, mit was für Stimulanz-
<lb n="5"/>Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung,
<lb n="6"/>die schwarze Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten
<lb n="7"/>wenigstens für Zeiten besiegt werden kann. Denn all<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>gemein gesprochen: bei allen grossen Religionen han<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>delte es sich in der Hauptsache um die Bekämpfung
<lb n="10"/>einer gewissen, zur Epidemie gewordnen Müdigkeit
<lb n="11"/>und Schwere. Man kann es von vornherein als wahr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>scheinlich ansetzen, dass von Zeit zu Zeit an bestimm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>ten <milestone unit="page" source="#Dm" n="b38r"/>Stellen der Erde fast nothwendig ein <hi rend="spaced">physiolo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>gisches Hemmungsgefühl</hi> über breite Massen Herr
<lb n="15"/>werden muss, welches aber, aus Mangel an physiolo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>gischem Wissen, nicht als solches in’s Bewusstsein tritt,
<lb n="17"/>so dass dessen „Ursache“, dessen Remedur auch nur
<lb n="18"/>psychologisch-moralisch gesucht und versucht werden
<lb n="19"/>kann (– dies nämlich ist meine allgemeinste Formel
<lb n="20"/>für Das, was gemeinhin eine „<hi rend="spaced">Religion</hi>“ genannt wird).
<lb n="21"/>Ein solches Hemmungsgefühl kann verschiedenster Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>kunft sein: etwa als Folge der Kreuzung von zu fremd<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>artigen Rassen (oder von Ständen – Stände drücken
<lb n="24"/>immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus: der
<lb n="25"/>europäische „Weltschmerz“, der „Pessimismus“ des
<lb n="26"/>neunzehnten Jahrhunderts ist wesentlich die Folge einer
<lb n="27"/>unsinnig plötzlichen Stände-Mischung); oder bedingt
<lb n="28"/>durch eine fehlerhafte Emigration – eine Rasse in ein
<lb n="29"/>Klima gerathen, für das ihre Anpassungskraft nicht
<lb n="30"/>ausreicht (der Fall der Inder in Indien); oder die Nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>wirkung von Alter und Ermüdung der Rasse (Pariser
<lb n="32"/>Pessimismus von 1850 an); oder einer falschen Diät
<lb n="33"/>(Alkoholismus des Mittelalters; der Unsinn der Vege<pc force="weak">-</pc>
<pb n="143" facs="#E40_0164" xml:id="Ed_143_id"/>
<lb n="1"/>tarians, welche freilich die Autorität des Junker Christoph
<lb n="2"/>bei Shakespeare für sich haben); oder von Blutverderb<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>niss, Malaria, Syphilis und dergleichen (deutsche De<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>pression nach dem dreissigjährigen Kriege, welcher halb
<lb n="5"/>Deutschland mit schlechten Krankheiten durchseuchte
<lb n="6"/>und damit den Boden für deutsche Servilität, deutschen
<lb n="7"/>Kleinmuth vorbereitete). In einem solchen Falle wird
<lb n="8"/>jedes Mal im grössten Stil ein <hi rend="spaced">Kampf mit dem Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>lustgefühl</hi> versucht; unterrichten wir uns kurz über
<lb n="10"/>dessen wichtigste Praktiken und Formen. (Ich lasse
<lb n="11"/>hier, wie billig, den eigentlichen <hi rend="spaced">Philosophen</hi>-Kampf
<lb n="12"/>gegen das Unlustgefühl, der immer gleichzeitig zu sein
<lb n="13"/>pflegt, ganz bei Seite – er ist interessant genug, aber
<lb n="14"/>zu absurd, zu praktisch-gleichgültig, zu spinneweberisch
<lb n="15"/>und eckensteherhaft, etwa wenn der Schmerz als ein
<lb n="16"/>Irrthum bewiesen werden soll, unter der naiven Vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>aussetzung, dass der Schmerz schwinden <hi rend="spaced">müsse</hi>, wenn
<lb n="18"/>erst der Irrthum in ihm erkannt ist – aber siehe da!
<lb n="19"/>er hütete sich, zu schwinden…) Man bekämpft <hi rend="spaced">erstens</hi>
<lb n="20"/>jene dominirende Unlust durch Mittel, welche das Le<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>bensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>setzen. Womöglich überhaupt kein Wollen, kein Wunsch
<lb n="23"/>mehr; Allem, was Affekt macht, was „Blut“ macht, aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>weichen (kein Salz essen: Hygiene des Fakirs); nicht
<lb n="25"/>lieben; nicht hassen; Gleichmuth; nicht sich rächen;
<lb n="26"/>nicht sich bereichern; nicht arbeiten; betteln; womög<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>lich kein Weib, oder so wenig Weib als möglich: in
<lb n="28"/>geistiger Hinsicht das Princip Pascal’s „il faut s’abêtir“.
<lb n="29"/>Resultat, psychologisch-moralisch ausgedrückt: „Ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>selbstung“, „Heiligung“; <milestone unit="page" source="#Dm" n="b39r"/>physiologisch ausgedrückt:
<lb n="31"/>Hypnotisirung, – der Versuch Etwas für den Menschen
<lb n="32"/>annähernd zu erreichen, was der <hi rend="spaced">Winterschlaf</hi> für
<lb n="33"/>einige Thierarten, der <hi rend="spaced">Sommerschlaf</hi> für viele Pflan<pc force="weak">-</pc>
<pb n="144" facs="#E40_0165" xml:id="Ed_144_id"/>
<lb n="1"/>zen der heissen Klimaten ist, ein Minimum von Stoff<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>verbrauch und Stoffwechsel, bei dem das Leben gerade
<lb n="3"/>noch besteht, ohne eigentlich noch in’s Bewusstsein zu
<lb n="4"/>treten. Auf dieses Ziel ist eine erstaunliche Menge
<lb n="5"/>menschlicher Energie verwandt worden – umsonst
<lb n="6"/>etwa?… Dass solche sportsmen der „Heiligkeit“, an
<lb n="7"/>denen alle Zeiten, fast alle Völker reich sind, in der
<lb n="8"/>That eine wirkliche Erlösung von dem gefunden haben,
<lb n="9"/>was sie mit einem so rigorösen training bekämpften,
<lb n="10"/>daran darf man durchaus nicht zweifeln, – sie kamen
<lb n="11"/>von jener tiefen physiologischen Depression mit Hülfe
<lb n="12"/>ihres Systems von Hypnotisirungs-Mitteln in unzähligen
<lb n="13"/>Fällen wirklich <hi rend="spaced">los</hi>: weshalb ihre Methodik zu den all<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>gemeinsten ethnologischen Thatsachen zählt. Insglei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>chen fehlt jede Erlaubniss dazu, um schon an sich eine
<lb n="16"/>solche Absicht auf Aushungerung der Leiblichkeit und
<lb n="17"/>der Begierde unter die Irrsinns-Symptome zu rechnen
<lb n="18"/>(wie es eine täppische Art von Roastbeef-fressenden
<lb n="19"/>„Freigeistern“ und Junker Christophen zu thun beliebt).
<lb n="20"/>Um so sicherer ist es, dass sie den <hi rend="spaced">Weg</hi> zu allerhand
<lb n="21"/>geistigen Störungen abgiebt, abgeben kann, zu „inneren
<lb n="22"/>Lichtern“ zum Beispiel, wie bei den Hesychasten vom
<lb n="23"/>Berge Athos, zu Klang- und Gestalt-Hallucinationen,
<lb n="24"/>zu wollüstigen Überströmungen und Ekstasen der Sinn<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>lichkeit (Geschichte der heiligen Therese). Die Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>legung, welche derartigen Zuständen von den mit ihnen
<lb n="27"/>Behafteten gegeben wird, ist immer so schwärmerisch-
<lb n="28"/>falsch wie möglich gewesen, dies versteht sich von
<lb n="29"/>selbst: nur überhöre man den Ton überzeugtester Dank<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>barkeit nicht, der eben schon im <hi rend="spaced">Willen</hi> zu einer sol<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>chen Interpretations-Art zum Erklingen kommt. Der
<lb n="32"/>höchste Zustand, die <hi rend="spaced">Erlösung</hi> selbst, jene endlich
<lb n="33"/>erreichte Gesammt-Hypnotisirung und Stille, gilt ihnen
<anchor xml:id="Bogen9End"/><milestone xml:id="Bogen10" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen10End"/>
<pb n="145" facs="#E40_0166" xml:id="Ed_145_id"/>
<lb n="1"/>immer als das Geheimniss an sich, zu dessen Ausdruck
<lb n="2"/>auch die höchsten Symbole nicht ausreichen, als Ein- und
<lb n="3"/>Heimkehr in den Grund der Dinge, als Freiwerden von
<lb n="4"/>allem Wahne, als „Wissen“, als „Wahrheit“, als „Sein“,
<lb n="5"/>als Loskommen von jedem Ziele, jedem Wunsche, jedem
<lb n="6"/>Thun, als ein Jenseits auch von Gut und Böse. „Gutes
<lb n="7"/>und Böses, sagt der Buddhist, – Beides sind Fesseln:
<lb n="8"/>über Beides wurde der Vollendete Herr“; „Gethanes und
<lb n="9"/>Ungethanes, sagt der Gläubige des Vedânta, schafft ihm
<lb n="10"/>keinen Schmerz; das Gute und das Böse schüttelt er als
<lb n="11"/>ein Weiser von sich; sein Reich leidet durch keine
<lb n="12"/>That mehr; über Gutes und Böses, über Beides gieng
<lb n="13"/>er hinaus“: – eine gesammt-indische Auffassung also,
<lb n="14"/>ebenso brah<milestone unit="page" source="#Dm" n="b40r"/>manistisch als buddhistisch. (Weder in der
<lb n="15"/>indischen, noch in der christlichen Denkweise gilt jene
<lb n="16"/>„Erlösung“ als <hi rend="spaced">erreichbar</hi> durch Tugend, durch mo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>ralische Besserung, so hoch der Hypnotisirungs-Werth
<lb n="18"/>der Tugend auch von ihnen angesetzt wird: dies halte
<lb n="19"/>man fest, – es entspricht dies übrigens einfach dem
<lb n="20"/>Thatbestande. Hierin <hi rend="spaced">wahr</hi> geblieben zu sein, darf viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>leicht als das beste Stück Realismus in den drei
<lb n="22"/>grössten, sonst so gründlich vermoralisirten Religionen
<lb n="23"/>betrachtet werden. „Für den Wissenden giebt es keine
<lb n="24"/>Pflicht“… „Durch <hi rend="spaced">Zulegung</hi> von Tugenden kommt
<lb n="25"/>Erlösung nicht zu Stande: denn sie besteht im Eins<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>sein mit dem keiner Zulegung von Vollkommenheit
<lb n="27"/>fähigen Brahman; und ebenso wenig in der <hi rend="spaced">Ablegung</hi>
<lb n="28"/>von Fehlern: denn das Brahman, mit dem Eins zu sein
<lb n="29"/>Das ist, was Erlösung ausmacht, ist ewig rein“ – diese
<lb n="30"/>Stellen aus dem Commentare des Çankara, citirt von
<lb n="31"/>dem ersten wirklichen <hi rend="spaced">Kenner</hi> der indischen Philoso<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>phie in Europa, meinem Freunde Paul Deussen.) Die
<lb n="33"/>„Erlösung“ in den grossen Religionen wollen wir also
<pb n="146" facs="#E40_0167" xml:id="Ed_146_id"/>
<lb n="1"/>in Ehren halten; dagegen wird es uns ein wenig schwer,
<lb n="2"/>bei der Schätzung, welche schon der <hi rend="spaced">tiefe Schlaf</hi>
<lb n="3"/>durch diese selbst für das Träumen zu müd gewordnen
<lb n="4"/>Lebensmüden erfährt, ernsthaft zu bleiben, – der tiefe
<lb n="5"/>Schlaf nämlich bereits als Eingehen in das Brahman,
<lb n="6"/>als <hi rend="spaced">erreichte</hi> unio mystica mit Gott. „Wenn er dann
<lb n="7"/>eingeschlafen ist ganz und gar – heisst es darüber in
<lb n="8"/>der ältesten ehrwürdigsten „Schrift“ – und völlig zur
<lb n="9"/>Ruhe gekommen, dass er kein Traumbild mehr schaut,
<lb n="10"/>alsdann ist er, oh Theurer, vereinigt mit dem Seienden,
<lb n="11"/>in sich selbst ist er eingegangen, – von dem erkennt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>nissartigen Selbste umschlungen hat er kein Bewusst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>sein mehr von dem, was aussen oder innen ist. Diese
<lb n="14"/>Brücke überschreiten nicht Tag und Nacht, nicht das
<lb n="15"/>Alter, nicht der Tod, nicht das Leiden, nicht gutes
<lb n="16"/>Werk, noch böses Werk.“ „Im tiefen Schlafe, sagen
<lb n="17"/>insgleichen die Gläubigen dieser tiefsten der drei
<lb n="18"/>grossen Religionen, hebt sich die Seele heraus aus
<lb n="19"/>diesem Leibe, geht ein in das höchste Licht und tritt
<lb n="20"/>dadurch hervor in eigener Gestalt: da ist sie der höchste
<lb n="21"/>Geist selbst, der herumwandelt, indem er scherzt und
<lb n="22"/>spielt und sich ergötzt, sei es mit Weibern oder mit
<lb n="23"/>Wagen oder mit Freunden, da denkt sie nicht mehr
<lb n="24"/>zurück an dieses Anhängsel von Leib, an welches der
<lb n="25"/>prâna (der Lebensodem) angespannt ist wie ein Zug<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>thier an den Karren.“ Trotzdem wollen wir auch hier,
<lb n="27"/>wie im Falle der „Erlösung“, uns gegenwärtig halten,
<lb n="28"/>dass damit im Grunde, wie sehr auch immer in der
<lb n="29"/>Pracht orientalischer Übertreibung, nur die gleiche
<lb n="30"/>Schätzung ausgedrückt ist, welche die des klaren, küh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>len, griechisch-kühlen, aber leidenden Epikur war: das
<lb n="32"/>hypnotische Nichts-Gefühl, die Ruhe des tiefsten Schla<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>fes, <hi rend="spaced">Leidlosigkeit</hi> kurzum – das darf Leidenden
<pb n="147" facs="#E40_0168" xml:id="Ed_147_id"/>
<lb n="1"/><lb n="1"/>und Gründlich-Verstimmten schon als höchstes Gut,
<lb n="2"/>als Werth der Werthe gelten, das <hi rend="spaced">muss</hi> von ihnen als
<lb n="3"/>positiv abgeschätzt, als <hi rend="spaced">das</hi> Positive selbst empfunden
<lb n="4"/>werden. (Nach derselben Logik des Gefühls heisst in
<lb n="5"/>allen pessimistischen Religionen das Nichts <hi rend="spaced">Gott</hi>.)</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0318">
<head>
<lb n="6"/>18.</head>
<p>
<lb n="7" rend="indent"/>Viel häufiger als eine solche hypnotistische Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>sammtdämpfung der Sensibilität, der Schmerzfähigkeit, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b41r"/>
<lb n="9"/>welche schon seltnere Kräfte, vor Allem Muth, Verach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>tung der Meinung, „intellektuellen Stoicismus“ voraus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>setzt, wird gegen Depressions-Zustände ein anderes
<lb n="12"/>training versucht, welches jedenfalls leichter ist: <hi rend="spaced">die
<lb n="13"/>machinale Thätigkeit</hi>. Dass mit ihr ein leidendes
<lb n="14"/>Dasein in einem nicht unbeträchtlichen Grade erleich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>tert wird, steht ausser allem Zweifel: man nennt heute
<lb n="16"/>diese Thatsache, etwas unehrlich, „den Segen der Ar<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>beit“. Die Erleichterung besteht darin, dass das Inter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>esse des Leidenden grundsätzlich vom Leiden abge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>lenkt wird, – dass beständig ein Thun und wieder
<lb n="20"/>nur ein Thun in’s Bewusstsein tritt und folglich wenig
<lb n="21"/>Platz darin für Leiden bleibt: denn sie ist <hi rend="spaced">eng</hi>, diese
<lb n="22"/>Kammer des menschlichen Bewusstseins! Die machi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>nale Thätigkeit und was zu ihr gehört – wie die ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>solute Regularität, der pünktliche besinnungslose Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>horsam, das Ein-für-alle-Mal der Lebensweise, die Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>füllung der Zeit, eine gewisse Erlaubniss, ja eine Zucht
<lb n="27"/>zur „Unpersönlichkeit“, zum Sich-selbst-Vergessen, zur
<lb n="28"/>„incuria sui“ –: wie gründlich, wie fein hat der aske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>tische Priester sie im Kampf mit dem Schmerz zu be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>nutzen gewusst! Gerade wenn er mit Leidenden der
<lb n="31"/>niederen Stände, mit Arbeitssklaven oder Gefangenen
<lb n="32"/>zu thun hatte (oder mit Frauen: die ja meistens Beides
<pb n="148" facs="#E40_0169" xml:id="Ed_148_id"/>
<lb n="1"/>zugleich sind, Arbeitssklaven und Gefangene), so be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>durfte es wenig mehr als einer kleinen Kunst des Na<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>menwechselns und der Umtaufung, um sie in verhassten
<lb n="4"/>Dingen fürderhin eine Wohlthat, ein relatives Glück
<lb n="5"/>sehn zu machen: – die Unzufriedenheit des Sklaven
<lb n="6"/>mit seinem Loos ist jedenfalls <hi rend="spaced">nicht</hi> von den Priestern
<lb n="7"/>erfunden worden. – Ein noch geschätzteres Mittel im
<lb n="8"/>Kampf mit der Depression ist die Ordinirung einer
<lb n="9"/><hi rend="spaced">kleinen Freude</hi>, die leicht zugänglich ist und zur
<lb n="10"/>Regel gemacht werden kann; man bedient sich dieser
<lb n="11"/>Medikation häufig in Verbindung mit der eben be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>sprochnen. Die häufigste Form, in der die Freude der<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>gestalt als Kurmittel ordinirt wird, ist die Freude des
<lb n="14"/>Freude-<hi rend="spaced">Machens</hi> (als Wohlthun, Beschenken, Erleich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>tern, Helfen, Zureden, Trösten, Loben, Auszeichnen);
<lb n="16"/>der asketische Priester verordnet damit, dass er „Näch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>stenliebe“ verordnet, im Grunde eine Erregung des
<lb n="18"/>stärksten, lebenbejahendsten Triebes, wenn auch in der
<lb n="19"/>vorsichtigsten Dosirung, – des <hi rend="spaced">Willens zur Macht</hi>.
