<publisher>Nietzsche-Edition, Universität Basel</publisher>
<date>tba</date>
</publicationStmt>
<sourceDesc>
<biblStruct>
<monogr>
<author>Friedrich Nietzsche</author>
<title>Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift</title>
<imprint>
<pubPlace>Leipzig</pubPlace>
<publisher>C. G. Naumann</publisher>
<date when="1846">1887</date>
</imprint>
</monogr>
</biblStruct>
<msDesc>
<msIdentifier>
<repository>Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar</repository>
<idno type="Mette-Signatur">E 40</idno>
<idno type="HAAB-Signatur">C 4620</idno>
</msIdentifier>
<msContents>
<ab type="descHead">
1. Inhaltsbeschreibung</ab>
<p>XIV S. (Titelseite, Titelrückseite, Vorrede), 1 Bl. (Titelseite Erste Abhandlung, Verso vakat), 182 S. (Erste Abhandlung, Zweite Abhandlung, Dritte Abhandlung), 1 Bl. (Inhaltsverzeichnis, Verso Impressum).</p>
</msContents>
<physDesc>
<ab type="descHead">
2. Frühere Beschreibung (H. J. Mette)</ab>
<p>„E 40 (D 20) Zur Genealogie der Moral, Eine Streitschrift; C. G. Naumann, Leipzig 1887.“ (<ref target="#Mette1932">Mette, Der handschriftliche Nachlass [1932]</ref>, 6; <ref target="#Mette1933">Mette, Sachlicher Vorbericht, BAW I [1933]</ref>, XXXVII)</p>
<lb n="20"/>S. 74. Wanderer S. 29. Morgenr. S. 99 über die Herkunft
<lb n="21"/>der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen unge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>fähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung
<lb n="23"/>aller Verträge, folglich alles Rechts); insgleichen über
<lb n="24"/>die Herkunft der Strafe Wand. S. 25. 34., für die der
<lb n="25"/>terroristische Zweck weder essentiell, noch ursprünglich
<lb n="26"/>ist (wie Dr. Rée meint: – er ist ihr vielmehr erst
<lb n="27"/>eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer
<lb n="28"/>als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes).</p>
</div2>
<pb n="IX" facs="#E40_0014" xml:id="Ed_IX_id"/>
<div2 xml:id="GMVorrede05">
<head>
<lb n="1"/>5.</head>
<p>
<lb n="2" rend="indent"/>Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>tigeres am Herzen als eignes oder fremdes Hypothesen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>wesen über den Ursprung der Moral (oder, genauer:
<lb n="5"/>letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es
<lb n="6"/>eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für
<lb n="7"/>mich um den <hi rend="spaced">Werth</hi> der Moral, – und darüber
<lb n="8"/>hatte ich mich fast allein mit meinem grossen Lehrer
<lb n="9"/>Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den wie an
<lb n="10"/>einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und
<lb n="11"/>der geheime Widerspruch jenes Buchs sich wendet
<lb n="12"/>(– denn auch jenes Buch war eine „Streitschrift“).
<lb n="13"/>Es handelte sich in Sonderheit um den Werth des „Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>egoistischen“, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbst<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>opferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so
<lb n="16"/>lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte,
<lb n="17"/>bis sie ihm schliesslich als die „Werthe an sich“ übrig
<lb n="18"/>blieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich
<lb n="19"/>selbst, <hi rend="spaced">Nein sagte</hi>. Aber gerade gegen <hi rend="spaced">diese</hi> Instinkte
<lb n="20"/>redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn,
<lb n="21"/>eine immer tiefer grabende Skepsis! Gerade hier sah
<lb n="22"/>ich die <hi rend="spaced">grosse</hi> Gefahr der Menschheit, ihre sublimste
<lb n="23"/>Lockung und Verführung – wohin doch? in’s Nichts? –
<lb n="24"/>gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>bleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen
<lb n="26"/><hi rend="spaced">gegen</hi> das Leben sich wendend, die letzte Krankheit
<lb n="27"/>sich zärtlich und schwermüthig ankündigend: ich ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>stand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral,
<lb n="29"/>welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte,
<pb n="X" facs="#E40_0015" xml:id="Ed_X_id"/>
<lb n="1"/>als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>wordnen europäischen Cultur, als ihren Umweg zu einem
<lb n="3"/>neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus?
<lb n="4"/>zum – <hi rend="spaced">Nihilismus</hi>?… Diese moderne Philosophen-
<lb n="5"/>Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist
<lb n="6"/>nämlich etwas Neues: gerade über den <hi rend="spaced">Unwerth</hi> des
<lb n="7"/>Mitleidens waren bisher die Philosophen übereinge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>kommen. Ich nenne nur Plato, Spinoza, La Roche<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>foucauld und Kant, vier Geister so verschieden von
<lb n="10"/>einander als möglich, aber in Einem Eins: in der Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>ringschätzung des Mitleidens. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GMVorrede06">
<head>
<lb n="12"/>6.</head>
<p>
<lb n="13" rend="indent"/>Dies Problem vom <hi rend="spaced">Werthe</hi> des Mitleids und der
<lb n="14"/>Mitleids-Moral (– ich bin ein Gegner der schändlichen
<lb n="15"/>modernen Gefühlsverweichlichung –) scheint zunächst
<lb n="16"/>nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich; wer
<lb n="17"/>aber einmal hier hängen bleibt, hier fragen <hi rend="spaced">lernt</hi>, dem
