<lb n="6" rend="indent" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e46"/>Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie
<lb n="8" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e48"/>nach uns gesucht, – wie sollte es geschehn, daß wir eines Tags uns <hi rend="underline">fänden</hi>? Mit Recht hat man gesagt: „wo euer
<lb n="10" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e53"/>Schatz ist, da ist auch euer Herz“; <hi rend="underline">unser</hi> Schatz ist, wo die Bienenkörbe unsrer Erkenntniß stehn. Wir sind immer
<lb n="12" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e59"/>dazu unterwegs, als geborne Flügelthiere und Honigsammler des Geistes, wir kümmern uns von Herzen eigentlich
<lb n="14" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e61"/>nur um Eins – Etwas „heimzubringen“. Was das Leben sonst, die sogenannten „Erlebnisse“ angeht, – wer von uns
<lb n="16" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e63"/>hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht „bei
<lb n="18" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e65"/>der Sache“: wir haben eben unser Herz nicht dort<subst>
</subst> und nicht einmal unser Ohr! Vielmehr wie ein Göttlich<pc force="strong">-</pc>
<lb n="20" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e77"/>Zerstreuter und In-sich-Versenkter, dem die Glocke eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags in’s
<lb n="22" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e79"/>Ohr gedröhnt hat, mit Einem Male aufwacht und sich fragt „was hat es da eigentlich geschlagen?“ so reiben
<lb n="24" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e81"/>auch wir uns mitunter <hi rend="underline">hinterdrein</hi> die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten „was haben wir da
<lb n="26" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e86"/>eigentlich erlebt? mehr noch: wer <hi rend="underline">sind</hi> wir eigentlich?“ und zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle die
<lb n="28" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e92"/>zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens, unsres <hi rend="underline">Seins</hi> – ach! und verzählen uns da<pc force="weak">-</pc>
<lb n="30" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e100"/>bei… Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir <hi rend="underline">müssen</hi> uns verwechseln, für
<lb n="32" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e105"/>uns heißt der Satz in alle Ewigkeit „Jeder ist sich selbst der Fernste“, – für uns sind wir keine „Erkennen<pc force="weak">-</pc>
<lb n="38" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e124"/>– Meine Gedanken über die <hi rend="underline">Herkunft</hi> unsrer moralischen Vorurtheile – denn um sie handelt es sich in dieser Streit<pc force="weak">-</pc>
<lb n="40" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e132"/>schrift – haben ihren ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Sammlung erhalten, die den
<lb n="42" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e134"/>Titel trägt „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister<del rend="strikethrough1" cert="high">.</del>“ und deren Niederschrift in Sorrent begonnen
<lb n="44" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e140"/>wurde, während eines Winters, welcher es mir erlaubte, Halt zu machen wie ein Wandrer Halt macht, und das weite
<lb n="46" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e142"/>und gefährliche Land zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin gewandert war. Dies geschah im Winter 1876<pc force="weak"/>
<lb n="48" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e146"/>-77; die Gedanken selbst sind älter. Es waren in der Hauptsache schon die gleichen Gedanken, die ich in den
<lb n="50" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e151"/>vorliegenden Abhandlungen wieder aufnehme: – hoffen wir, daß die lange Zwischenzeit ihnen gut gethan hat,
<lb n="52" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e153"/>daß sie reifer, heller, stärker, vollkommner geworden sind! <hi rend="underline">Daß</hi> ich aber heute noch an ihnen festhalte, daß sie
<lb n="54" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e158"/>sich selber inzwischen immer fester an einander gehalten haben, ja in einander gewachsen und verwachsen sind, das
<lb n="56" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e160"/>stärkt in mir die frohe Zuversichtlichkeit, sie möchten von Anfang an in mir nicht einzeln, nicht beliebig, nicht spo<pc force="weak">-</pc>
<lb n="58" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e166"/>radisch entstanden sein, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, im<pc force="weak">-</pc>
<lb n="60" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e171"/>mer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden <hi rend="underline">Grundwillen</hi> der Erkenntniß. So allein nämlich ge<pc force="weak">-</pc>
<lb n="62" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e179"/>ziemt es sich bei einem Philosophen. Wir haben kein Recht darauf, irgend worin <hi rend="underline">einzeln</hi> zu sein: wir dürfen weder
<lb n="64" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e185"/>einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine
<lb n="66" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e187"/>Früchte trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werthe, unsre Ja’s und Nein’s und Wenn’s und Ob’s –
<lb n="68" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e189"/>verwandt und bezüglich allesammt unter einander und Zeugnisse Eines Willens, Einer Gesundheit, Eines Erd<pc force="weak">-</pc>
<lb n="70" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e194"/>reichs, Einer Sonne. – Ob sie <hi rend="underline">euch</hi> schmecken, diese unsre Früchte? – Aber was geht das die Bäume an!
<lb n="72" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e200"/>Was geht das <hi rend="underline">uns</hi> an, uns Philosophen!…
<lb n="76" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e215"/>Bei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe – sie bezieht sich nämlich auf die <hi rend="underline">Moral</hi>,
<lb n="78" resp="#knister0" xml:id="TEMPORARY_ID_d2e220"/>auf Alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist –, einer Bedenklichkeit, <del>die</del> welche in meinem <anchor xml:id="HIERARCHY-d2e213"/>
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<app type="intern">
<note type="intern">22: Einem] einem rdg wit="#Ed #KGW" n="*III 259,17" br</note>