<lb n="20"/>Das <milestone unit="page" source="#Dm" n="b42r"/>Glück der „kleinsten Überlegenheit“, wie es alles
<lb n="21"/>Wohlthun, Nützen, Helfen, Auszeichnen mit sich bringt,
<lb n="22"/>ist das reichlichste Trostmittel, dessen sich die Physio<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>logisch-Gehemmten zu bedienen pflegen, gesetzt dass
<lb n="24"/>sie gut berathen sind: im andern Falle thun sie ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>ander weh, natürlich im Gehorsam gegen den gleichen
<lb n="26"/>Grundinstinkt. Wenn man nach den Anfängen des
<lb n="27"/>Christenthums in der römischen Welt sucht, so findet
<lb n="28"/>man Vereine zu gegenseitiger Unterstützung, Armen-,
<lb n="29"/>Kranken-, Begräbniss-Vereine, aufgewachsen auf dem
<lb n="30"/>untersten Boden der damaligen Gesellschaft, in denen
<lb n="31"/>mit Bewusstsein jenes Hauptmittel gegen die Depression,
<lb n="32"/>die kleine Freude, die des gegenseitigen Wohlthuns
<lb n="33"/>gepflegt wurde, – vielleicht war dies damals etwas
<pb n="149" facs="#E40_0170" xml:id="Ed_149_id"/>
<lb n="1"/>Neues, eine eigentliche Entdeckung? In einem <choice><orig>derge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>gestalt</orig><corr source="#KGW #KSA">dergestalt</corr></choice> hervorgerufnen „Willen zur Gegenseitigkeit“,
<lb n="3"/>zur Heerdenbildung, zur „Gemeinde“, zum „Cönakel“
<lb n="4"/>muss nun wiederum jener damit, wenn auch im Klein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>sten, erregte Wille zur Macht, zu einem neuen und viel
<lb n="6"/>volleren Ausbruch kommen: die <hi rend="spaced">Heerdenbildung</hi>
<lb n="7"/>ist im Kampf mit der Depression ein wesentlicher
<lb n="8"/>Schritt und Sieg. Im Wachsen der Gemeinde erstarkt
<lb n="9"/>auch für den Einzelnen ein neues Interesse, das ihn
<lb n="10"/>oft genug über das Persönlichste seines Missmuths,
<lb n="11"/>seine Abneigung gegen <hi rend="spaced">sich</hi> (die „despectio sui“ des
<lb n="12"/>Geulinx) hinweghebt. Alle Kranken, Krankhaften stre<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>ben instinktiv, aus einem Verlangen nach Abschütte<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>lung der dumpfen Unlust und des Schwächegefühls,
<lb n="15"/>nach einer Heerden-Organisation: der asketische Prie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>ster erräth diesen Instinkt und fördert ihn; wo es Heer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>den giebt, ist es der Schwäche-Instinkt, der die Heerde
<lb n="18"/>gewollt hat, und die Priester-Klugheit, die sie organi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>sirt hat. Denn man übersehe dies nicht: die Starken
<lb n="20"/>streben ebenso naturnothwendig <hi rend="spaced">aus</hi> einander, als die
<lb n="21"/>Schwachen <hi rend="spaced">zu</hi> einander; wenn erstere sich verbinden,
<lb n="22"/>so geschieht es nur in der Aussicht auf eine <choice><orig>aggresive</orig><corr source="#KGW #KSA">aggressive</corr></choice>
<lb n="23"/>Gesammt-Aktion und Gesammt-Befriedigung ihres Wil<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>lens zur Macht, mit vielem Widerstande des Einzel-
<lb n="25"/>Gewissens; letztere dagegen ordnen sich zusammen,
<lb n="26"/>mit <hi rend="spaced">Lust</hi> gerade an dieser Zusammenordnung, – ihr
<lb n="27"/>Instinkt ist dabei ebenso befriedigt, wie der Instinkt
<lb n="28"/>der <milestone unit="page" source="#Dm" n="b43r"/>geborenen „Herren“ (das heisst der solitären Raub<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>thier-Species Mensch) im Grunde durch Organisation
<lb n="30"/>gereizt und beunruhigt wird. Unter jeder Oligarchie
<lb n="31"/>liegt – die ganze Geschichte lehrt es – immer das
<lb n="32"/><hi rend="spaced">tyrannische</hi> Gelüst versteckt; jede Oligarchie zittert
<lb n="33"/>beständig von der Spannung her, welche jeder Einzelne
<pb n="150" facs="#E40_0171" xml:id="Ed_150_id"/>
<lb n="1"/>in ihr nöthig hat, Herr über dies Gelüst zu bleiben.
<lb n="2"/>(So war es zum Beispiel <hi rend="spaced">griechisch</hi>: Plato bezeugt
<lb n="3"/>es an hundert Stellen, Plato, der seines Gleichen kannte
<lb n="4"/>– <hi rend="spaced">und</hi> sich selbst…)</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0319">
<head>
<lb n="5"/>19.</head>
<p>
<lb n="6" rend="indent"/>Die Mittel des asketischen Priesters, welche wir
<lb n="7"/>bisher kennen lernten – die Gesammt-Dämpfung des
<lb n="8"/>Lebensgefühls, die machinale Thätigkeit, die kleine
<lb n="9"/>Freude, vor Allem die der „Nächstenliebe“, die Heerden-
<lb n="10"/>Organisation, die Erweckung des Gemeinde-Macht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>gefühls, demzufolge der Verdruss des Einzelnen an sich
<lb n="12"/>durch seine Lust am Gedeihen der Gemeinde übertäubt
<lb n="13"/>wird – das sind, nach modernem Maasse gemessen,
<lb n="14"/>seine <hi rend="spaced">unschuldigen</hi> Mittel im Kampfe mit der Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>lust: wenden wir uns jetzt zu den interessanteren, den
<lb n="16"/>„schuldigen“. Bei ihnen allen handelt es sich um Eins:
<lb n="17"/>um irgend eine <hi rend="spaced">Ausschweifung des Gefühls</hi>, –
<lb n="18"/>diese gegen die dumpfe lähmende lange Schmerzhaftig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>keit als wirksamstes Mittel der Betäubung benutzt;
<lb n="20"/>weshalb die priesterliche Erfindsamkeit im Ausdenken
<lb n="21"/>dieser Einen Frage geradezu unerschöpflich gewesen
<lb n="22"/>ist: „<hi rend="spaced">wodurch</hi> erzielt man eine Ausschweifung des
<lb n="23"/>Gefühls?“… Das klingt hart: es liegt auf der Hand,
<lb n="24"/>dass es lieblicher klänge und besser vielleicht zu Ohren
<lb n="25"/>gienge, wenn ich etwa sagte „der asketische Priester
<lb n="26"/>hat sich jederzeit die <hi rend="spaced">Begeisterung</hi> zu Nutze ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>macht, die in allen starken Affekten liegt“. Aber
<lb n="28"/>wozu die verweichlichten Ohren unsrer modernen Zärt<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>linge noch streicheln? Wozu <hi rend="spaced">unsrerseits</hi> ihrer Tar<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>tüfferie der Worte auch nur einen Schritt breit nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>geben? Für uns Psychologen läge darin bereits eine
<lb n="32"/>Tartüfferie <hi rend="spaced">der That</hi>; abgesehen davon, dass es uns
<lb n="33"/>Ekel machen würde. Ein Psychologe nämlich hat heute
<pb n="151" facs="#E40_0172" xml:id="Ed_151_id"/>
<lb n="1"/>darin, wenn irgend worin, seinen <hi rend="spaced">guten Geschmack</hi>
<lb n="2"/>(– Andre mögen sagen: seine Rechtschaffenheit), dass
<lb n="3"/>er der schändlich <hi rend="spaced">vermoralisirten</hi> Sprechweise wider<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>strebt, mit der nachgerade alles moderne Urtheilen
<lb n="5"/>über Mensch <milestone unit="page" source="#Dm" n="b44r"/>und Ding angeschleimt ist. Denn man
<lb n="6"/>täusche sich hierüber nicht: was das eigentlichste Merk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>mal moderner Seelen, moderner Bücher ausmacht, das
<lb n="8"/>ist nicht die Lüge, sondern die eingefleischte <hi rend="spaced">Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>schuld</hi> in der moralistischen Verlogenheit. Diese „Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>schuld“ überall wieder entdecken müssen – das macht
<lb n="11"/>vielleicht unser widerlichstes Stück Arbeit aus, an all
<lb n="12"/>der an sich nicht unbedenklichen Arbeit, deren sich
<lb n="13"/>heute ein Psychologe zu unterziehn hat; es ist ein
<lb n="14"/>Stück <hi rend="spaced">unsrer</hi> grossen Gefahr, – es ist ein Weg, der
<lb n="15"/>vielleicht gerade <hi rend="spaced">uns</hi> zum grossen Ekel führt… Ich
<lb n="16"/>zweifle nicht daran, <hi rend="spaced">wozu</hi> allein moderne Bücher (ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>setzt, dass sie Dauer haben, was freilich nicht zu fürch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>ten ist, und ebenfalls gesetzt, dass es einmal eine Nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>welt mit strengerem härteren <hi rend="spaced">gesünderen</hi> Geschmack
<lb n="20"/>giebt) – wozu <hi rend="spaced">alles</hi> Moderne überhaupt dieser Nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>welt dienen würde, dienen könnte: zu Brechmitteln, –
<lb n="22"/>und das vermöge seiner moralischen Versüsslichung
<lb n="23"/>und Falschheit, seines innerlichsten Femininismus, der
<lb n="24"/>sich gern „Idealismus“ nennt und jedenfalls Idealismus
<lb n="25"/>glaubt. Unsre Gebildeten von Heute, unsre „Guten“ lügen
<lb n="26"/>nicht – das ist wahr; aber es gereicht ihnen <hi rend="spaced">nicht</hi>
<lb n="27"/>zur Ehre! Die eigentliche Lüge, die ächte resolute
<lb n="28"/>„ehrliche“ Lüge (über deren Werth man Plato hören
<lb n="29"/>möge) wäre für sie etwas bei weitem zu Strenges, zu
<lb n="30"/>Starkes; es würde verlangen, was man von ihnen nicht
<lb n="31"/>verlangen <hi rend="spaced">darf</hi>, dass sie die Augen gegen sich selbst
<lb n="32"/>aufmachten, dass sie zwischen „wahr“ und „falsch“ bei
<lb n="33"/>sich selber zu unterscheiden wüssten. Ihnen geziemt
<pb n="152" facs="#E40_0173" xml:id="Ed_152_id"/>
<lb n="1"/>allein die <hi rend="spaced">unehrliche Lüge</hi>; Alles, was sich heute
<lb n="2"/>als „guter Mensch“ fühlt, ist vollkommen unfähig, zu
<lb n="3"/>irgend einer Sache anders zu stehn als <hi rend="spaced">unehrlich-
<lb n="4"/>verlogen</hi>, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>logen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugend<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>haft-verlogen. Diese „guten Menschen“, – sie sind
<lb n="7"/>allesammt jetzt in Grund und Boden vermoralisirt und
<lb n="8"/>in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und
<lb n="9"/>verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch
<lb n="10"/>eine <hi rend="spaced">Wahrheit</hi> „über den Menschen“ aus!… Oder,
<lb n="11"/>greiflicher gefragt: wer von ihnen ertrüge eine <hi rend="spaced">wahre</hi>
<lb n="12"/>Biographie!… Ein paar Anzeichen: Lord Byron hat
<lb n="13"/>einiges Persönlichste über sich aufgezeichnet, aber
<lb n="14"/>Thomas Moore war „zu gut“ dafür: er verbrannte die
<lb n="15"/>Papiere seines Freundes. Dasselbe soll Dr. Gwinner
<lb n="16"/>gethan haben, der Testaments-Vollstrecker Schopen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>hauer’s: denn auch Schopenhauer hatte Einiges über
<lb n="18"/>sich und vielleicht auch gegen sich („<foreign xml:lang="grc">εἰς ἑαυτόν</foreign>“) auf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/><milestone unit="page" source="#Dm" n="b45r"/>gezeichnet. Der tüchtige Amerikaner Thayer, der Bio<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>graph Beethoven’s, hat mit Einem Male in seiner
<lb n="21"/>Arbeit Halt gemacht: an irgend einem Punkte dieses
<lb n="22"/>ehrwürdigen und naiven Lebens angelangt, hielt er
<lb n="23"/>dasselbe nicht mehr aus… Moral: welcher kluge
<lb n="24"/>Mann schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich?