<lb n="18"/>wird es gehn, wie es mir ergangen ist: – eine unge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>heure neue Aussicht thut sich ihm auf, eine Möglich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>keit fasst ihn wie ein Schwindel, jede Art Misstrauen,
<lb n="21"/>Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die
<lb n="22"/>Moral, an alle Moral wankt, – endlich wird eine neue
<lb n="23"/>Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese <hi rend="spaced">neue
<lb n="24"/>Forderung:</hi> wir haben eine <hi rend="spaced">Kritik</hi> der moralischen
<lb n="25"/>Werthe nöthig, <hi rend="spaced">der Werth dieser Werthe ist selbst
<lb n="26"/>erst einmal in Frage zu stellen</hi> – und dazu thut
<lb n="27"/>eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth,
<lb n="28"/>aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich ent<pc force="weak">-</pc>
<pb n="XI" facs="#E40_0016" xml:id="Ed_XI_id"/>
<lb n="1"/>wickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als
<lb n="2"/>Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit,
<lb n="3"/>als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als
<lb n="4"/>Heilmittel, als <choice><orig>Stimulanz</orig><corr source="#KGW #KSA">Stimulans<note type="editorial">vgl. Dm a3r</note></corr></choice>, als Hemmung, als Gift), wie
<lb n="5"/>eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch
<lb n="6"/>auch nur begehrt worden ist. Man nahm den <hi rend="spaced">Werth</hi>
<lb n="7"/>dieser „Werthe“ als gegeben, als thatsächlich, als jen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>seits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht
<lb n="9"/>im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, „den
<lb n="17"/>bietenden“) oder nach dem sichtbarsten Abzeichen die<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>ser Überlegenheit, zum Beispiel als „die Reichen“, „die
<lb n="19"/>Besitzenden“ (das ist der Sinn von arya; und entspre<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>chend im Eranischen und Slavischen). Aber auch nach
<lb n="21"/>einem <hi rend="spaced">typischen Charakterzuge</hi>: und dies ist der
<lb n="22"/>Fall, der uns hier angeht. Sie heissen sich zum Bei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>spiel „die Wahrhaftigen“: voran der griechische Adel,
<lb n="24"/>dessen Mundstück der Megarische Dichter Theognis
<lb n="25"/>ist. <milestone unit="page" source="#Dm" n="a8r"/>Das dafür ausgeprägte Wort <foreign xml:lang="grc">ἐσϑλός</foreign> bedeutet der
<lb n="26"/>Wurzel nach Einen, der <hi rend="spaced">ist</hi>, der Realität hat, der wirk<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>lich ist, der wahr ist; dann, mit einer subjektiven
<lb n="28"/>Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen: in dieser
<lb n="29"/>Phase der Begriffs-Verwandlung wird es zum Schlag-
<lb n="30"/>und Stichwort des Adels und geht ganz und gar in
<lb n="31"/>den Sinn „adelig“ über, zur Abgrenzung vom <hi rend="spaced">lügen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>haften</hi> gemeinen Mann, so wie Theognis ihn nimmt
<pb n="8" facs="#E40_0029" xml:id="Ed_8_id"/>
<lb n="1"/>und schildert, – bis endlich das Wort, nach dem Nieder<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>gange des Adels, zur Bezeichnung der seelischen
<lb n="3"/>noblesse übrig bleibt und gleichsam reif und süss wird.
<lb n="4"/>Im Worte <foreign xml:lang="grc">κακός</foreign> wie in <foreign xml:lang="grc">δειλός</foreign> (der Plebejer im Gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>satz zum <foreign xml:lang="grc">ἀγαϑός</foreign>) ist die Feigheit unterstrichen: dies
<lb n="6"/>giebt vielleicht einen Wink, in welcher Richtung man
<lb n="7"/>die etymologische Herkunft des mehrfach deutbaren
<lb n="8"/><foreign xml:lang="grc">ἀγαϑός</foreign> zu suchen hat. Im lateinischen malus (dem ich
<lb n="9"/><foreign xml:lang="grc">μέλας</foreign> zur Seite stelle) könnte der gemeine Mann als
<lb n="10"/>der Dunkelfarbige, vor allem als der Schwarzhaarige
<lb n="11"/>(„hic niger est –“) gekennzeichnet sein, als der vorari<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>sche Insasse des italischen Bodens, der sich von der
<lb n="10"/>Sollte sie sich zum Mindesten nicht etwas raffinieren?…
<lb n="11"/>Sie entfremdet heute mehr, als dass sie verführte…
<lb n="12"/>Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht
<lb n="13"/>die Kirche gäbe? Die Kirche widersteht uns, <hi rend="spaced">nicht</hi> ihr
<lb n="14"/>Gift… Von der Kirche abgesehn lieben auch wir das
<lb n="15"/>Gift…“ – Dies der Epilog eines „Freigeistes“ zu
<lb n="16"/>meiner Rede, eines ehrlichen Thiers, wie er reichlich
<lb n="17"/>verrathen hat, überdies eines Demokraten; er hatte mir
<lb n="18"/>bis dahin zugehört und hielt es nicht aus, mich schwei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>gen zu hören. Für mich nämlich giebt es an dieser
<lb n="20"/>Stelle viel zu schweigen. –</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0110">
<head>
<lb n="21"/>10.</head>
<p>
<lb n="22" rend="indent"/>Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit,
<lb n="23"/>dass das <hi rend="spaced">Ressentiment</hi> selbst schöpferisch wird und
<lb n="24"/>Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen
<lb n="25"/>die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die
<lb n="26"/>sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.