<lb n="25"/>– er müsste denn schon zum Orden der heiligen Toll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>kühnheit gehören. Man verspricht uns eine Selbstbio<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>graphie Richard Wagner’s: wer zweifelt daran, dass es
<lb n="28"/>eine <hi rend="spaced">kluge</hi> Selbstbiographie sein wird?… Gedenken
<lb n="29"/>wir noch des komischen Entsetzens, welches der katho<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>lische Priester Janssen mit seinem über alle Begriffe
<lb n="31"/>viereckig und harmlos gerathenen Bilde der deutschen
<lb n="32"/>Reformations-Bewegung in Deutschland erregt hat;
<lb n="33"/>was würde man erst beginnen, wenn uns Jemand diese
<pb n="153" facs="#E40_0174" xml:id="Ed_153_id"/>
<lb n="1"/>Bewegung einmal <hi rend="spaced">anders</hi> erzählte, wenn uns einmal
<lb n="2"/>ein wirklicher Psycholog einen wirklichen Luther <choice><orig>er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>erzählte</orig><corr source="#KGW #KSA">erzählte</corr></choice>, nicht mehr mit der moralistischen Einfalt eines
<lb n="4"/>Landgeistlichen, nicht mehr mit der süsslichen und rück<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>sichtsvollen Schamhaftigkeit protestantischer Historiker,
<lb n="6"/>sondern etwa mit einer <hi rend="spaced">Taine</hi>’schen Unerschrocken<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>heit, aus einer <hi rend="spaced">Stärke der Seele</hi> heraus und nicht
<lb n="8"/>aus einer klugen Indulgenz gegen die Stärke?… (Die
<lb n="9"/>Deutschen, anbei gesagt, haben den klassischen Typus
<lb n="10"/>der letzteren zuletzt noch schön genug herausgebracht,
<lb n="11"/>– sie dürfen ihn sich schon zurechnen, zu Gute rech<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>nen: nämlich in ihrem Leopold Ranke, diesem gebor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>nen klassischen advocatus jeder causa fortior, diesem
<lb n="14"/>klügsten aller klugen „Thatsächlichen“.)</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0320">
<head>
<lb n="15"/>20.</head>
<p>
<lb n="16" rend="indent"/>Aber man wird mich schon verstanden haben: –
<lb n="17"/>Grund genug, nicht wahr, Alles in Allem, dass wir
<lb n="18"/>Psychologen heutzutage einiges Misstrauen <hi rend="spaced">gegen
<lb n="19"/>uns selbst</hi> nicht los werden?… Wahrscheinlich sind
<lb n="20"/>auch wir noch „zu gut“ für unser Handwerk, wahr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>scheinlich sind auch wir noch die Opfer, die Beute, die
<lb n="22"/>Kranken dieses vermoralisirten Zeitgeschmacks, so sehr
<lb n="23"/>wir uns auch als dessen Verächter fühlen, – wahr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>scheinlich inficirt er auch noch <hi rend="spaced">uns</hi>. Wovor warnte
<lb n="25"/>doch jener Diplomat, als er zu seines Gleichen redete?
<lb n="26"/>„Misstrauen wir vor Allem, meine Herrn, unsren ersten
<lb n="27"/>Regungen! sagte er, <hi rend="spaced">sie sind fast immer gut</hi>“…
<lb n="28"/>So sollte auch jeder Psycholog heute zu seines Glei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>chen reden… <milestone unit="page" source="#Dm" n="b46r"/>Und damit kommen wir zu unserm
<lb n="30"/>Problem zurück, das in der That von uns einige Strenge
<lb n="31"/>verlangt, einiges Misstrauen in Sonderheit gegen die
<lb n="32"/>„ersten Regungen“. <hi rend="spaced">Das asketische Ideal im
<pb n="154" facs="#E40_0175" xml:id="Ed_154_id"/>
<lb n="1"/>Dienste einer Absicht auf Gefühls-Ausschwei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>fung</hi>: – wer sich der vorigen Abhandlung erinnert,
<lb n="3"/>wird den in diese neun Worte gedrängten Inhalt des
<lb n="4"/>nunmehr Darzustellenden im Wesentlichen schon vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>wegnehmen. Die menschliche Seele einmal aus allen
<lb n="6"/>ihren Fugen zu lösen, sie in Schrecken, Fröste, Glu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>then und Entzückungen derartig unterzutauchen, dass
<lb n="8"/>sie von allem Kleinen und Kleinlichen der Unlust, der
<lb n="9"/>Dumpfheit, der Verstimmung wie durch einen Blitz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>schlag loskommt: welche Wege führen zu <hi rend="spaced">diesem</hi>
<lb n="11"/>Ziele? Und welche von ihnen am sichersten?… Im
<lb n="12"/>Grunde haben alle grossen Affekte ein Vermögen dazu,
<lb n="13"/>vorausgesetzt, dass sie sich plötzlich entladen, Zorn,
<lb n="14"/>Furcht, Wollust, Rache, Hoffnung, Triumph, Verzweif<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>lung, Grausamkeit; und wirklich hat der asketische
<lb n="16"/>Priester unbedenklich die <hi rend="spaced">ganze</hi> Meute wilder Hunde
<lb n="17"/>im Menschen in seinen Dienst genommen und bald
<lb n="18"/>diesen, bald jenen losgelassen, immer zu dem gleichen
<lb n="19"/>Zwecke, den Menschen aus der langsamen Traurigkeit
<lb n="20"/>aufzuwecken, seinen dumpfen Schmerz, sein zögerndes
<lb n="21"/>Elend für Zeiten wenigstens in die Flucht zu jagen,
<lb n="22"/>immer auch unter einer religiösen Interpretation und
<lb n="23"/>„Rechtfertigung“. Jede derartige Ausschweifung des
<lb n="24"/>Gefühls macht sich hinterdrein <hi rend="spaced">bezahlt</hi>, das versteht
<lb n="25"/>sich von selbst – sie macht den Kranken kränker –:
<lb n="26"/>und deshalb ist diese Art von Remeduren des Schmer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>zes, nach modernem Maasse gemessen, eine „schuldige“
<lb n="28"/>Art. Man muss jedoch, weil es die Billigkeit verlangt,
<lb n="29"/>um so mehr darauf bestehen, dass sie <hi rend="spaced">mit gutem
<lb n="30"/>Gewissen</hi> angewendet worden ist, dass der asketische
<lb n="31"/>Priester sie im tiefsten Glauben an ihre Nützlichkeit,
<lb n="32"/>ja Unentbehrlichkeit verordnet hat, – und oft genug
<lb n="33"/>selbst vor dem Jammer, den er schuf, fast zerbrechend;
<pb n="155" facs="#E40_0176" xml:id="Ed_155_id"/>
<lb n="1"/>insgleichen, dass die vehementen physiologischen Re<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>vanchen solcher Excesse, vielleicht sogar geistige Stö<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>rungen, im Grunde dem ganzen Sinne dieser Art
<lb n="4"/>Medikation nicht eigentlich widersprechen: als welche,
<lb n="5"/>wie vorher gezeigt worden ist, <hi rend="spaced">nicht</hi> auf Heilung von
<lb n="6"/>Krankheiten, sondern auf Bekämpfung der Depressions-
<lb n="7"/>Unlust, auf deren Linderung, deren Betäubung aus war.
<lb n="8"/>Dies Ziel wurde auch <hi rend="spaced">so</hi> erreicht. <milestone unit="page" source="#Dm" n="b47r"/>Der Hauptgriff, den
<lb n="9"/>sich der asketische Priester erlaubte, um auf der mensch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>lichen Seele jede Art von zerreissender und verzückter
<lb n="11"/>Musik zum Erklingen zu bringen, war damit gethan –
<lb n="12"/>Jedermann weiss das –, dass er sich das <hi rend="spaced">Schuld<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>gefühl</hi> zu Nutze machte. Dessen Herkunft hat die
<lb n="14"/>vorige Abhandlung kurz angedeutet – als ein Stück
<lb n="15"/>Thierpsychologie, als nicht mehr: das Schuldgefühl
<lb n="16"/>trat uns dort gleichsam in seinem Rohzustande ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>gegen. Erst unter den Händen des Priesters, dieses
<lb n="18"/>eigentlichen Künstlers in Schuldgefühlen, hat es Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>stalt gewonnen – oh was für eine Gestalt! Die „Sünde“
<lb n="20"/>– denn so lautet die priesterliche Umdeutung des thie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>rischen „schlechten Gewissens“ (der rückwärts gewen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>deten Grausamkeit) – ist bisher das grösste Ereigniss in
<lb n="23"/>der Geschichte der kranken Seele gewesen: in ihr haben
<lb n="24"/>wir das gefährlichste und verhängnissvollste Kunststück
<lb n="25"/>der religiösen Interpretation. Der Mensch, an sich
<lb n="26"/>selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch, etwa
<lb n="27"/>wie ein Thier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar,
<lb n="28"/>warum, wozu? begehrlich nach Gründen – Gründe er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>leichtern –, begehrlich auch nach Mitteln und Narkosen,
<lb n="30"/>beräth sich endlich mit Einem, der auch das Verborgene
<lb n="31"/>weiss – und siehe da! er bekommt einen Wink, er be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>kommt von seinem Zauberer, dem asketischen Priester,
<lb n="33"/>den <hi rend="spaced">ersten</hi> Wink über die „Ursache“ seines Leidens:
<pb n="156" facs="#E40_0177" xml:id="Ed_156_id"/>
<lb n="1"/>er soll sie in <hi rend="spaced">sich</hi> suchen, in einer <hi rend="spaced">Schuld</hi>, in einem
<lb n="2"/>Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als
<lb n="3"/>einen <hi rend="spaced">Strafzustand</hi> verstehn… Er hat gehört, er
<lb n="4"/>hat verstanden, der Unglückliche: jetzt geht es ihm
<lb n="5"/>wie der Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er
<lb n="6"/>kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder
<lb n="7"/>heraus: aus dem Kranken ist „der Sünder“ gemacht…
<lb n="8"/>Und nun wird man den Aspekt dieses neuen Kranken,
<lb n="9"/>„des Sünders“, für ein paar Jahrtausende nicht los, –
<lb n="10"/>wird man ihn je wieder los? – wohin man nur sieht,
<lb n="11"/>überall der hypnotische Blick des Sünders, der sich
<lb n="12"/>immer in der Einen Richtung bewegt (in der Richtung
<lb n="13"/>auf „Schuld“, als der <hi rend="spaced">einzigen</hi> Leidens-Causalität);
<lb n="14"/>überall das böse Gewissen, dies „grewliche thier“, mit
<lb n="15"/>Luther zu reden; überall die Vergangenheit zurückgekäut,
<lb n="16"/>die That verdreht, das „grüne Auge“ für alles Thun;
<lb n="17"/>überall das zum Lebensinhalt gemachte Missverstehen-
<lb n="18"/><hi rend="spaced">Wollen</hi> des Leidens, dessen Umdeutung in Schuld-,
<lb n="19"/>Furcht- und Strafgefühle; überall die Geissel, das
<lb n="20"/>härene Hemd, der verhungernde Leib, die Zerknirsch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>ung; überall das Sich-selbst-Rädern des Sünders in
<lb n="22"/>dem grausamen Räderwerk eines unruhigen, krankhaft-
<lb n="23"/>lüsternen Gewissens; überall die stumme Qual, die
<lb n="24"/>äusserste Furcht, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b48r"/>die Agonie des gemarterten Herzens,
<lb n="25"/>die Krämpfe eines unbekannten Glücks, der Schrei nach
<lb n="26"/>„Erlösung“. In der That, mit diesem System von Pro<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>zeduren war die alte Depression, Schwere und Müdig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>keit gründlich <hi rend="spaced">überwunden</hi>, das Leben wurde wieder
<lb n="29"/><hi rend="spaced">sehr</hi> interessant: wach, ewig wach, übernächtig, glü<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>hend, verkohlt, erschöpft und doch nicht müde – so
<lb n="31"/>nahm sich der Mensch aus, „der Sünder“, der in <hi rend="spaced">diese</hi>
<lb n="32"/>Mysterien eingeweiht war. Dieser alte grosse Zauberer
<lb n="33"/>im Kampf mit der Unlust, der asketische Priester –
<pb n="157" facs="#E40_0178" xml:id="Ed_157_id"/>
<lb n="1"/>er hatte ersichtlich gesiegt, <hi rend="spaced">sein</hi> Reich war gekommen:
<lb n="2"/>schon klagte man nicht mehr <hi rend="spaced">gegen</hi> den Schmerz,
<lb n="3"/>man <hi rend="spaced">lechzte</hi> nach dem Schmerz; „<hi rend="spaced">mehr</hi> Schmerz!