<lb n="27"/>Während alle vornehme Moral aus einem triumphiren<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>den Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die
<lb n="29"/>Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausser<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>halb“, zu einem „Anders“, zu einem „Nicht-selbst“: und
<lb n="31"/><hi rend="spaced">dies</hi> Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkeh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>rung des werthe-setzenden Blicks – diese <hi rend="spaced">nothwen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>dige</hi> Richtung nach Aussen statt zurück auf sich <anchor xml:id="Bogen1End"/><milestone xml:id="Bogen2" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen2End"/>
<pb n="17" facs="#E40_0038" xml:id="Ed_17_id"/>
<lb n="1"/>selber – gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-
<lb n="2"/>Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>gen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gespro<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>chen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre
<lb n="5"/>Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte
<lb n="6"/>ist bei der vornehmen Werthungsweise der Fall: sie
<lb n="7"/>agirt und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz
<lb n="8"/>nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch froh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>lockender Ja zu sagen, – ihr negativer Begriff „nied<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>rig“ „gemein“ „schlecht“ ist nur ein nachgebornes
<lb n="11"/>blasses Contrastbild im Verhältniss zu ihrem positiven,
<lb n="12"/>durch und durch mit Leben und Leidenschaft durch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>tränkten Grundbegriff „wir Vornehmen, wir Guten, wir
<lb n="14"/>Schönen, wir Glücklichen!“ Wenn die vornehme Wer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>thungsweise sich vergreift und an der Realität ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>sündigt, so geschieht dies in Bezug auf die Sphäre,
<lb n="17"/>welche ihr <hi rend="spaced">nicht</hi> genügend bekannt ist, ja gegen deren
<lb n="18"/>wirkliches Kennen sie sich spröde zur Wehre setzt: sie
<lb n="19"/>verkennt unter Umständen die von ihr verachtete Sphäre,
<lb n="20"/>die des gemeinen Mannes, des niedren Volks; andrer<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>seits erwäge man, dass jedenfalls der Affekt der Ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>achtung, des Herabblickens, des Überlegen-Blickens,
<lb n="23"/>gesetzt, dass er das Bild des Verachteten <hi rend="spaced">fälscht</hi>, bei
<lb n="24"/>weitem hinter der Fälschung zurückbleiben wird, mit
<lb n="25"/>der der zurückgetretene Hass, die Rache des Ohnmäch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="26"/>tigen sich an seinem Gegner – in effigie natürlich –
<lb n="27"/>vergreifen wird. In der That ist in der Verachtung zu
<lb n="28"/>viel Nachlässigkeit, zu viel Leicht-Nehmen, zu viel Weg<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>blicken und Ungeduld mit eingemischt, selbst zu viel
<lb n="30"/>eignes Frohgefühl, als dass sie im Stande wäre, ihr
<lb n="31"/>Objekt zum eigentlichen Zerrbild und Scheusal umzu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>wandeln. Man überhöre doch die beinahe wohlwollenden
<lb n="33"/>nuances nicht, welche zum Beispiel der griechische Adel
<pb n="18" facs="#E40_0039" xml:id="Ed_18_id"/>
<lb n="1"/>in alle Worte legt, mit denen er das niedere Volk von
<lb n="2"/>sich abhebt; wie sich fortwährend eine Art Bedauern,
<lb n="3"/>Rücksicht, Nachsicht einmischt und anzuckert, bis zu
<lb n="4"/>dem Ende, dass fast alle Worte, die dem gemeinen Manne
<lb n="5"/>zukommen, schliesslich als Ausdrücke für „unglück<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>lich“ „bedauernswürdig“ übrig geblieben sind (vergleiche
<lb n="31"/>Ausspannung und Gliederstrecken, kurz <hi rend="spaced">passivisch</hi>
<lb n="32"/>auftritt. Während der vornehme Mensch vor sich selbst
<lb n="33"/>mit Vertrauen und Offenheit lebt (<foreign xml:lang="grc">γενναῖος</foreign> „edelbürtig“
<pb n="19" facs="#E40_0040" xml:id="Ed_19_id"/>
<lb n="1"/>unterstreicht die nuance „aufrichtig“ und auch wohl
<lb n="2"/>„naiv“), so ist der Mensch des Ressentiment weder auf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>richtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>radezu. Seine Seele <hi rend="spaced">schielt</hi>; sein Geist liebt Schlupf<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>winkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte
<lb n="6"/>muthet ihn an als <hi rend="spaced">seine</hi> Welt, <hi rend="spaced">seine</hi> Sicherheit, <hi rend="spaced">sein</hi>
<lb n="7"/>Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-
<lb n="8"/>Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern,
<lb n="9"/>Sich-demüthigen. Eine Rasse solcher Menschen des
<lb n="10"/>Ressentiment wird nothwendig endlich <hi rend="spaced">klüger</hi> sein
<lb n="11"/>als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit
<lb n="12"/>auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine
<lb n="13"/>Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klug<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>heit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Bei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>geschmack von Luxus und Raffinement an sich hat: –
<lb n="16"/>sie ist eben hier lange nicht so wesentlich, als die voll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>kommne Funktions-Sicherheit der regulirenden <hi rend="spaced">unbe<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>wussten</hi> Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit,
<lb n="19"/>etwa das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr,
<lb n="20"/>sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötz<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>lichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und
<lb n="22"/>Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen
<lb n="23"/>wiedererkannt haben. Das Ressentiment des vorneh<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>men Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, voll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>zieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen
<lb n="26"/>Reaktion, es <hi rend="spaced">vergiftet</hi> darum nicht: andrerseits tritt
<lb n="27"/>es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es bei allen
<lb n="28"/>Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. Seine
<lb n="29"/>Feinde, seine Unfälle, seine <hi rend="spaced">Unthaten</hi> selbst nicht
<lb n="30"/>lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen
<lb n="31"/>starker voller Naturen, in denen ein Überschuss plasti<pc force="weak">-</pc>
<lb n="32"/>scher, nachbildender, ausheilender, auch vergessen ma<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>chender Kraft ist (ein gutes Beispiel dafür aus der
<pb n="20" facs="#E40_0041" xml:id="Ed_20_id"/>
<lb n="1"/>modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtniss
<lb n="2"/>für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an
<lb n="3"/>ihm begieng, und der nur deshalb nicht vergeben konnte,
<lb n="4"/>weil er – vergass). Ein solcher Mensch schüttelt eben
<lb n="5"/>viel Gewürm mit Einem Ruck von sich, das sich bei
<lb n="6"/>Anderen eingräbt; hier allein ist auch das möglich,
<lb n="7"/>gesetzt, dass es überhaupt auf Erden möglich ist – die
<lb n="8"/>eigentliche „<hi rend="spaced">Liebe</hi> zu seinen Feinden“. Wie viel Ehr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>furcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer
<lb n="10"/>Mensch! – und eine solche Ehrfurcht ist schon eine
<lb n="11"/>Brücke zur Liebe… Er verlangt ja seinen Feind für
<lb n="12"/>sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren
<lb n="13"/>Feind aus, als einen solchen, an dem Nichts zu ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>achten und <hi rend="spaced">sehr Viel</hi> zu ehren ist! Dagegen stelle
<lb n="15"/>man sich „den Feind“ vor, wie ihn der Mensch des
<lb n="16"/>Ressentiment concipirt – und hier gerade ist seine
<lb n="17"/>That, seine Schöpfung: er hat „den bösen Feind“ con<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>cipirt, „<hi rend="spaced">den Bösen</hi>“, und zwar als Grundbegriff, von
<lb n="19"/>dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch
<lb n="20"/>noch einen „Guten“ ausdenkt – sich selbst!…</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0111">
<head>
<lb n="21"/>11.</head>
<p>
<lb n="22" rend="indent"/>Gerade umgekehrt also wie bei dem Vornehmen,
<lb n="23"/>der den Grundbegriff „gut“ voraus und spontan, näm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>lich von sich aus concipirt und von da aus erst eine
<lb n="25"/>Vorstellung von „schlecht“ sich schafft! Dies „schlecht“
<lb n="26"/>vornehmen Ursprungs und jenes „böse“ aus dem Brau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>kessel des ungesättigten Hasses – das erste eine Nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>schöpfung, ein Nebenher, eine Complementärfarbe, das
<lb n="29"/>zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>liche <hi rend="spaced">That</hi> in der Conception einer Sklaven-Moral –
<lb n="31"/>wie verschieden stehen die beiden scheinbar demselben
<lb n="32"/>Begriff „gut“ entgegengestellten Worte „schlecht“ und
<pb n="21" facs="#E40_0042" xml:id="Ed_21_id"/><lb n="1"/>„böse“ da! Aber es ist <hi rend="spaced">nicht</hi> derselbe Begriff „gut“: viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>mehr frage man sich doch, <hi rend="spaced">wer</hi> eigentlich „böse“ ist,
<lb n="3"/>im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge
<lb n="4"/>geantwortet: <hi rend="spaced">eben</hi> der „Gute“ der andren Moral, eben
<lb n="5"/>der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur um<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>gefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Gift<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>auge des Ressentiment. Hier wollen wir Eins am we<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>nigsten leugnen: wer jene „Guten“ nur als Feinde
<lb n="9"/>kennen lernte, lernte auch nichts als <hi rend="spaced">böse Feinde</hi>
<lb n="10"/>kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch
<lb n="11"/>Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr
<lb n="12"/>durch <milestone unit="page" source="#Dm" n="a13r"/>gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter
<lb n="13"/>pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im
<lb n="14"/>Verhalten zu einander so erfinderisch in Rücksicht,
<lb n="15"/>Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freund<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>schaft sich beweisen, – sie sind nach Aussen hin, dort
<lb n="17"/>wo das Fremde, <hi rend="spaced">die</hi> Fremde beginnt, nicht viel besser
<lb n="18"/>als losgelassne Raubthiere. Sie geniessen da die Frei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>heit von allem socialen Zwang, sie halten sich in der
<lb n="20"/>Wildniss schadlos für die Spannung, welche eine lange
<lb n="21"/>Einschliessung und Einfriedigung in den Frieden der
<lb n="22"/>Gemeinschaft giebt, sie treten in die Unschuld des
<lb n="23"/>Raubthier-Gewissens <hi rend="spaced">zurück</hi>, als frohlockende Unge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>heuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>folge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung
<lb n="26"/>mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte
<lb n="27"/>davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich voll<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>bracht sei, überzeugt davon, dass die Dichter für lange
<lb n="29"/>nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben.
<lb n="30"/>Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist
<lb n="31"/>das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg
<lb n="32"/>lüstern schweifende <hi rend="spaced">blonde Bestie</hi> nicht zu ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>kennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von
<pb n="22" facs="#E40_0043" xml:id="Ed_22_id"/>
<lb n="1"/>Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>aus, muss wieder in die Wildniss zurück: – römischer,
<lb n="1"/>cutores dominici nominis saevioribus quam ipsi flammis
<lb n="2"/>saevierunt insultantibus contra Christianos liquescentes!
<lb n="3"/>Quos praeterea sapientes illos philosophos coram dis<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>cipulis suis una conflagrantibus erubescentes, quibus
<lb n="5"/>nihil ad deum pertinere suadebant, quibus animas aut
<lb n="6"/>nullas aut non in pristina corpora redituras affirmabant!
<lb n="7"/>Etiam <choice><orig>poëtas</orig><sic source="#KGW #KSA">poëtàs<note type="editorial">Erratum</note></sic></choice> non ad Rhadamanti nec ad Minois, sed
<lb n="8"/>ad inopinati Christi tribunal palpitantes! <milestone unit="page" source="#Dm" n="a18v"/>Tunc magis
<lb n="9"/>tragoedi audiendi, magis scilicet vocales (besser bei
<lb n="10"/>Stimme, noch ärgere Schreier) in sua propria calami<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>tate; tunc histriones cognoscendi, solutiores multo per
<lb n="12"/>ignem; tunc spectandus auriga in flammea rota totus ru<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>bens, tunc xystici contemplandi non in gymnasiis, sed
<lb n="14"/>in igne jaculati, nisi quod ne tunc quidem illos velim
<lb n="15"/><choice><orig>vivos</orig><corr><note type="editorial">vgl. Tertullian, De spectaculis 30: visos</note></corr></choice>, ut qui malim ad eos potius conspectum <hi rend="spaced">insatia<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>bilem</hi> conferre, qui in dominum desaevierunt. „Hic
<lb n="17"/>est ille, dicam, fabri aut quaestuariae filius (wie alles
<lb n="18"/>Folgende und insbesondere auch diese aus dem Talmud
<lb n="19"/>bekannte Bezeichnung der Mutter Jesu zeigt, meint
<lb n="20"/>Tertullian von hier ab die Juden), sabbati destructor,
<lb n="21"/>Samarites et daemonium habens. Hic est, quem a Juda
<lb n="22"/>redemistis, hic est ille arundine et colaphis diverbera<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>tus, sputamentis dedecoratus, felle et aceto potatus.
<lb n="24"/>Hic est, quem clam discentes subripuerunt, ut resur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>rexisse dicatur vel hortulanus detraxit, ne lactucae suae
<lb n="26"/>frequentia commeantium laederentur.“ Ut talia spectes,
<lb n="27"/><hi rend="spaced">ut talibus exultes</hi>, quis tibi praetor aut consul aut
<lb n="28"/>quaestor aut sacerdos de sua liberalitate praestabit?