<lb n="4"/><hi rend="spaced">mehr</hi> Schmerz!“ so schrie das Verlangen seiner Jünger
<lb n="5"/>und Eingeweihten Jahrhunderte lang. Jede Ausschwei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>fung des Gefühls, die wehe that, Alles was zerbrach,
<lb n="7"/>umwarf, zermalmte, entrückte, verzückte, das Geheim<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>niss der Folterstätten, die Erfindsamkeit der Hölle
<lb n="9"/>selbst – Alles war nunmehr entdeckt, errathen, aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>genützt, Alles stand dem Zauberer zu Diensten, Alles
<lb n="11"/>diente fürderhin dem Siege seines Ideals, des asketi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>schen Ideals… „Mein Reich ist nicht von <hi rend="spaced">dieser</hi>
<lb n="13"/>Welt“ – redete er nach wie vor: hatte er wirklich das
<lb n="14"/>Recht noch, so zu reden?… Goethe hat behauptet,
<lb n="15"/>es gäbe nur sechs und dreissig tragische Situationen:
<lb n="16"/>man erräth daraus, wenn man’s sonst nicht wüsste, dass
<lb n="17"/>Goethe kein asketischer Priester war. Der – kennt
<lb n="18"/>mehr…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0321">
<head>
<lb n="19"/>21.</head>
<p>
<lb n="20" rend="indent"/>In Hinsicht auf <hi rend="spaced">diese</hi> ganze Art der priesterlichen
<lb n="21"/>Medikation, die „schuldige“ Art, ist jedes Wort Kritik
<lb n="22"/>zu viel. Dass eine solche Ausschweifung des Gefühls,
<lb n="23"/>wie sie in diesem Falle der asketische Priester seinen
<lb n="24"/>Kranken zu verordnen pflegt (unter den heiligsten Na<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>men, wie sich von selbst versteht, insgleichen durch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>drungen von der Heiligkeit seines Zwecks), irgend einem
<lb n="27"/>Kranken wirklich <hi rend="spaced">genützt</hi> habe, wer hätte wohl Lust,
<lb n="28"/>eine Behauptung der Art aufrecht zu halten? Zum
<lb n="29"/>Mindesten sollte man sich über das Wort „nützen“ ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>stehn. Will man damit ausdrücken, ein solches System
<lb n="31"/>von Behandlung habe den Menschen <hi rend="spaced">verbessert</hi>, so
<lb n="32"/>widerspreche ich nicht: nur dass ich hinzufüge, was
<lb n="33"/>bei mir „verbessert“ heisst – ebenso viel wie „ge<pc force="weak">-</pc>
<pb n="158" facs="#E40_0179" xml:id="Ed_158_id"/>
<lb n="1"/>zähmt“, „geschwächt“, „entmuthigt“, „raffinirt“, „ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>zärtlicht“, „entmannt“ (also beinahe so viel als <hi rend="spaced">ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>schädigt</hi>…) Wenn es sich aber in der Hauptsache
<lb n="4"/>um Kranke, Verstimmte, Deprimirte handelt, so macht
<lb n="5"/>ein solches System den Kranken, gesetzt selbst, dass
<lb n="6"/>es ihn „besser“ machte, unter allen Umständen <hi rend="spaced">krän<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>ker</hi>; man frage nur die Irrenärzte, was eine methodi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>sche Anwendung von Buss-Quälereien, Zerknirschungen
<lb n="9"/>und Erlösungskrämpfen immer mit sich führt. Ins<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>gleichen befrage man die Geschichte: überall, wo der
<lb n="11"/>asketische Priester diese Kranken<milestone unit="page" source="#Dm" n="b49r"/>behandlung durch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>gesetzt hat, ist jedes Mal die Krankhaftigkeit unheim<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>lich schnell in die Tiefe und Breite gewachsen. Was
<lb n="14"/>war immer der „Erfolg“? Ein zerrüttetes Nerven<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>system, hinzu zu dem, was sonst schon krank war;
<lb n="16"/>und das im Grössten wie im Kleinsten, bei Einzelnen
<lb n="17"/>wie bei Massen. Wir finden im Gefolge des Buss- und
<lb n="18"/>Erlösungs-training ungeheure epileptische Epidemien,
<lb n="19"/>die grössten, von denen die Geschichte weiss, wie die
<lb n="20"/>der St. Veit- und St. Johann-Tänzer des Mittelalters;
<lb n="21"/>wir finden als andre Form seines Nachspiels furcht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>bare Lähmungen und Dauer-Depressionen, mit denen
<lb n="23"/>unter Umständen das Temperament eines Volkes oder
<lb n="24"/>einer Stadt (Genf, Basel) ein für alle Mal in sein Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>gentheil umschlägt; – hierher gehört auch die Hexen-
<lb n="26"/>Hysterie, etwas dem Somnambulismus Verwandtes (acht
<lb n="27"/>grosse epidemische Ausbrüche derselben allein zwischen
<lb n="28"/>1564 und 1605) –; wir finden in seinem Gefolge ins<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>gleichen jene todsüchtigen Massen-Delirien, deren ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>setzlicher Schrei „evviva la morte“ über ganz Europa
<lb n="31"/>weg gehört wurde, unterbrochen bald von wollüstigen,
<lb n="32"/>bald von zerstörungswüthigen Idiosynkrasien: wie der
<lb n="33"/>gleiche Affektwechsel, mit den gleichen Intermittenzen
<pb n="159" facs="#E40_0180" xml:id="Ed_159_id"/>
<lb n="1"/>und Umsprüngen auch heute noch überall beobachtet
<lb n="2"/>wird, in jedem Falle, wo die asketische Sündenlehre
<lb n="3"/>es wieder einmal zu einem grossen Erfolge bringt (die
<lb n="4"/>religiöse Neurose <hi rend="spaced">erscheint</hi> als eine Form des „bösen
<lb n="5"/>Wesens“: daran ist kein Zweifel. Was sie ist? Quae<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>ritur.) In’s Grosse gerechnet, so hat sich das asketi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>sche Ideal und sein sublim-moralischer Cultus, diese
<lb n="8"/>geistreichste, unbedenklichste und gefährlichste Syste<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>matisirung aller Mittel der Gefühls-Ausschweifung un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>ter dem Schutz heiliger Absichten auf eine furchtbare
<lb n="11"/>und unvergessliche Weise in die ganze Geschichte des
<lb n="12"/>Menschen eingeschrieben; und leider <hi rend="spaced">nicht nur</hi> in
<lb n="13"/>seine Geschichte… Ich wüsste kaum noch etwas An<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>deres geltend zu machen, was dermaassen zerstörerisch
<lb n="15"/>der <hi rend="spaced">Gesundheit</hi> und Rassen-Kräftigkeit, namentlich
<lb n="16"/>der Europäer, zugesetzt hat als dies Ideal; man darf es
<lb n="17"/>ohne alle Übertreibung <hi rend="spaced">das eigentliche Verhäng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>niss</hi> in der Gesundheitsgeschichte des europäischen
<lb n="19"/>Menschen nennen. Höchstens, dass seinem Einflusse
<lb n="20"/>noch der spezifisch-germanische Einfluss gleichzusetzen
<lb n="21"/>wäre: ich meine die Alkohol-Vergiftung Europa’s,
<lb n="22"/>welche streng mit dem politischen und Rassen-Über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>gewicht der Germanen bisher Schritt gehalten hat
<lb n="24"/>(– wo sie ihr Blut einimpften, impften sie auch ihr
<lb n="25"/>Laster ein). – Zudritt in der Reihe wäre die Syphilis
<lb n="26"/>zu nennen, – magno sed proxima intervallo. </p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0322">
<head>
<lb n="27"/>22.</head>
<p>
<lb n="28" rend="indent"/>Der asketische Priester hat die seelische Gesund<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>heit verdorben, wo er auch nur zur Herrschaft <milestone unit="page" source="#Dm" n="b50r"/>ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>kommen ist, er hat folglich auch den <hi rend="spaced">Geschmack</hi>
<lb n="31"/>verdorben in artibus et litteris, – er verdirbt ihn
<lb n="32"/>immer noch. „Folglich“? – Ich hoffe, man giebt mir
<pb n="160" facs="#E40_0181" xml:id="Ed_160_id"/>
<lb n="1"/>dies Folglich einfach zu; zum Mindesten will ich es
<lb n="2"/>nicht erst beweisen. Ein einziger Fingerzeig: er gilt
<lb n="3"/>dem Grundbuche der christlichen Litteratur, ihrem
<lb n="4"/>eigentlichen Modell, ihrem „Buche an sich“. Noch in<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>mitten der griechisch-römischen Herrlichkeit, welche
<lb n="6"/>auch eine Bücher-Herrlichkeit war, Angesichts einer
<lb n="7"/>noch nicht verkümmerten und zertrümmerten antiken
<lb n="8"/>Schriften-Welt, zu einer Zeit, da man noch einige Bücher
<lb n="9"/>lesen konnte, um deren Besitz man jetzt halbe Littera<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>turen eintauschen würde, wagte es bereits die Einfalt und
<lb n="11"/>Eitelkeit christlicher Agitatoren – man heisst sie Kir<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>chenväter – zu dekretiren: „auch <hi rend="spaced">wir</hi> haben unsre
<lb n="13"/>klassische Litteratur, <hi rend="spaced">wir brauchen die der Grie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>chen nicht</hi>“, – und dabei wies man stolz auf Legen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>denbücher, Apostelbriefe und apologetische Traktätlein
<lb n="16"/>hin, ungefähr so, wie heute die englische „Heilsarmee“
<lb n="17"/>mit einer verwandten Litteratur ihren Kampf gegen
<lb n="18"/>Shakespeare und andre „Heiden“ kämpft. Ich liebe das
<lb n="19"/>„neue Testament“ nicht, man erräth es bereits; es be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>unruhigt mich beinahe, mit meinem Geschmack in Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>treff dieses geschätztesten, überschätztesten Schrift<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>werks dermaassen allein zu stehn (der Geschmack zweier
<lb n="23"/>Jahrtausende ist <hi rend="spaced">gegen</hi> mich): aber was hilft es! „Hier
<lb n="24"/>stehe ich, ich kann nicht anders“, – ich habe den
<lb n="25"/>Muth zu meinem schlechten Geschmack. Das <hi rend="spaced">alte</hi>
<lb n="26"/>Testament – ja das ist ganz etwas Anderes: alle Ach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>tung vor dem alten Testament! In ihm finde ich grosse
<lb n="28"/>Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom
<lb n="29"/>Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät
<lb n="30"/>des <hi rend="spaced">starken Herzens</hi>; mehr noch, ich finde ein Volk.
<lb n="31"/>Im neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirthschaft,
<lb n="32"/>lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Wink<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>liges, Wunderliches, lauter Conventikel-Luft, nicht zu <anchor xml:id="Bogen10End"/><milestone xml:id="Bogen11" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen11End"/>
<pb n="161" facs="#E40_0182" xml:id="Ed_161_id"/>
<lb n="1"/>vergessen einen gelegentlichen Hauch bukolischer Süss<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>lichkeit, welcher der Epoche (<hi rend="spaced">und</hi> der römischen Pro<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>vinz) ange<milestone unit="page" source="#Dm" n="b51r"/>hört und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch
<lb n="4"/>ist. Demuth und Wichtigthuerei dicht nebeneinander;
<lb n="5"/>eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt;
<lb n="6"/>Leidenschaftlichkeit, keine Leidenschaft; peinliches Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>bärdenspiel; hier hat ersichtlich jede gute Erziehung
<lb n="8"/>gefehlt. Wie darf man von seinen kleinen Untugenden
<lb n="9"/>so viel Wesens machen, wie es diese frommen Männ<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>lein thun! Kein Hahn kräht darnach; geschweige
<lb n="11"/>denn Gott. Zuletzt wollen sie gar noch „die Krone des
<lb n="12"/>ewigen Lebens“ haben, alle diese kleinen Leute der
<lb n="13"/>Provinz: wozu doch? wofür doch? man kann die Unbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>scheidenheit nicht weiter treiben. Ein „unsterblicher“
<lb n="15"/>Petrus: wer hielte <hi rend="spaced">den</hi> aus! Sie haben einen Ehrgeiz,
<lb n="16"/>der lachen macht: <hi rend="spaced">das</hi> käut sein Persönlichstes, seine
<lb n="17"/>Dummheiten, Traurigkeiten und Eckensteher-Sorgen
<lb n="18"/>vor, als ob das An-sich-der-Dinge verpflichtet sei, sich
<lb n="19"/>darum zu kümmern, <hi rend="spaced">das</hi> wird nicht müde, Gott selber
<lb n="20"/>in den kleinsten Jammer hinein zu wickeln, in dem sie
<lb n="21"/>drin stecken. Und dieses beständige Auf-du-und-du
<lb n="22"/>mit Gott des schlechtesten Geschmacks! Diese jüdische,
<lb n="23"/>nicht bloss jüdische Zudringlichkeit gegen Gott mit
<lb n="24"/>Maul und Tatze!… Es giebt kleine verachtete „Hei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>denvölker“ im Osten Asien’s, von denen diese ersten
<lb n="26"/>Christen etwas Wesentliches hätten lernen können,
<lb n="27"/>etwas <hi rend="spaced">Takt</hi> der Ehrfurcht; jene erlauben sich nicht,
<lb n="28"/>wie christliche Missionare bezeugen, den Namen ihres
<lb n="29"/>Gottes überhaupt in den Mund zu nehmen. Dies dünkt
<lb n="30"/>mich delikat genug; gewiss ist, dass es nicht nur für
<lb n="31"/>„erste“ Christen zu delikat ist: man erinnere sich doch
<lb n="32"/>etwa, um den Gegensatz zu spüren, an Luther, diesen
<lb n="33"/>„beredtesten“ und unbescheidensten Bauer, den Deutsch<pc force="weak">-</pc>
<pb n="162" facs="#E40_0183" xml:id="Ed_162_id"/>
<lb n="1"/>land gehabt hat, und an die Lutherische Tonart, die
<lb n="2"/>gerade ihm in seinen Zwiegesprächen mit Gott am
<lb n="3"/>besten gefiel. Luther’s Widerstand gegen die Mittler-
<lb n="4"/>Heiligen der Kirche (insbesondere gegen „des Teuffels
<lb n="5"/>Saw den Bapst“) war, daran ist kein Zweifel, im letz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>ten Grunde der Widerstand eines Rüpels, den die
<lb n="7"/><hi rend="spaced">gute Etiquette</hi> der Kirche verdross, jene Ehrfurchts-
<lb n="8"/>Etiquette des hieratischen Geschmacks, welche nur die
<lb n="9"/>Geweihteren und Schweigsameren in das Allerheiligste
<lb n="10"/>einlässt und es gegen die Rüpel zuschliesst. Diese
<lb n="11"/>sollen ein für alle Mal gerade hier nicht das Wort
<lb n="12"/>haben, – aber Luther, der Bauer, wollte es schlechter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>dings anders, so war es ihm nicht <hi rend="spaced">deutsch</hi> genug:
<lb n="14"/>er wollte vor Allem direkt reden, selber reden, „un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>genirt“ mit seinem Gotte reden… Nun, er hat’s ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>than. – Das asketische Ideal, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b52r"/>man erräth es wohl, war
<lb n="17"/>niemals und nirgendswo eine Schule des guten Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>schmacks, noch weniger der guten Manieren, – es war
<lb n="19"/>im besten Fall eine Schule der hieratischen Manieren –:
<lb n="20"/>das macht, es hat selber Etwas im Leibe, das allen
<lb n="21"/>guten Manieren <choice><orig>todtfeind</orig><corr source="#KGW #KSA">todfeind</corr></choice> ist, – Mangel an Maass,
<lb n="22"/>Widerwillen gegen Maass, es ist selbst ein „non plus
<lb n="23"/>ultra“.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0323">
<head>
<lb n="24"/>23.</head>
<p>
<lb n="25" rend="indent"/>Das asketische Ideal hat nicht nur die Gesundheit
<lb n="26"/>und den Geschmack verdorben, es hat noch etwas
<lb n="27"/>Drittes, Viertes, Fünftes, Sechstes verdorben – ich
<lb n="28"/>werde mich hüten zu sagen <hi rend="spaced">was</hi> Alles (wann käme ich
<lb n="29"/>zu Ende!). Nicht was dies Ideal <hi rend="spaced">gewirkt</hi> hat, soll hier
<lb n="30"/>von mir an’s Licht gestellt werden; vielmehr ganz allein
<lb n="31"/>nur, was es <hi rend="spaced">bedeutet</hi>, worauf es rathen lässt, was
<lb n="32"/>hinter ihm, unter ihm, in ihm versteckt liegt, wofür es
<lb n="33"/>der vorläufige, undeutliche, mit Fragezeichen und Miss<pc force="weak">-</pc>
<pb n="163" facs="#E40_0184" xml:id="Ed_163_id"/>
<lb n="1"/>verständnissen überladne Ausdruck ist. Und nur in
<lb n="2"/>Hinsicht auf <hi rend="spaced">diesen</hi> Zweck durfte ich meinen Lesern
<lb n="3"/>einen Blick auf das Ungeheure seiner Wirkungen, auch
<lb n="4"/>seiner verhängnissvollen Wirkungen nicht ersparen:
<lb n="5"/>um sie nämlich zum letzten und furchtbarsten Aspekt
<lb n="6"/>vorzubereiten, den die Frage nach der Bedeutung
<lb n="7"/>jenes Ideals für mich hat. Was bedeutet eben die <hi rend="spaced">Macht</hi>
<lb n="8"/>jenes Ideals, das <hi rend="spaced">Ungeheure</hi> seiner Macht? Weshalb
<lb n="9"/>ist ihm in diesem Maasse Raum gegeben worden? wes<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>halb nicht besser Widerstand geleistet worden? Das
<lb n="11"/>asketische Ideal drückt einen Willen aus: <hi rend="spaced">wo</hi> ist der
<lb n="12"/>gegnerische Wille, in dem sich ein <hi rend="spaced">gegnerisches
<lb n="13"/>Ideal</hi> ausdrückte? Das asketische Ideal hat ein <hi rend="spaced">Ziel</hi>,
<lb n="14"/>– dasselbe ist allgemein genug, dass alle Interessen
<lb n="15"/>des menschlichen Daseins sonst, an ihm gemessen,
<lb n="16"/>kleinlich und eng erscheinen; es legt sich Zeiten, Völ<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>ker, Menschen unerbittlich auf dieses Eine Ziel hin
<lb n="18"/>aus, es lässt keine andere Auslegung, kein andres Ziel
<lb n="19"/>gelten, es verwirft, verneint, bejaht, bestätigt allein im
<lb n="20"/>Sinne <hi rend="spaced">seiner</hi> Interpretation (– und gab es je ein zu
<lb n="21"/>Ende gedachteres System von Interpretation?); es unter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>wirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein
<lb n="23"/>Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte <hi rend="spaced">Rang-
<lb n="24"/>Distanz</hi> in Hinsicht auf jede Macht, – es glaubt
<lb n="25"/>daran, dass Nichts auf Erden von Macht da ist, das
<lb n="26"/>nicht von ihm aus erst einen Sinn, ein Daseins-Recht, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b53r"/>
<lb n="27"/>einen Werth zu empfangen habe, als Werkzeug zu
<lb n="28"/><hi rend="spaced">seinem</hi> Werke, als Weg und Mittel zu <hi rend="spaced">seinem</hi> Ziele,
<lb n="29"/>zu Einem Ziele… Wo ist das <hi rend="spaced">Gegenstück</hi> zu die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>sem geschlossenen System von Wille, Ziel und Inter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>pretation? Warum <hi rend="spaced">fehlt</hi> das Gegenstück?… Wo
<lb n="32"/>ist das <hi rend="spaced">andre</hi> „Eine Ziel“?… Aber man sagt mir,
<lb n="33"/>es fehle <hi rend="spaced">nicht</hi>, es habe nicht nur einen langen glück<pc force="weak">-</pc>
<pb n="164" facs="#E40_0185" xml:id="Ed_164_id"/>
<lb n="1"/>lichen Kampf mit jenem Ideale gekämpft, es sei viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>mehr in allen Hauptsachen bereits über jenes Ideal
<lb n="3"/>Herr geworden: unsre ganze moderne <hi rend="spaced">Wissenschaft</hi>
<lb n="4"/>sei das Zeugniss dafür, – diese moderne Wissenschaft,
<lb n="5"/>welche, als eine eigentliche Wirklichkeits-Philosophie,
<lb n="6"/>ersichtlich allein an sich selber glaube, ersichtlich den
<lb n="7"/>Muth zu sich, den Willen zu sich besitze und gut ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>nug bisher ohne Gott, Jenseits und verneinende Tugen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>den ausgekommen sei. Indessen mit solchem Lärm
<lb n="10"/>und Agitatoren-Geschwätz richtet man Nichts bei mir
<lb n="11"/>aus: diese Wirklichkeits-Trompeter sind schlechte Mu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>sikanten, ihre Stimmen kommen hörbar genug <hi rend="spaced">nicht</hi>
<lb n="13"/>aus der Tiefe, aus ihnen redet <hi rend="spaced">nicht</hi> der Abgrund des
<lb n="14"/>wissenschaftlichen Gewissens – denn heute ist das
<lb n="15"/>wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund –, das Wort
<lb n="16"/>„Wissenschaft“ ist in solchen Trompeter-Mäulern ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>fach eine Unzucht, ein Missbrauch, eine Schamlosigkeit.
<lb n="18"/>Gerade das Gegentheil von dem, was hier behauptet
<lb n="19"/>wird, ist die Wahrheit: die Wissenschaft hat heute
<lb n="20"/>schlechterdings <hi rend="spaced">keinen</hi> Glauben an sich, geschweige
<lb n="21"/>ein Ideal <hi rend="spaced">über</hi> sich, – und wo sie überhaupt noch
<lb n="22"/>Leidenschaft, Liebe, Gluth, <hi rend="spaced">Leiden</hi> ist, da ist sie nicht
<lb n="23"/>der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr <hi rend="spaced">dessen
<lb n="24"/>jüngste und vornehmste Form</hi> selber. Klingt
<lb n="25"/>auch das fremd?… Es giebt ja genug braves und
<lb n="26"/>bescheidenes Arbeiter-Volk auch unter den Gelehrten
<lb n="27"/>von Heute, dem sein kleiner Winkel gefällt, und das
<lb n="28"/>darum, weil es ihm darin gefällt, bisweilen ein wenig
<lb n="29"/>unbescheiden mit der Forderung laut wird, man <hi rend="spaced">solle</hi>
<lb n="30"/>überhaupt heute zufrieden sein, zumal in der Wissen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>schaft, – es gäbe da gerade so viel Nützliches zu thun.
<lb n="32"/>Ich widerspreche nicht; am wenigsten möchte ich diesen
<lb n="33"/>ehrlichen Arbeitern ihre Lust am Handwerk verderben:
<pb n="165" facs="#E40_0186" xml:id="Ed_165_id"/>
<lb n="1"/>denn ich freue mich ihrer Arbeit. Aber damit, dass
<lb n="2"/>jetzt in der Wissenschaft streng gearbeitet wird und
<lb n="3"/>dass es zufriedne Arbeiter giebt, ist schlechterdings
<lb n="4"/><hi rend="spaced">nicht</hi> bewiesen, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b54r"/>dass die Wissenschaft als Ganzes heute
<lb n="5"/>ein Ziel, einen Willen, ein Ideal, eine Leidenschaft des
<lb n="6"/>grossen Glaubens habe. Das Gegentheil, wie gesagt,
<lb n="7"/>ist der Fall: wo sie nicht die jüngste Erscheinungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>form des asketischen Ideals ist, – es handelt sich da
<lb n="9"/>um zu seltne, vornehme, ausgesuchte Fälle, als dass
<lb n="10"/>damit das Gesammturtheil umgebogen werden könnte
<lb n="11"/>– ist die Wissenschaft heute ein <hi rend="spaced">Versteck</hi> für alle
<lb n="12"/>Art Missmuth, Unglauben, Nagewurm, despectio sui,
<lb n="13"/>schlechtes Gewissen, – sie ist die <hi rend="spaced">Unruhe</hi> der Ideal<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>losigkeit selbst, das Leiden am <hi rend="spaced">Mangel</hi> der grossen
<lb n="15"/>Liebe, das Ungenügen an einer <hi rend="spaced">unfreiwilligen</hi> Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>nügsamkeit. Oh was verbirgt heute nicht Alles Wissen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>schaft! wie viel <hi rend="spaced">soll</hi> sie mindestens verbergen! Die
<lb n="18"/>Tüchtigkeit unsrer besten Gelehrten, ihr besinnungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>loser Fleiss, ihr Tag und Nacht rauchender Kopf, ihre
<lb n="20"/>Handwerks-Meisterschaft selbst – wie oft hat das Alles
<lb n="21"/>seinen eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend Etwas
<lb n="22"/>nicht mehr sichtbar werden zu lassen! Die Wissen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>schaft als Mittel der Selbst-Betäubung: <hi rend="spaced">kennt ihr
<lb n="24"/>das</hi>?… Man verwundet sie – Jeder erfährt es, der
<lb n="25"/>mit Gelehrten umgeht – mitunter durch ein harmloses
<lb n="26"/>Wort bis auf den Knochen, man erbittert seine ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>lehrten Freunde gegen sich, im Augenblick, wo man
<lb n="28"/>sie zu ehren meint, man bringt sie ausser Rand und
<lb n="29"/>Band, bloss weil man zu grob war, um zu errathen,
<lb n="30"/>mit wem man es eigentlich zu thun hat, mit <hi rend="spaced">Leiden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>den</hi>, die es sich selbst nicht eingestehn wollen, was
<lb n="32"/>sie sind, mit Betäubten und Besinnungslosen, die nur
<lb n="33"/>Eins fürchten: <hi rend="spaced">zum Bewusstsein zu kommen</hi>…</p></div2>
<div2 xml:id="GM0324">
<pb n="166" facs="#E40_0187" xml:id="Ed_166_id"/>
<head>
<lb n="1"/>24.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>– Und nun sehe man sich dagegen jene seltneren
<lb n="3"/>Fälle an, von denen ich sprach, die letzten Idealisten,
<lb n="4"/>die es heute unter Philosophen und Gelehrten giebt:
<lb n="5"/>hat man in ihnen vielleicht die gesuchten <hi rend="spaced">Gegner</hi> des
<lb n="6"/>asketischen Ideals, dessen <hi rend="spaced">Gegen-Idealisten</hi>? In
<lb n="7"/>der That, sie <hi rend="spaced">glauben</hi> sich als solche, diese „Ungläu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>bigen“ (denn das sind sie allesammt); es scheint gerade
<lb n="9"/>Das ihr letztes Stück Glaube, Gegner dieses Ideals zu
<lb n="10"/>sein, so ernsthaft sind sie an dieser Stelle, so leiden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>schaftlich wird da gerade ihr Wort, ihre Gebärde: –
<lb n="12"/>brauchte es deshalb schon <hi rend="spaced">wahr</hi> zu sein, was sie glau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>ben?… Wir „Erkennenden“ sind nachgerade miss<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>trauisch gegen alle Art Gläubige; unser Misstrauen
<lb n="15"/>hat uns allmählich darauf eingeübt, umgekehrt zu
<lb n="16"/>schliessen, als man ehedem schloss: <milestone unit="page" source="#Dm" n="b55r"/>nämlich überall,
<lb n="17"/>wo die Stärke eines Glaubens sehr in den Vordergrund
<lb n="18"/>tritt, auf eine gewisse Schwäche der Beweisbarkeit,
<lb n="19"/>auf <hi rend="spaced">Unwahrscheinlichkeit</hi> selbst des Geglaubten
<lb n="20"/>zu schliessen. Auch wir leugnen nicht, dass der Glaube
<lb n="21"/>„selig macht“: <hi rend="spaced">eben deshalb</hi> leugnen wir, dass der
<lb n="22"/>Glaube Etwas <hi rend="spaced">beweist</hi>, – ein starker Glaube, der
<lb n="23"/>selig macht, ist ein Verdacht gegen Das, woran er
<lb n="24"/>glaubt, er begründet nicht „Wahrheit“, er begründet
<lb n="25"/>eine gewisse Wahrscheinlichkeit – der <hi rend="spaced">Täuschung</hi>.