<lb n="29"/>Et tamen haec jam habemus quodammodo <hi rend="spaced">per fidem</hi>
<lb n="30"/>spiritu imaginante repraesentata. Ceterum qualia illa
<lb n="31"/>sunt, quae nec oculus vidit nec auris audivit nec in
<lb n="32"/>cor hominis ascenderunt? (1. Cor. 2, 9.) Credo circo et
<lb n="33"/>utraque cavea (erster und vierter Rang oder, nach
<pb n="34" facs="#E40_0055" xml:id="Ed_34_id"/>
<lb n="1"/>Anderen, komische und tragische Bühne) et omni stadio
<lb n="2"/>gratiora.“ – <hi rend="spaced">Per fidem:</hi> so steht’s geschrieben.</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0116">
<milestone unit="page" source="#Dm" n="a19r"/>
<head>
<lb n="3"/>16.</head>
<p>
<lb n="4" rend="indent"/>Kommen wir zum Schluss. Die beiden <hi rend="spaced">entgegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>gesetzten</hi> Werthe „gut und schlecht“, „gut und böse“
<lb n="6"/>haben einen furchtbaren, Jahrtausende langen Kampf
<lb n="7"/>auf Erden gekämpft; und so gewiss auch der zweite
<lb n="8"/>Werth seit langem im Übergewichte ist, so fehlt es
<lb n="9"/>doch auch jetzt noch nicht an Stellen, wo der Kampf
<lb n="10"/>unentschieden fortgekämpft wird. Man könnte selbst
<lb n="11"/>sagen, dass er inzwischen immer höher hinauf getragen
<lb n="12"/>und eben damit immer tiefer, immer geistiger gewor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>den sei: so dass es heute vielleicht kein entscheiden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>deres Abzeichen der „<hi rend="spaced">höheren Natur</hi>“, der geistige<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>ren Natur giebt, als zwiespältig in jenem Sinne und
<lb n="16"/>wirklich noch ein Kampfplatz für jene Gegensätze zu
<lb n="17"/>sein. Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift
<lb n="18"/>geschrieben, die über alle Menschengeschichte hinweg
<lb n="19"/>bisher lesbar blieb, heisst „Rom gegen Judäa, Judäa
<lb n="20"/>gegen Rom“: – es gab bisher kein grösseres Ereig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>sig“ „zufällig“ „zurechnungsfähig“ und deren Gegen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>sätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in
<lb n="32"/>Anschlag zu bringen. Jener jetzt so wohlfeile und <anchor xml:id="Bogen3End"/><milestone xml:id="Bogen4" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen4End"/>
<pb n="49" facs="#E40_0070" xml:id="Ed_49_id"/>
<lb n="1"/>scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke, der
<lb n="2"/>wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>keitsgefühl auf Erden zu Stande gekommen ist, hat
<lb n="20"/>„ohne Interesse“ anschauen könne, so darf man wohl
<lb n="21"/>ein wenig auf ihre Unkosten lachen: – die Erfahrungen
<lb n="22"/>der <hi rend="spaced">Künstler</hi> sind in Bezug auf diesen heiklen Punkt
<lb n="23"/>„interessanter“, und Pygmalion war jedenfalls <hi rend="spaced">nicht</hi>
<lb n="24"/>nothwendig ein „unästhetischer Mensch“. Denken wir
<lb n="25"/>um so besser von der Unschuld unsrer Aesthetiker,
<lb n="26"/>welche sich in solchen Argumenten spiegelt, rechnen
<lb n="27"/>wir es zum Beispiel Kanten zu Ehren an, was er über
<lb n="28"/>das Eigenthümliche des Tastsinns mit landpfarrermässi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>ger Naivetät zu lehren weiss! – Und hier kommen wir
<lb n="30"/>auf Schopenhauer zurück, der in ganz andrem Maasse
<lb n="31"/>als Kant den Künsten nahestand und doch nicht aus
<lb n="32"/>dem Bann der Kantischen Definition herausgekommen
<lb n="33"/>ist: wie kam das? Der Umstand ist wunderlich genug:
<pb n="107" facs="#E40_0128" xml:id="Ed_107_id"/>
<lb n="1"/>das Wort „ohne Interesse“ interpretirte er sich in der
<lb n="2"/>allerpersönlichsten Weise, aus einer Erfahrung her<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>aus, die bei ihm zu den regelmässigsten gehört haben
<lb n="4"/>muss. Über wenig Dinge redet Schopenhauer so sicher
<lb n="5"/>wie über die Wirkung der ästhetischen Contemplation:
<lb n="6"/>er sagt ihr nach, dass sie gerade der <hi rend="spaced">geschlecht<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>lichen</hi> „Interessirtheit“ entgegenwirke, ähnlich also
<lb n="8"/>wie Lupulin und Kampher, er ist nie müde geworden,
<lb n="9"/><hi rend="spaced">dieses</hi> Loskommen vom „Willen“ als den grossen Vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>zug und Nutzen des ästhetischen Zustandes zu verherr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>lichen. Ja man möchte versucht sein zu fragen, ob
<lb n="12"/>nicht seine Grundconception von „Willen und Vorstel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>lung“, der Gedanke, dass es eine Erlösung vom „Willen“
<lb n="14"/>einzig durch die „Vorstellung“ geben könne, aus einer
<lb n="15"/>Verallgemeinerung jener Sexual-Erfahrung ihren <milestone unit="page" source="#Dm" n="b10r"/>Ur<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>sprung genommen habe. (Bei allen Fragen in Betreff
<lb n="17"/>der Schopenhauer’schen Philosophie ist, anbei bemerkt,
<lb n="18"/>niemals ausser Acht zu lassen, dass sie die Conception
<lb n="19"/>eines sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist; so dass
<lb n="20"/>sie nicht nur an dem Spezifischen Schopenhauer’s, son<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>dern auch an dem Spezifischen jener Jahreszeit des Le<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>bens Antheil hat.) Hören wir zum Beispiel eine der
<lb n="23"/>ausdrücklichsten Stellen unter den zahllosen, die er zu
<lb n="24"/>Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat (Welt
<lb n="25"/>als Wille und Vorstellung I 231), hören wir den Ton
<lb n="26"/>heraus, das Leiden, das Glück, die Dankbarkeit, mit
<lb n="27"/>der solche Worte gesprochen worden sind. „Das ist der
<lb n="28"/>schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste
<lb n="29"/>Gut und als den Zustand der Götter pries; wir sind,
<lb n="30"/>für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges ent<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>ledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des
<lb n="32"/>Wollens, das Rad des Ixion steht still“… Welche
<lb n="33"/>Vehemenz der Worte! Welche Bilder der Qual und
<pb n="108" facs="#E40_0129" xml:id="Ed_108_id"/>
<lb n="1"/>des langen Überdrusses! Welche fast pathologische
<lb n="2"/>Zeit-Gegenüberstellung „jenes Augenblicks“ und des
<lb n="3"/>sonstigen „Rads des <choice><orig>Ixion</orig><sic source="#KGW #KSA">Ixions<note type="editorial">Erratum</note></sic></choice>“, der „Zuchthausarbeit des
<lb n="4"/>Wollens“, des „schnöden Willensdrangs“! – Aber ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>setzt, dass Schopenhauer hundert Mal für seine Person
<lb n="6"/>Recht hätte, was wäre damit für die Einsicht in’s We<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>sen des Schönen gethan? Schopenhauer hat Eine Wir<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>kung des Schönen beschrieben, die willen-calmirende, –
<lb n="9"/>ist sie auch nur eine regelmässige? Stendhal, wie ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="10"/>sagt, eine nicht weniger sinnliche, aber glücklicher ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>rathene Natur als Schopenhauer, hebt eine andre Wir<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>kung des Schönen hervor: „das Schöne <hi rend="spaced">verspricht</hi>
<lb n="13"/>Glück“, ihm scheint gerade die <hi rend="spaced">Erregung des Wil<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>lens</hi> (des „Interesses“) durch das Schöne der That<pc force="weak">-</pc>
<lb n="15"/>bestand. Und könnte man nicht zuletzt Schopenhauern
<lb n="16"/>selber einwenden, dass er sehr mit Unrecht sich hierin
<lb n="17"/>Kantianer dünke, dass er ganz und gar nicht die
<lb n="18"/>Kantische Definition des Schönen Kantisch verstanden
<lb n="19"/>habe, – dass auch ihm das Schöne aus einem „Inter<pc force="weak">-</pc>
<lb n="20"/>esse“ gefalle, sogar aus dem allerstärksten, allerpersön<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>lichsten Interesse: dem des Torturirten, der von seiner
<lb n="22"/>Tortur loskommt?… Und, um auf unsre erste Frage
<lb n="23"/>zurückzukommen „was <hi rend="spaced">bedeutet</hi> es, wenn ein Philo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>soph dem asketischen Ideale <choice><orig>huldigt?“</orig><corr source="#KGW #KSA">huldigt?“,</corr></choice> so bekommen wir
<lb n="25"/>hier wenigstens einen ersten Wink: er will <hi rend="spaced">von einer
<lb n="22" rend="indent"/>Man sieht, das sind keine unbestochnen Zeugen
<lb n="23"/>und Richter über den <hi rend="spaced">Werth</hi> des asketischen Ideals,
<lb n="24"/>diese Philosophen! Sie denken an <hi rend="spaced">sich</hi>, – was geht
<lb n="25"/>sie „der Heilige“ an! Sie denken an Das dabei, was
<lb n="26"/><hi rend="spaced">ihnen</hi> gerade das Unentbehrlichste ist: Freiheit von
<lb n="27"/>Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften, Pflichten, Sor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>gen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der
<lb n="29"/>Gedanken; eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken,
<lb n="30"/>wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animali<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>sche Sein geistiger wird und Flügel bekommt; Ruhe
<lb n="32"/>in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette
<lb n="33"/>gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Ran<pc force="weak">-</pc>
<pb n="112" facs="#E40_0133" xml:id="Ed_112_id"/>
<lb n="1"/>cune; keine Nagewürmer verletzten Ehrgeizes; beschei<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>dene und unterthänige Eingeweide, fleissig wie Mühl<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>werke, aber fern; das Herz fremd, jenseits, zukünftig,
<lb n="4"/>posthum, – sie denken, Alles in Allem, bei dem aske<pc force="weak">-</pc>
<lb n="5"/>tischen Ideal an den heiteren Ascetismus eines ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="6"/>göttlichten und flügge gewordnen Thiers, das über dem
<lb n="7"/>Leben mehr schweift als ruht. Man weiss, was die
<lb n="8"/>drei grossen Prunkworte des asketischen Ideals sind:
<lb n="9"/>Armuth, Demuth, Keuschheit: und nun sehe man sich
<lb n="10"/>einmal das Leben aller grossen fruchtbaren erfinderi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>schen Geister aus der Nähe an, – man wird darin alle
<lb n="12"/>drei bis zu einem gewissen Grade immer wiederfinden.
<lb n="13"/>Durchaus <hi rend="spaced">nicht</hi>, wie sich von selbst versteht, als ob
<lb n="14"/>es etwa deren „Tugenden“ <milestone unit="page" source="#Dm" n="b14r"/>wären – was hat diese Art
<lb n="15"/>Mensch mit Tugenden zu schaffen! – sondern als die
<lb n="16"/>eigentlichsten und natürlichsten Bedingungen ihres
<lb n="17"/><hi rend="spaced">besten</hi> Daseins, ihrer <hi rend="spaced">schönsten</hi> Fruchtbarkeit. Dabei
<lb n="18"/>ist es ganz wohl möglich, dass ihre dominirende Geistig<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>keit vorerst einem unbändigen und reizbaren Stolze oder
<lb n="20"/>einer muthwilligen Sinnlichkeit Zügel anzulegen hatte
<lb n="21"/>oder dass sie ihren Willen zur „Wüste“ vielleicht gegen
<lb n="22"/>einen Hang zum Luxus und zum Ausgesuchtesten, ins<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>gleichen gegen eine verschwenderische Liberalität mit
<lb n="24"/>Herz und Hand schwer genug aufrecht erhielt. Aber
<lb n="25"/>sie that es, eben als der <hi rend="spaced">dominirende</hi> Instinkt, der
<lb n="26"/>seine Forderungen bei allen andren Instinkten durch<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>setzte – sie thut es noch; thäte sie’s nicht, so domi<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>nirte sie eben nicht. Daran ist also nichts von „Tu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="29"/>gend“. Die <hi rend="spaced">Wüste</hi> übrigens, von welcher ich eben