<lb n="26"/>Wie steht es nun in diesem Falle? – Diese Verneinen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>den und Abseitigen von Heute, diese Unbedingten in
<lb n="28"/>Einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese
<lb n="29"/>harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister,
<lb n="30"/>welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen, alle diese
<lb n="31"/>blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten,
<lb n="32"/>diese Skeptiker, Ephektiker, <hi rend="spaced">Hektiker</hi> des Geistes
<lb n="33"/>(letzteres sind sie sammt und sonders, in irgend einem
<pb n="167" facs="#E40_0188" xml:id="Ed_167_id"/>
<lb n="1"/>Sinne), diese letzten Idealisten der Erkenntniss, in denen
<lb n="2"/>allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt und leib<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>haft ward, – sie glauben sich in der That so losge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>löst als möglich vom asketischen Ideale, diese „freien,
<lb n="5"/><hi rend="spaced">sehr</hi> freien Geister“: und doch, dass ich ihnen ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>rathe, was sie selbst nicht sehen können – denn sie
<lb n="7"/>stehen sich zu nahe – dies Ideal ist gerade auch <hi rend="spaced">ihr</hi>
<lb n="8"/>Ideal, sie selbst stellen es heute dar, und Niemand
<lb n="9"/>sonst vielleicht, sie selbst sind seine vergeistigtste Aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>geburt, seine vorgeschobenste Krieger- und Kund<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>schafter-Schaar, seine verfänglichste, zarteste, unfass<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>lichste Verführungsform: – wenn ich irgend worin
<lb n="13"/>Räthselrather bin, so will ich es mit <hi rend="spaced">diesem</hi> Satze sein!…
<lb n="14"/>Das sind noch lange keine <hi rend="spaced">freien</hi> Geister: <hi rend="spaced">denn sie
<lb n="15"/>glauben noch an die Wahrheit</hi>… Als die christ<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>lichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren
<lb n="17"/>Assassinen-Orden stiessen, jenen Freigeister-Orden
<lb n="18"/>par excellence, dessen unterste Grade in einem Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>horsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden
<lb n="20"/>erreicht hat, da bekamen sie auf irgend welchem Wege
<lb n="21"/>auch einen Wink über jenes Symbol und Kerbholz-
<lb n="22"/>Wort, das nur den obersten Graden, als deren Secre<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>tum, vorbehalten war: „Nichts ist wahr, Alles ist er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>laubt“… Wohlan, <hi rend="spaced">das</hi> war <hi rend="spaced">Freiheit</hi> des Geistes,
<lb n="25"/><hi rend="spaced">damit</hi> war der Wahrheit selbst der Glaube <hi rend="spaced">gekün<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>digt</hi>… Hat wohl je schon ein europäischer, ein
<lb n="27"/>christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine
<lb n="28"/>labyrinthischen <hi rend="spaced">Folgerungen</hi> verirrt? kennt er den
<lb n="29"/>Minotauros dieser Höhle <hi rend="spaced">aus Erfahrung</hi>?… Ich
<lb n="30"/>zweifle daran, mehr noch, ich weiss es anders: – Nichts
<lb n="31"/>ist diesen <milestone unit="page" source="#Dm" n="b56r"/>Unbedingten in Einem, diesen <hi rend="spaced">sogenann<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>ten</hi> „freien Geistern“ gerade fremder als Freiheit und
<lb n="33"/>Entfesselung in jenem Sinne, in keiner Hinsicht sind
<pb n="168" facs="#E40_0189" xml:id="Ed_168_id"/>
<lb n="1"/>sie gerade fester gebunden, im Glauben gerade an die
<lb n="2"/>Wahrheit sind sie, wie Niemand anders sonst, fest und
<lb n="3"/>unbedingt. Ich kenne dies Alles vielleicht zu sehr
<lb n="4"/>aus der Nähe: jene verehrenswürdige Philosophen-
<lb n="5"/>Enthaltsamkeit, zu der ein solcher Glaube verpflichtet,
<lb n="6"/>jener Stoicismus des Intellekts, der sich das Nein zu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>letzt eben so streng verbietet wie das Ja, jenes Stehen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>bleiben-<hi rend="spaced">Wollen</hi> vor dem Thatsächlichen, dem factum
<lb n="9"/><hi rend="spaced">brutum</hi>, jener Fatalismus der „petits faits“ (ce petit
<lb n="10"/>faitalisme, wie ich ihn nenne), worin die französische
<lb n="11"/>Wissenschaft jetzt eine Art moralischen Vorrangs vor
<lb n="12"/>der deutschen sucht, jenes Verzichtleisten auf Interpre<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>tation überhaupt (auf das Vergewaltigen, Zurechtschie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>ben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten,
<lb n="15"/>Umfälschen und was sonst zum <hi rend="spaced">Wesen</hi> alles Interpre<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>tirens gehört) – das drückt, in’s Grosse gerechnet,
<lb n="17"/>ebensogut Ascetismus der Tugend aus, wie irgend eine
<lb n="18"/>Verneinung der Sinnlichkeit (es ist im Grunde nur ein
<lb n="19"/>modus dieser Verneinung). Was aber zu ihm <hi rend="spaced">zwingt</hi>,
<lb n="20"/>jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das ist der
<lb n="21"/><hi rend="spaced">Glaube an das asketische Ideal selbst</hi>, wenn
<lb n="22"/>auch als sein unbewusster Imperativ, man täusche sich
<lb n="23"/>hierüber nicht, – das ist der Glaube an einen <hi rend="spaced">meta<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>physischen</hi> Werth, einen Werth <hi rend="spaced">an sich der Wahr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>heit</hi>, wie er allein in jenem Ideal verbürgt und ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>brieft ist (er steht und fällt mit jenem Ideal). Es giebt,
<lb n="27"/>streng geurtheilt, gar keine „voraussetzungslose“
<lb n="28"/>Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>bar, paralogisch: eine Philosophie, ein „Glaube“ muss
<lb n="30"/>immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft
<lb n="31"/>eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode,
<lb n="32"/>ein <hi rend="spaced">Recht</hi> auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt
<lb n="33"/>versteht, wer zum Beispiel sich anschickt, die Philoso<pc force="weak">-</pc>
<pb n="169" facs="#E40_0190" xml:id="Ed_169_id"/>
<lb n="1"/>phie „auf streng wissenschaftliche Grundlage“ zu stellen,
<lb n="2"/>der hat dazu erst nöthig, nicht nur die Philosophie,
<lb n="3"/>sondern auch die Wahrheit selber <hi rend="spaced">auf den Kopf zu
<lb n="4"/>stellen</hi>: die ärgste Anstands-Verletzung, die es in
<lb n="5"/>Hinsicht auf zwei so ehrwürdige Frauenzimmer geben
<lb n="6"/>kann!) Ja, es ist kein Zweifel – und hiermit lasse ich
<lb n="7"/>meine „fröhliche Wissenschaft“ zu Worte kommen,
<lb n="8"/>vergl. deren fünftes Buch S. 263 – „der Wahrhaftige, in
<lb n="9"/>jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der
<lb n="10"/>Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, <hi rend="spaced">bejaht da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>mit eine andre Welt</hi> als die des Lebens, der Natur
<lb n="12"/>und der Geschichte; und <milestone unit="page" source="#Dm" n="b57r"/>insofern er diese „andre Welt“
<lb n="13"/>bejaht, wie? muss er nicht eben damit ihr Gegenstück,
<lb n="14"/>diese Welt, <hi rend="spaced">unsre</hi> Welt – verneinen?… Es ist immer
<lb n="15"/>noch ein <hi rend="spaced">metaphysischer Glaube</hi>, auf dem unser
<lb n="16"/>Glaube an die Wissenschaft ruht, – auch wir Erken<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>nenden von Heute, wir Gottlosen und Antimetaphy<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>siker, auch wir nehmen <hi rend="spaced">unser</hi> Feuer noch von jenem
<lb n="19"/>Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet
<lb n="20"/>hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Pla<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>to’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>heit <hi rend="spaced">göttlich</hi> ist… Aber wie, wenn gerade dies
<lb n="23"/>immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich
<lb n="24"/>mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum,
<lb n="25"/>die Blindheit, die Lüge, – wenn Gott selbst sich als
<lb n="26"/>unsre <hi rend="spaced">längste Lüge</hi> erweist?“ – – An dieser Stelle
<lb n="27"/>thut es Noth, Halt zu machen und sich lange zu be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>sinnen. Die Wissenschaft selber <hi rend="spaced">bedarf</hi> nunmehr
<lb n="29"/>einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt
<lb n="30"/>sein soll, dass es eine solche für sie giebt). Man sehe
<lb n="31"/>sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>sophien an: in ihnen allen fehlt ein Bewusstsein darüber,
<lb n="33"/>inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer
<pb n="170" facs="#E40_0191" xml:id="Ed_170_id"/>
<lb n="1"/>Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder
<lb n="2"/>Philosophie – woher kommt das? Weil das asketische
<lb n="3"/>Ideal über alle Philosophie bisher <hi rend="spaced">Herr</hi> war, weil
<lb n="4"/>Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst
<lb n="5"/>gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein
<lb n="6"/><hi rend="spaced">durfte</hi>. Versteht man dies „durfte“? – Von dem
<lb n="7"/>Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des aske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>tischen Ideals verneint ist, <hi rend="spaced">giebt es auch ein neues
<lb n="9"/>Problem</hi>: das vom <hi rend="spaced">Werthe</hi> der Wahrheit. – Der
<lb n="10"/>Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen
<lb n="11"/>wir hiermit unsre eigene Aufgabe –, der Werth der
<lb n="12"/>Wahrheit ist versuchsweise einmal <hi rend="spaced">in Frage zu
<lb n="13"/>stellen</hi>… (Wem dies zu kurz gesagt scheint, dem
<lb n="14"/>sei empfohlen, jenen Abschnitt der „fröhlichen Wissen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>schaft“ nachzulesen, welcher den Titel trägt: „Inwie<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>fern auch wir noch fromm sind“ S. 260 ff, am besten
<lb n="17"/>das ganze fünfte Buch des genannten Werks, insgleichen
<lb n="18"/>die Vorrede zur „Morgenröthe“.) </p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0325">
<head>
<lb n="19"/>25.</head>
<p>
<lb n="20" rend="indent"/>Nein! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft,
<lb n="21"/>wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des aske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>tischen Ideals suche, wenn ich frage: „<hi rend="spaced">wo</hi> ist der gegne<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>rische Wille, in dem sich sein <hi rend="spaced">gegnerisches Ideal</hi>
<lb n="24"/>ausdrückt?“ Dazu steht die Wissenschaft lange nicht
<lb n="25"/>genug <milestone unit="page" source="#Dm" n="b58r"/>auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte
<lb n="26"/>erst eines Werth-Ideals, einer wertheschaffenden Macht,
<lb n="27"/>in deren <hi rend="spaced">Dienste</hi> sie an sich selber <hi rend="spaced">glauben darf</hi>,
<lb n="28"/>– sie selbst ist niemals wertheschaffend. Ihr Verhält<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>niss zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch
<lb n="30"/>nicht antagonistisch; sie stellt in der Hauptsache so<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>gar eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen
<lb n="32"/>innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und
<pb n="171" facs="#E40_0192" xml:id="Ed_171_id"/>
<lb n="1"/>Kampf bezieht sich, feiner geprüft, gar nicht auf das
<lb n="2"/>Ideal selbst, sondern nur auf dessen Aussenwerke,
<lb n="3"/>Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>härtung, Verholzung, Verdogmatisirung – sie macht
<lb n="5"/>das Leben in ihm wieder frei, indem sie das Exote<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>rische an ihm verneint. Diese Beiden, Wissenschaft
<lb n="7"/>und asketisches Ideal, sie stehen ja auf Einem Boden
<lb n="8"/>– ich gab dies schon zu verstehn –: nämlich auf der
<lb n="9"/>gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger: auf dem
<lb n="10"/>gleichen Glauben an die <hi rend="spaced">Un</hi>abschätzbarkeit, <hi rend="spaced">Un</hi>kriti<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>sirbarkeit der Wahrheit), eben damit sind sie sich
<lb n="12"/><hi rend="spaced">nothwendig</hi> Bundesgenossen, – so dass sie, gesetzt,
<lb n="13"/>dass sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam
<lb n="14"/>bekämpft und in Frage gestellt werden können. Eine
<lb n="15"/>Werthabschätzung des asketischen Ideals zieht unver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>meidlich auch eine Werthabschätzung der Wissenschaft
<lb n="17"/>nach sich: dafür mache man sich bei Zeiten die
<lb n="18"/>Augen hell, die Ohren spitz! (Die <hi rend="spaced">Kunst</hi>, vorweg
<lb n="19"/>gesagt, denn ich komme irgendwann des Längeren
<lb n="20"/>darauf zurück, – die Kunst, in der gerade die <hi rend="spaced">Lüge</hi>
<lb n="21"/>sich heiligt, der <hi rend="spaced">Wille zur Täuschung</hi> das gute Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>wissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel
<lb n="23"/>grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft:
<lb n="24"/>so empfand es der Instinkt Plato’s, dieses grössten
<lb n="25"/>Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat.
<lb n="26"/>Plato <hi rend="spaced">gegen</hi> Homer: das ist der ganze, der ächte An<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>tagonismus – dort der „Jenseitige“ besten Willens, der
<lb n="28"/>grosse Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilli<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>ger Vergöttlicher, die <hi rend="spaced">goldene</hi> Natur. Eine Künstler-
<lb n="30"/>Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist des<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>halb die eigentlichste Künstler-<hi rend="spaced">Corruption</hi>, die es
<lb n="32"/>geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten: denn
<lb n="33"/>Nichts ist corruptibler, als ein Künstler.) Auch physio<pc force="weak">-</pc>
<pb n="172" facs="#E40_0193" xml:id="Ed_172_id"/>
<lb n="1"/>logisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem
<lb n="2"/>gleichen Boden wie das asketische Ideal: eine gewisse
<lb n="3"/><hi rend="spaced">Verarmung des Lebens</hi> ist hier wie dort die Voraus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>setzung, – die Affekte kühl geworden, das tempo ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>langsamt, die Dialektik an Stelle des Instinktes, der
<lb n="6"/><hi rend="spaced">Ernst</hi> den Gesichtern und Gebärden aufgedrückt (der
<lb n="7"/>Ernst, dieses unmissverständlichste <milestone unit="page" source="#Dm" n="b59r"/>Abzeichen des müh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>sameren Stoffwechsels, des ringenden, schwerer arbei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>tenden Lebens). Man sehe sich die Zeiten eines Volkes
<lb n="10"/>an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt:
<lb n="11"/>es sind Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des
<lb n="12"/>Niederganges, – die überströmende Kraft, die Lebens-
<lb n="13"/>Gewissheit, die <hi rend="spaced">Zukunfts</hi>-Gewissheit sind dahin. Das
<lb n="14"/>Übergewicht des Mandarinen bedeutet niemals etwas
<lb n="15"/>Gutes: so wenig als die Heraufkunft der Demokratie,
<lb n="16"/>der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der
<lb n="17"/>Frauen-Gleichberechtigung, der Religion des Mitleids
<lb n="18"/>und was es sonst Alles für Symptome des absinkenden
<lb n="19"/>Lebens giebt. (Wissenschaft als Problem gefasst; was
<lb n="20"/>bedeutet Wissenschaft? – vergl. darüber die Vorrede
<lb n="21"/>zur „Geburt der Tragödie“.) – Nein! diese „moderne
<lb n="22"/>Wissenschaft“ – macht euch nur dafür die Augen
<lb n="23"/>auf! – ist einstweilen die <hi rend="spaced">beste</hi> Bundesgenossin des
<lb n="24"/>asketischen Ideals, und gerade deshalb, weil sie die
<lb n="25"/>unbewussteste, die unfreiwilligste, die heimlichste und
<lb n="26"/>unterirdischste ist! Sie haben bis jetzt Ein Spiel ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>spielt, die „Armen des Geistes“ und die wissenschaft<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>lichen Widersacher jenes Ideals (man hüte sich, anbei
<lb n="29"/>gesagt, zu denken, dass sie deren Gegensatz seien,
<lb n="30"/>etwa als die <hi rend="spaced">Reichen</hi> des Geistes: – das sind sie
<lb n="31"/><hi rend="spaced">nicht</hi>, ich nannte sie Hektiker des Geistes). Diese be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>rühmten <hi rend="spaced">Siege</hi> der letzteren: unzweifelhaft, es sind
<lb n="33"/>Siege – aber worüber? Das asketische Ideal wurde
<pb n="173" facs="#E40_0194" xml:id="Ed_173_id"/>
<lb n="1"/>ganz und gar nicht in ihnen besiegt, es wurde eher
<lb n="2"/>damit stärker, nämlich unfasslicher, geistiger, verfäng<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>licher gemacht, dass immer wieder eine Mauer, ein
<lb n="4"/>Aussenwerk, das sich an dasselbe angebaut hatte und
<lb n="5"/>seinen Aspekt <hi rend="spaced">vergröberte</hi>, seitens der Wissenschaft
<lb n="6"/>schonungslos abgelöst, abgebrochen worden ist. Meint
<lb n="7"/>man in der That, dass etwa die Niederlage der theolo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>gischen Astronomie eine Niederlage jenes Ideals be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>deute?… Ist damit vielleicht der Mensch <hi rend="spaced">weniger
<lb n="10"/>bedürftig</hi> nach einer Jenseitigkeits-Lösung seines
<lb n="11"/>Räthsels von Dasein geworden, dass dieses Dasein sich
<lb n="12"/>seitdem noch beliebiger, eckensteherischer, entbehr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>licher in der <hi rend="spaced">sichtbaren</hi> Ordnung der Dinge aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>nimmt? Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des
<lb n="15"/>Menschen, sein <hi rend="spaced">Wille</hi> zur Selbstverkleinerung seit
<lb n="16"/>Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach,
<lb n="17"/>der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit
<lb n="18"/>in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist
<lb n="19"/><hi rend="spaced">Thier</hi> geworden, Thier, ohne Gleichniss, Abzug und
<lb n="20"/>Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe
<lb n="21"/>Gott („Kind Gottes“, „Gottmensch“) war… <milestone unit="page" source="#Dm" n="b60r"/>Seit Ko<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>pernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene
<lb n="23"/>gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem
<lb n="24"/>Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s „<hi rend="spaced">durch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>bohrende</hi> Gefühl seines Nichts“?… Wohlan! dies
<lb n="26"/>eben wäre der gerade Weg – in’s <hi rend="spaced">alte</hi> Ideal?…
<lb n="27"/><hi rend="spaced">Alle</hi> Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie,
<lb n="28"/>über deren demüthigende und herunterbringende Wir<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>kung Kant ein bemerkenswerthes Geständniss gemacht
<lb n="30"/>hat, „sie vernichtet meine <choice><orig>Wichtigkeit“…)</orig><corr source="#KGW #KSA">Wichtigkeit“…),</corr></choice> alle Wissen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>schaft, die natürliche sowohl, wie die <hi rend="spaced">unnatürliche</hi> –
<lb n="32"/>so heisse ich die Erkenntniss-Selbstkritik – ist heute
<lb n="33"/>darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung
<pb n="174" facs="#E40_0195" xml:id="Ed_174_id"/>
<lb n="1"/>vor sich auszureden, wie als ob dieselbe Nichts als ein
<lb n="2"/>bizarrer Eigendünkel gewesen sei; man könnte sogar
<lb n="3"/>sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe
<lb n="4"/>Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>rungene <hi rend="spaced">Selbstverachtung</hi> des Menschen als dessen
<lb n="6"/>letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst
<lb n="7"/>aufrecht zu erhalten (mit Recht, in der That: denn der
<lb n="8"/>Verachtende ist immer noch Einer, der „das Achten
<lb n="9"/>nicht verlernt hat“…) Wird damit dem asketischen
<lb n="10"/>Ideale eigentlich <hi rend="spaced">entgegengearbeitet</hi>? Meint man
<lb n="11"/>wirklich alles Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeit
<lb n="12"/>lang sich einbildeten), dass etwa Kant’s <hi rend="spaced">Sieg</hi> über die
<lb n="13"/>theologische Begriffs-Dogmatik („Gott“, „Seele“, „Frei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>heit“, „Unsterblichkeit“) jenem Ideale Abbruch gethan
<lb n="15"/>habe? – wobei es uns einstweilen Nichts angehen soll,
<lb n="16"/>ob Kant selber etwas Derartiges überhaupt auch nur
<lb n="17"/>in Absicht gehabt hat. Gewiss ist, <choice><orig>das</orig><corr source="#KGW #KSA">dass</corr></choice> alle Art Trans<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>cendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel
<lb n="19"/>haben, – sie sind von den Theologen emancipirt:
<lb n="20"/>welches Glück! – er hat ihnen jenen Schleichweg ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>rathen, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit
<lb n="22"/>dem besten wissenschaftlichen Anstande den „Wünschen
<lb n="23"/>ihres Herzens“ nachgehen dürfen. Insgleichen: wer
<lb n="24"/>dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie,
<lb n="25"/>als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnissvollen
<lb n="26"/>an sich, <hi rend="spaced">das Fragezeichen selbst</hi> jetzt als Gott an<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>beten? (<choice><orig>Xaver</orig><corr><note type="editorial">Ximénès</note></corr></choice> Doudan spricht einmal von den rava<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>ges, welche „l’habitude <hi rend="spaced">d’admirer</hi> l’inintelligible au
<lb n="29"/>lieu de rester tout simplement dans l’inconnu“ angerich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>tet habe; er meint, die Alten hätten dessen entrathen.)
<lb n="31"/>Gesetzt, dass Alles, was der Mensch „erkennt“, seinen
<lb n="32"/>Wünschen nicht genug thut, ihnen vielmehr widerspricht
<lb n="33"/>und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die
<pb n="175" facs="#E40_0196" xml:id="Ed_175_id"/>
<lb n="1"/>Schuld davon nicht im „Wünschen“, sondern im „Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>kennen“ suchen zu dürfen!… „Es giebt kein Erkennen:
<lb n="3"/><hi rend="spaced">folglich</hi> – giebt es einen Gott“: welche neue ele<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>gantia syllogismi! welcher <hi rend="spaced">Triumph</hi> des asketischen
<lb n="5"/>Ideals! –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0326">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="b61r"/>
<head>
<lb n="6"/>26.</head>
<p><lb n="7" rend="indent"/>– Oder zeigte vielleicht die gesammte moderne
<lb n="8"/>Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>wissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt
<lb n="10"/>dahin, <hi rend="spaced">Spiegel</hi> zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab;
<lb n="11"/>sie will Nichts mehr „beweisen“; sie verschmäht es,
<lb n="12"/>den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>schmack, – sie bejaht so wenig als sie verneint, sie
<lb n="14"/>stellt fest, sie „beschreibt“… Dies Alles ist in einem
<lb n="15"/>hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem
<lb n="16"/>noch höheren Grade <hi rend="spaced">nihilistisch</hi>, darüber täusche
<lb n="17"/>man sich nicht! Man sieht einen traurigen, harten,
<lb n="18"/>aber entschlossenen Blick, – ein Auge, das <hi rend="spaced">hinaus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>schaut</hi>, wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinaus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>schaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen? um nicht
<lb n="21"/>zurückzuschauen?…) Hier ist Schnee, hier ist das
<lb n="22"/>Leben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut
<lb n="23"/>werden, heissen „Wozu?“, „Umsonst!“, „Nada!“ – hier
<lb n="24"/>gedeiht und wächst Nichts mehr, höchstens Petersburger
<lb n="25"/>Metapolitik und Tolstoi’sches „Mitleid“. Was aber jene
<lb n="26"/>andre Art von Historikern betrifft, eine vielleicht noch
<lb n="27"/>„modernere“ Art, eine genüssliche, wollüstige, mit dem
<lb n="28"/>Leben ebenso sehr als mit dem asketischen Ideal lieb<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>äugelnde Art, welche das Wort „Artist“ als Handschuh
<lb n="30"/>gebraucht und heute das Lob der Contemplation ganz
<lb n="31"/>und gar für sich in Pacht genommen hat: oh welchen
<lb n="32"/>Durst erregen diese süssen Geistreichen selbst noch nach
<lb n="33"/>Asketen und Winterlandschaften! Nein! dies „beschau<pc force="weak">-</pc>
<pb n="176" facs="#E40_0197" xml:id="Ed_176_id"/>
<lb n="1"/>liche“ Volk mag sich der Teufel holen! Um wie viel
<lb n="2"/>lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten
<lb n="3"/>durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern! –
<lb n="4"/>ja, es soll mir nicht darauf ankommen, gesetzt, dass ich
<lb n="5"/>wählen muss, selbst einem <milestone unit="page" source="#Dm" n="b63r"/>ganz eigentlich Unhistori<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>schen, Widerhistorischen Gehör zu schenken (wie jenem
<lb n="7"/>Dühring, an dessen Tönen sich im heutigen Deutsch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>land eine bisher noch schüchterne, noch uneingeständ<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>liche Species „schöner Seelen“ berauscht, die Species
<lb n="10"/>anarchistica innerhalb des gebildeten Proletariats).
<lb n="11"/><milestone unit="page" source="#Dm" n="b61r"/>Hundert Mal schlimmer sind die „Beschaulichen“ –:
<lb n="12"/>ich wüsste Nichts, was so sehr Ekel machte, als solch
<lb n="13"/>ein „objektiver“ Lehnstuhl, solch ein duftender Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>nüssling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr,
<lb n="15"/>Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett sei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>nes Beifalls verräth, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b62r"/>was ihm abgeht, <hi rend="spaced">wo</hi> es ihm ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>geht, <hi rend="spaced">wo</hi> in diesem Falle die Parze ihre grausame
<lb n="18"/>Scheere ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat! Das
<lb n="19"/>geht mir wider den Geschmack, auch wider die Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>duld: behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer
<lb n="21"/>Nichts an ihr zu verlieren hat, – mich ergrimmt solch
<lb n="22"/>ein Aspekt, solche „Zuschauer“ erbittern mich gegen
<lb n="23"/>das „Schauspiel“, mehr noch als das Schauspiel (die
<lb n="24"/>Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen
<lb n="25"/>mir dabei anakreontische Launen. Diese Natur, die
<lb n="26"/>dem Stier das Horn, dem Löwen das <foreign xml:lang="grc">χάσμ᾽ ὀδόντων</foreign> gab,
<lb n="27"/>wozu gab mir die Natur den Fuss?… Zum Treten,
<lb n="28"/>beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davon<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>laufen: zum Zusammentreten der morschen Lehnstühle,
<lb n="30"/>der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>thums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen
<lb n="32"/>Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz!
<lb n="33"/>Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, <hi rend="spaced">sofern <anchor xml:id="Bogen11End"/><milestone xml:id="Bogen12" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen12End"/>"/&gt;
<pb n="177" facs="#E40_0198" xml:id="Ed_177_id"/>
<lb n="1"/>es ehrlich ist</hi>! so lange es an sich selber glaubt und
<lb n="2"/>uns keine Possen vormacht! Aber ich mag alle diese
<lb n="3"/>koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich
<lb n="4"/>darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt
<lb n="5"/>das Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>tünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern;
<lb n="7"/>ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich
<lb n="8"/>in Weisheit einwickeln und „objektiv“ blicken; ich mag
<lb n="9"/>die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine
<lb n="10"/>Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf
<lb n="11"/>tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den
<lb n="12"/>Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde
<lb n="13"/>nur tragische Hanswürste sind; ich mag <milestone unit="page" source="#Dm" n="b63r"/>auch sie nicht,
<lb n="14"/>diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Anti<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>semiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-
<lb n="16"/>biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld
<lb n="17"/>erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilsten Agitations<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>mittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Ele<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>mente des Volkes aufzuregen suchen <milestone unit="page" source="#Dm" n="b62r"/>(– dass <hi rend="spaced">jede</hi> Art
<lb n="20"/>Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne
<lb n="21"/>Erfolg bleibt, hängt mit der nachgerade unableug<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>baren und bereits handgreiflichen <hi rend="spaced">Verödung</hi> des
<lb n="23"/>deutschen Geistes zusammen, deren Ursache ich in einer
<lb n="24"/>allzuausschliesslichen Ernährung mit Zeitungen, Politik,
<lb n="25"/>Bier und Wagnerischer Musik suche, hinzugerechnet,
<lb n="26"/>was die Voraussetzung für diese Diät abgiebt: <milestone unit="page" source="#Dm" n="b64r"/>einmal
<lb n="27"/>die nationale Einklemmung und Eitelkeit, das starke,
<lb n="28"/>aber enge Princip „Deutschland, Deutschland über
<lb n="29"/>Alles“, sodann aber die Paralysis agitans der „modernen
<lb n="30"/>Ideen“). <milestone unit="page" source="#Dm" n="b65r"/>Europa ist heute reich und erfinderisch vor
<lb n="31"/>Allem in Erregungsmitteln, es scheint Nichts nöthiger
<lb n="32"/>zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher
<lb n="33"/>auch die ungeheure Fälscherei in Idealen, diesen ge<pc force="weak">-</pc>
<pb n="178" facs="#E40_0199" xml:id="Ed_178_id"/>
<lb n="1"/>branntesten Wassern des Geistes, daher auch die widrige,
<lb n="2"/>übelriechende, verlogne, pseudo-alkoholische Luft über<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>all. <milestone unit="page" source="#Dm" n="b66r"/>Ich möchte wissen, wie viel Schiffsladungen von
<lb n="4"/>nachgemachtem Idealismus, von Helden-Kostümen und
<lb n="5"/>Klapperblech grosser Worte, <milestone unit="page" source="#Dm" n="b65r"/>wie viel Tonnen ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>zuckerten spirituosen Mitgefühls (Firma: la religion de
<lb n="7"/>la souffrance), <milestone unit="page" source="#Dm" n="b66r"/>wie viel Stelzbeine „edler Entrüstung“
<lb n="8"/>zur Nachhülfe geistig Plattfüssiger, wie viel <hi rend="spaced">Komö<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>dianten</hi> des christlich-moralischen Ideals heute aus
<lb n="10"/>Europa exportirt werden müssten, damit seine Luft
<lb n="11"/>wieder reinlicher röche… Ersichtlich steht in Hin<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>sicht auf diese Überproduktion eine neue <hi rend="spaced">Handels</hi>-
<lb n="13"/>Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-
<lb n="14"/>Götzen und zugehörigen „Idealisten“ ein neues „Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>schäft“ zu machen – man überhöre diesen Zaunspfahl
<lb n="16"/>nicht! Wer hat Muth genug dazu? – wir haben es
<lb n="17"/>in der <hi rend="spaced">Hand</hi>, die ganze Erde zu „idealisiren“!…
<lb n="18"/>Aber was rede ich von Muth: hier thut Eins nur Noth,
<lb n="19"/>eben die Hand, eine unbefangne, eine sehr unbefangne
<lb n="20"/>Hand…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0327">
<head>
<lb n="21"/>27.</head>
<p>
<lb n="22" rend="indent"/>– Genug! Genug! Lassen wir diese Curiositäten
<lb n="23"/>und Complexitäten des modernsten Geistes, an denen
<lb n="24"/>ebensoviel zum Lachen als zum Verdriessen ist: gerade
<lb n="25"/><hi rend="spaced">unser</hi> Problem kann deren entrathen, das Problem
<lb n="26"/>von der <hi rend="spaced">Bedeutung</hi> des asketischen Ideals, – was
<lb n="27"/>hat dasselbe mit Gestern und Heute zu thun! Jene
<lb n="28"/>Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange
<lb n="29"/>gründlicher und härter angefasst werden (unter dem
<lb n="30"/>Titel „Zur Geschichte des europäischen Nihilismus“;
<lb n="31"/>ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite:
<lb n="32"/><hi rend="bold">Der Wille zur Macht,</hi><!-- rend=bold!!! CSS?! --> <hi rend="spaced">Versuch einer Umwerthung
<lb n="33"/>aller Werthe</hi>). Worauf es mir allein ankommt hier
<pb n="179" facs="#E40_0200" xml:id="Ed_179_id"/>
<lb n="1"/>hingewiesen zu haben, ist dies: das asketische Ideal
<lb n="2"/>hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer
<lb n="3"/>nur noch Eine Art von wirklichen Feinden und
<lb n="4"/><hi rend="spaced">Schädigern</hi>: das sind die Komödianten dieses Ideals,
<lb n="5"/>– denn sie wecken Misstrauen. Überall sonst, wo
<lb n="6"/>der Geist heute streng, mächtig und ohne Falsch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>münzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt überhaupt
<lb n="8"/>des Ideals – der populäre Ausdruck für diese Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>stinenz ist „Atheismus“ –: <hi rend="spaced">abgerechnet seines
<lb n="10"/>Willens zur Wahrheit</hi>. Dieser Wille aber, dieser
<lb n="11"/><hi rend="spaced">Rest</hi> von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes
<lb n="12"/><milestone unit="page" source="#Dm" n="b64r "/>Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung,
<lb n="13"/>esoterisch ganz und gar, alles Aussenwerks entkleidet,
<lb n="14"/>somit nicht sowohl sein Rest, als sein <hi rend="spaced">Kern</hi>. Der
<lb n="15"/>unbedingte redliche Atheismus (– und <hi rend="spaced">seine</hi> Luft allein
<lb n="16"/>athmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!)
<lb n="17"/><milestone unit="page" source="#Dm" n="b66r"/>steht demgemäss <hi rend="spaced">nicht</hi> im Gegensatz zu jenem Ideale,
<lb n="18"/>wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine
<lb n="19"/>seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schluss<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>formen und inneren Folgerichtigkeiten, – <milestone unit="page" source="#Dm" n="b67r"/>er ist die
<lb n="21"/>Ehrfurcht gebietende <hi rend="spaced">Katastrophe</hi> einer zweitausend<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>jährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich
<lb n="23"/>die <hi rend="spaced">Lüge im Glauben an Gott</hi> verbietet. (Derselbe
<lb n="24"/>Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner Unab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>hängigkeit, und deshalb Etwas beweisend; dasselbe
<lb n="26"/>Ideal zum gleichen Schlusse zwingend; der entschei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>dende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen
<lb n="28"/>Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer: schon mit
<lb n="29"/>der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha
<lb n="30"/>popularisirt und zur Religion gemacht.) <hi rend="spaced">Was</hi>, in aller
<lb n="31"/>Strenge gefragt, hat eigentlich über den christlichen
<lb n="32"/>Gott <hi rend="spaced">gesiegt</hi>? Die Antwort steht in meiner „fröh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>lichen Wissenschaft“ S. 290: „die christliche Moralität
<pb n="180" facs="#E40_0201" xml:id="Ed_180_id"/>
<lb n="1"/>selbst, der immer strenger genommene Begriff der
<lb n="2"/>Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen
<lb n="3"/>Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaft<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>lichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden
<lb n="5"/>Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die
<lb n="6"/>Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte inter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>pretiren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>ständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und
<lb n="9"/>sittlicher Schlussabsichten; die eigenen Erlebnisse aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>legen, wie sie fromme Menschen lange genug ausge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>legt haben, wie als ob Alles Fügung, Alles Wink,
<lb n="12"/>Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>schickt sei: das ist nunmehr <hi rend="spaced">vorbei</hi>, das hat das Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>wissen <hi rend="spaced">gegen</hi> sich, das gilt allen feineren Gewissen
<lb n="15"/>als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Femininismus,
<lb n="16"/>Schwachheit, Feigheit, – mit dieser Strenge, wenn
<lb n="17"/>irgend womit, sind wir eben <hi rend="spaced">gute Europäer</hi> und Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>ben von Europa’s längster und tapferster Selbstüber<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>windung“… Alle grossen Dinge gehen durch sich
<lb n="20"/>selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung:
<lb n="21"/>so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der <hi rend="spaced">noth<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>wendigen</hi> „Selbstüberwindung“ im Wesen des Lebens,
<lb n="23"/>– immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der
<lb n="24"/>Ruf: „patere legem, quam ipse tulisti.“ Dergestalt gieng
<lb n="25"/>das Christenthum <hi rend="spaced">als Dogma</hi> zu Grunde, an seiner
<lb n="26"/>eignen Moral; dergestalt muss nun auch das Christen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>thum <hi rend="spaced">als Moral</hi> noch zu Grunde gehn, – wir stehen
<lb n="28"/>an der Schwelle <hi rend="spaced">dieses</hi> Ereignisses. Nachdem die
<lb n="29"/>christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem an<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>dern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren <hi rend="spaced">stärksten
<lb n="31"/>Schluss</hi>, ihren <milestone unit="page" source="#Dm" n="b68r"/>Schluss <hi rend="spaced">gegen</hi> sich selbst; dies aber
<lb n="32"/>geschieht, wenn sie die Frage stellt „<hi rend="spaced">was bedeutet
<lb n="33"/>aller Wille zur Wahrheit?</hi>“… Und hier rühre
<pb n="181" facs="#E40_0202" xml:id="Ed_181_id"/>
<lb n="1"/>ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine
<lb n="2"/><hi rend="spaced">unbekannten</hi> Freunde (– denn noch <hi rend="spaced">weiss</hi> ich von
<lb n="3"/>keinem Freunde): welchen Sinn hätte <hi rend="spaced">unser</hi> ganzes
<lb n="4"/>Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur
<lb n="5"/>Wahrheit sich selbst <hi rend="spaced">als Problem</hi> zum Bewusstsein
<lb n="6"/>gekommen wäre?… An diesem Sich-bewusst-werden
<lb n="7"/>des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran
<lb n="8"/>ist kein Zweifel – die Moral <hi rend="spaced">zu Grunde</hi>: jenes grosse
<lb n="9"/>Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei
<lb n="10"/>Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt, das furcht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>barste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungs<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>reichste aller Schauspiele…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0328">
<head>
<lb n="13"/>28.</head>
<p>
<lb n="14" rend="indent"/>Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der
<lb n="15"/>Mensch, das <hi rend="spaced">Thier</hi> Mensch bisher keinen Sinn. Sein
<lb n="16"/>Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; „wozu Mensch
<lb n="17"/>überhaupt?“ – war eine Frage ohne Antwort; der
<lb n="18"/><hi rend="spaced">Wille</hi> für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem
<lb n="19"/>grossen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein
<lb n="20"/>noch grösseres „Umsonst!“ <hi rend="spaced">Das</hi> eben bedeutet das
<lb n="21"/>asketische Ideal: dass Etwas <hi rend="spaced">fehlte</hi>, dass eine unge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>heure <hi rend="spaced">Lücke</hi> den Menschen umstand, – er wusste
<lb n="23"/>sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>jahen, er <hi rend="spaced">litt</hi> am Probleme seines Sinns. Er litt auch
<lb n="25"/>sonst, er war in der Hauptsache ein <hi rend="spaced">krankhaftes</hi>
<lb n="26"/>Thier: aber <hi rend="spaced">nicht</hi> das Leiden selbst war sein Problem,
<lb n="27"/>sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der
<lb n="28"/>Frage „<hi rend="spaced">wozu</hi> leiden?“ Der Mensch, das tapferste und
<lb n="29"/>leidgewohnteste Thier, verneint an sich <hi rend="spaced">nicht</hi> das
<lb n="30"/>Leiden: er <hi rend="spaced">will</hi> es, er sucht es selbst auf, vorausge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>setzt, dass man ihm einen <hi rend="spaced">Sinn</hi> dafür aufzeigt, ein
<lb n="32"/><hi rend="spaced">Dazu</hi> des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens,
<lb n="33"/><hi rend="spaced">nicht</hi> das Leiden, war der Fluch, der bisher über der
<pb n="182" facs="#E40_0203" xml:id="Ed_182_id"/>
<lb n="1"/>Menschheit ausgebreitet lag, – <hi rend="spaced">und das asketische
<lb n="2"/>Ideal bot ihr einen Sinn!</hi> Es war bisher der ein<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>zige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn;
<lb n="4"/>das asketische Ideal war in jedem Betracht das „<hi rend="spaced">faute
<lb n="5"/>de mieux</hi>“ par excellence, das es bisher gab. In ihm
<lb n="6"/>war das <milestone unit="page" source="#Dm" n="b69r"/>Leiden <hi rend="spaced">ausgelegt</hi>; die ungeheure Leere
<lb n="7"/>schien ausgefüllt; die Thür schloss sich vor allem
<lb n="8"/>selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung –
<lb n="9"/>es ist kein Zweifel – brachte neues Leiden mit sich,
<lb n="10"/>tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes:
<lb n="11"/>sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der
<lb n="12"/><hi rend="spaced">Schuld</hi>… Aber trotzalledem – der Mensch war
<lb n="13"/>damit <hi rend="spaced">gerettet</hi>, er hatte einen <hi rend="spaced">Sinn</hi>, er war fürder<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>hin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball
<lb n="15"/>des Unsinns, des „Ohne-Sinns“, er konnte nunmehr
<lb n="16"/>Etwas <hi rend="spaced">wollen</hi>, – gleichgültig zunächst, wohin, wozu,
<lb n="17"/>womit er wollte: <hi rend="spaced">der Wille selbst war gerettet</hi>.
<lb n="18"/>Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, <hi rend="spaced">was</hi>
<lb n="19"/>eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom
<lb n="20"/>asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat:
<lb n="21"/>dieser Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen
<lb n="22"/>das Thierische, mehr noch gegen das Stoffliche, dieser
<lb n="23"/>Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, diese
<lb n="24"/>Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>langen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden,
<lb n="26"/>Tod, Wunsch, Verlangen selbst – das Alles bedeutet,
<lb n="27"/>wagen wir es, dies zu begreifen, einen <hi rend="spaced">Willen zum
<lb n="28"/>Nichts</hi>, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>lehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen
<lb n="30"/>des Lebens, aber es ist und bleibt ein <hi rend="spaced">Wille</hi>!… Und,
<lb n="31"/>um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs
<lb n="32"/>sagte: lieber will noch der Mensch <hi rend="spaced">das Nichts</hi> wollen,
<lb n="33"/>als <hi rend="spaced">nicht</hi> wollen…</p>
</div2>
</div1>
</body>
<back>
<div1 xml:id="GMInhaltsverzeichnis">
<pb n="[183]" facs="#E40_0204" xml:id="Ed_183_id"/>
<head type="toc">
<lb n="1" rend="centered"/><milestone unit="page" source="#Dm" n="b70r"/>INHALT.</head>
<list type="toc">
<lb n="2" rend="centered"/><label>Erste Abhandlung:</label>
<lb n="3"/><item>„Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“<space/>Seite 1</item>
<lb n="4" rend="centered"/><label>Zweite Abhandlung:</label>
<lb n="5"/><item>„Schuld“, „Schlechtes Gewissen“ und Verwandtes<space/>„ 39</item>
<lb n="6" rend="centered"/><label>Dritte Abhandlung:</label>
<lb n="7"/><item>Was bedeuten asketische Ideale?<space/>„ 95</item>
</list>
</div1>
<div1>
<pb n="[184]" facs="#E40_0205" xml:id="Ed_184_id"/>
<ab type="colophon">
<lb n="1" rend="centered"/>LEIPZIG
<lb n="2" rend="centered"/>Druck von C. G. Naumann.
</ab>
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</div1>
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<facsimile>
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