<lb n="30"/>sprach, in die sich die starken, unabhängig gearteten
<lb n="31"/>Geister zurückziehn und vereinsamen – oh wie anders
<lb n="32"/>sieht sie aus, als die Gebildeten sich eine Wüste träu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="33"/>men! – unter Umständen sind sie es nämlich selbst, <anchor xml:id="Bogen7End"/><milestone xml:id="Bogen8" unit="section" type="signature" spanTo="#Bogen8End"/>
<pb n="113" facs="#E40_0134" xml:id="Ed_113_id"/>
<lb n="1"/>diese Gebildeten. Und gewiss ist es, dass alle Schau<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>spieler des Geistes es schlechterdings nicht in ihr aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>hielten, – für sie ist sie lange nicht romantisch und
<lb n="4"/>syrisch genug, lange nicht Theater-Wüste genug! Es
<lb n="5"/>fehlt allerdings auch in ihr nicht an Kameelen: darauf
<lb n="6"/>aber beschränkt sich die ganze Ähnlichkeit. Eine will<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>kürliche Obskurität vielleicht; ein Aus-dem-Wege-
<lb n="8"/>Gehn vor sich selber; eine Scheu vor Lärm, Verehrung,
<lb n="9"/>Zeitung, Einfluss; ein kleines Amt, ein Alltag, Etwas,
<lb n="10"/>das mehr verbirgt als an’s Licht stellt; ein Umgang ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="11"/>legentlich mit harmlosem heitren Gethier und Geflügel,
<lb n="12"/>dessen Anblick erholt; ein Gebirge zur Gesellschaft,
<lb n="13"/>aber kein todtes, eins mit <hi rend="spaced">Augen</hi> (das heisst mit
<lb n="14"/>Seen); unter Umständen selbst ein Zimmer in einem
<lb n="15"/>vollen Allerwelts-Gasthof, wo man sicher ist, verwechselt
<lb n="16"/>zu werden, und ungestraft mit Jedermann reden kann, –
<lb n="17"/>das ist hier „Wüste“: oh sie ist einsam genug, glaubt
<lb n="18"/>es mir! Wenn Heraklit sich in die Freihöfe und Säu<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>lengänge des ungeheuren Artemis-Tempels zurückzog,
<lb n="20"/>so war diese „Wüste“ würdiger, ich gebe es zu: wes<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>halb <hi rend="spaced">fehlen</hi> uns solche Tempel? (– sie fehlen uns viel<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>Ein starker und wohlgerathener Mensch verdaut seine
<lb n="5"/>Erlebnisse (Thaten, Unthaten eingerechnet) wie er seine
<lb n="6"/>Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="7"/>schlucken hat. Wird er mit einem Erlebnisse „nicht
<lb n="8"/>fertig“, so ist diese Art Indigestion so gut physiolo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>gisch wie jene andere – und vielfach in der That nur
<lb n="10"/>eine der Folgen jener anderen. – Mit einer solchen
<lb n="11"/>Auffassung kann man, unter uns gesagt, immer noch
<lb n="12"/>der strengste Gegner alles Materialismus sein…]</p>
</div2>
<div2 xml:id="GM0317">
<head>
<lb n="13"/>17.</head>
<p>
<lb n="14" rend="indent"/>Ist er aber eigentlich ein <hi rend="spaced">Arzt</hi>, dieser asketische
<lb n="15"/>Priester? – Wir begriffen schon, inwiefern es kaum
<lb n="16"/>erlaubt ist, ihn einen Arzt zu nennen, so gern er auch
<lb n="17"/>selbst sich als „Heiland“ fühlt, als „Heiland“ verehren
<lb n="18"/>lässt. Nur das Leiden selbst, die Unlust des Leiden<pc force="weak">-</pc>
<lb n="19"/>den wird von ihm bekämpft, <hi rend="spaced">nicht</hi> deren Ursache,
<lb n="20"/><hi rend="spaced">nicht</hi> das eigentliche Kranksein, – das muss unsren
<lb n="21"/>grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Me<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>dikation abgeben. Stellt man sich aber erst einmal in
<lb n="23"/>die Perspektive, wie der Priester sie allein kennt und
<lb n="24"/>hat, so kommt man nicht leicht zu Ende in der Be<pc force="weak">-</pc>
<lb n="25"/>wunderung, <choice><orig>was er unter</orig><sic source="#KGW #KSA">was unter<note type="editorial">Erratum</note></sic></choice> ihr Alles gesehn, gesucht und
<lb n="26"/>gefunden hat. Die <hi rend="spaced">Milderung</hi> des Leidens, das
<lb n="27"/>„Trösten“ jeder Art, – das erweist sich als sein Genie
<lb n="28"/>selbst: wie erfinderisch hat er seine Tröster-Aufgabe
<lb n="29"/>verstanden, wie unbedenklich und kühn hat er zu ihr
<lb n="30"/>die Mittel gewählt! Das Christenthum in Sonderheit
<lb n="31"/>dürfte man eine grosse Schatzkammer geistreichster
<lb n="32"/>Trostmittel nennen, so viel Erquickliches, Milderndes,
<pb n="142" facs="#E40_0163" xml:id="Ed_142_id"/>
<lb n="1"/>Narkotisirendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährlich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>stes und Verwegenstes zu diesem Zweck gewagt, so
<lb n="3"/>fein, so raffinirt, so südländisch-raffinirt ist von ihm
<lb n="4"/>insbesondere errathen worden, mit was für Stimulanz-
<lb n="5"/>Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung,
<lb n="6"/>die schwarze Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten
<lb n="7"/>wenigstens für Zeiten besiegt werden kann. Denn all<pc force="weak">-</pc>
<lb n="8"/>gemein gesprochen: bei allen grossen Religionen han<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>delte es sich in der Hauptsache um die Bekämpfung
<lb n="10"/>einer gewissen, zur Epidemie gewordnen Müdigkeit
<lb n="11"/>und Schwere. Man kann es von vornherein als wahr<pc force="weak">-</pc>
<lb n="12"/>scheinlich ansetzen, dass von Zeit zu Zeit an bestimm<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>ten <milestone unit="page" source="#Dm" n="b38r"/>Stellen der Erde fast nothwendig ein <hi rend="spaced">physiolo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="14"/>gisches Hemmungsgefühl</hi> über breite Massen Herr
<lb n="15"/>werden muss, welches aber, aus Mangel an physiolo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="16"/>gischem Wissen, nicht als solches in’s Bewusstsein tritt,
<lb n="17"/>so dass dessen „Ursache“, dessen Remedur auch nur
<lb n="18"/>psychologisch-moralisch gesucht und versucht werden
<lb n="19"/>kann (– dies nämlich ist meine allgemeinste Formel
<lb n="20"/>für Das, was gemeinhin eine „<hi rend="spaced">Religion</hi>“ genannt wird).
<lb n="21"/>Ein solches Hemmungsgefühl kann verschiedenster Ab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>kunft sein: etwa als Folge der Kreuzung von zu fremd<pc force="weak">-</pc>
<lb n="23"/>artigen Rassen (oder von Ständen – Stände drücken
<lb n="24"/>immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus: der
<lb n="25"/>europäische „Weltschmerz“, der „Pessimismus“ des
<lb n="26"/>neunzehnten Jahrhunderts ist wesentlich die Folge einer
<lb n="27"/>unsinnig plötzlichen Stände-Mischung); oder bedingt
<lb n="28"/>durch eine fehlerhafte Emigration – eine Rasse in ein
<lb n="29"/>Klima gerathen, für das ihre Anpassungskraft nicht
<lb n="30"/>ausreicht (der Fall der Inder in Indien); oder die Nach<pc force="weak">-</pc>
<lb n="31"/>wirkung von Alter und Ermüdung der Rasse (Pariser
<lb n="32"/>Pessimismus von 1850 an); oder einer falschen Diät
<lb n="33"/>(Alkoholismus des Mittelalters; der Unsinn der Vege<pc force="weak">-</pc>
<pb n="143" facs="#E40_0164" xml:id="Ed_143_id"/>
<lb n="1"/>tarians, welche freilich die Autorität des Junker Christoph
<lb n="2"/>bei Shakespeare für sich haben); oder von Blutverderb<pc force="weak">-</pc>
<lb n="3"/>niss, Malaria, Syphilis und dergleichen (deutsche De<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>pression nach dem dreissigjährigen Kriege, welcher halb
<lb n="5"/>Deutschland mit schlechten Krankheiten durchseuchte
<lb n="6"/>und damit den Boden für deutsche Servilität, deutschen
<lb n="7"/>Kleinmuth vorbereitete). In einem solchen Falle wird
<lb n="8"/>jedes Mal im grössten Stil ein <hi rend="spaced">Kampf mit dem Un<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>lustgefühl</hi> versucht; unterrichten wir uns kurz über
<lb n="10"/>dessen wichtigste Praktiken und Formen. (Ich lasse
<lb n="11"/>hier, wie billig, den eigentlichen <hi rend="spaced">Philosophen</hi>-Kampf
<lb n="12"/>gegen das Unlustgefühl, der immer gleichzeitig zu sein
<lb n="13"/>pflegt, ganz bei Seite – er ist interessant genug, aber
<lb n="14"/>zu absurd, zu praktisch-gleichgültig, zu spinneweberisch
<lb n="15"/>und eckensteherhaft, etwa wenn der Schmerz als ein
<lb n="16"/>Irrthum bewiesen werden soll, unter der naiven Vor<pc force="weak">-</pc>
<lb n="17"/>aussetzung, dass der Schmerz schwinden <hi rend="spaced">müsse</hi>, wenn
<lb n="18"/>erst der Irrthum in ihm erkannt ist – aber siehe da!
<lb n="19"/>er hütete sich, zu schwinden…) Man bekämpft <hi rend="spaced">erstens</hi>
<lb n="20"/>jene dominirende Unlust durch Mittel, welche das Le<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>bensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herab<pc force="weak">-</pc>
<lb n="22"/>setzen. Womöglich überhaupt kein Wollen, kein Wunsch
<lb n="23"/>mehr; Allem, was Affekt macht, was „Blut“ macht, aus<pc force="weak">-</pc>
<lb n="24"/>weichen (kein Salz essen: Hygiene des Fakirs); nicht
<lb n="25"/>lieben; nicht hassen; Gleichmuth; nicht sich rächen;
<lb n="26"/>nicht sich bereichern; nicht arbeiten; betteln; womög<pc force="weak">-</pc>
<lb n="27"/>lich kein Weib, oder so wenig Weib als möglich: in
<lb n="28"/>geistiger Hinsicht das Princip Pascal’s „il faut s’abêtir“.
<lb n="15"/>habe? – wobei es uns einstweilen Nichts angehen soll,
<lb n="16"/>ob Kant selber etwas Derartiges überhaupt auch nur
<lb n="17"/>in Absicht gehabt hat. Gewiss ist, <choice><orig>das</orig><corr source="#KGW #KSA">dass</corr></choice> alle Art Trans<pc force="weak">-</pc>
<lb n="18"/>cendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel
<lb n="19"/>haben, – sie sind von den Theologen emancipirt:
<lb n="20"/>welches Glück! – er hat ihnen jenen Schleichweg ver<pc force="weak">-</pc>
<lb n="21"/>rathen, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit
<lb n="22"/>dem besten wissenschaftlichen Anstande den „Wünschen
<lb n="23"/>ihres Herzens“ nachgehen dürfen. Insgleichen: wer
<lb n="24"/>dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie,
<lb n="25"/>als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnissvollen
<lb n="27"/>beten? (<choice><orig>Xaver</orig><corr><note type="editorial">Ximénès</note></corr></choice> Doudan spricht einmal von den rava<pc force="weak">-</pc>
<lb n="28"/>ges, welche „l’habitude <hi rend="spaced">d’admirer</hi> l’inintelligible au
<lb n="29"/>lieu de rester tout simplement dans l’inconnu“ angerich<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30"/>tet habe; er meint, die Alten hätten dessen entrathen.)
<lb n="31"/>Gesetzt, dass Alles, was der Mensch „erkennt“, seinen
<lb n="32"/>Wünschen nicht genug thut, ihnen vielmehr widerspricht
<lb n="33"/>und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die
<pb n="175" facs="#E40_0196" xml:id="Ed_175_id"/>
<lb n="1"/>Schuld davon nicht im „Wünschen“, sondern im „Er<pc force="weak">-</pc>
<lb n="2"/>kennen“ suchen zu dürfen!… „Es giebt kein Erkennen:
<lb n="3"/><hi rend="spaced">folglich</hi> – giebt es einen Gott“: welche neue ele<pc force="weak">-</pc>
<lb n="4"/>gantia syllogismi! welcher <hi rend="spaced">Triumph</hi> des asketischen
<lb n="5"/>Ideals! –</p>
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<milestone unit="page" source="#Dm" n="b61r"/>
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<lb n="6"/>26.</head>
<p><lb n="7" rend="indent"/>– Oder zeigte vielleicht die gesammte moderne
<lb n="8"/>Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="9"/>wissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt
<lb n="10"/>dahin, <hi rend="spaced">Spiegel</hi> zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab;
<lb n="11"/>sie will Nichts mehr „beweisen“; sie verschmäht es,
<lb n="12"/>den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="13"/>schmack, – sie bejaht so wenig als sie verneint, sie
<lb n="14"/>stellt fest, sie „beschreibt“… Dies Alles ist in einem
<lb n="15"/>hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem